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Nicht zufällig sind die wissenschaftlichen Ursprünge von Pädagogik und Anthropologie gleichsam in der brüchig werdenden Alleinstellung christlicher Weltanschauung verankert. Daraufhin können sie als Versuch eines aufklärerischen Umbruchs gesehen werden, um die Frage nach dem Selbstbild des Menschen neu auszuloten (vgl. ebd., S. 8f.). Wenn pädagogische Anthropologie heutzutage die Aufgabe hat, „die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erkenntnisse und [...] deren kulturellen, historischen und damit relativen Charakter“ (ebd., S. 23) zu betonen, so sieht sie sich derselben Aufgabe verpflichtet, die auch die negative Anthropologie von Günther Anders bestimmt (vgl. Anders 1929, S. 141).

      Gerade deshalb erscheint eine pädagogische Beschäftigung mit den anthropologischen Analysen von Günther Anders umso aufschlussreicher. Bisher findet die pädagogische Auseinandersetzung mit Günther Anders vor allem mit seinen Hauptwerken, den beiden Bänden der Antiquiertheit des Menschen, statt und fokussiert somit eine Kritik an der Entmenschlichung aufgrund moderner Technikimperative (vgl. Kluge 2014; Meyer-Drawe 2014). Doch von welchem Menschenbild geht die Pädagogik hierbei aus?

      Die vorliegende Arbeit spricht sich dafür aus, dass eine Diskussion von Anders negativer Anthropologie für heutige Erziehungs- und Bildungsdiskurse fruchtbar sein kann, um ihre impliziten und expliziten Menschenbilder erneut zu hinterfragen. Deshalb geht die Arbeit einer Exegese der Frühschriften von Anders nach, um ein Fundament der Analyse zu legen.

      Ziel der Arbeit ist es, in den anthropologischen Frühschriften von Günther Anders die Dialektik von Distanz und Nähe aufzuzeigen und diese als zentrales Charakteristikum seiner negativen Anthropologie auszuweisen. Dabei liegt auch der negativen Anthropologie von Anders die These zugrunde, dass das Wesen des Menschen letztlich nicht bestimmt werden kann und somit alle Bemühungen sein Wesen auf ein bestimmtes Kriterium festzulegen, scheitern müssen (vgl. Anders 1936/37, S. 81). Weder weiß der Mensch die Welt vorweg, noch weiß er von einer natürlichen Bestimmung seiner selbst. Vielmehr ist es gerade die Unbestimmtheit, welche die spezifische Freiheit des Menschen ausmacht. Freiheit ist hier also nicht gleichzusetzen mit Selbstbestimmung oder Autonomie – diese sind stattdessen bedingt dadurch, dass der Mensch frei ist (vgl. Anders 1930, S. 17; vgl. auch Anders 1929, S. 170). Die Freiheit des Menschen ergibt sich für Anders aus seiner Distanziertheit. Der Mensch ist also da frei, wo er nicht eingezwängt ist in vorgefertigte Selbst- und Weltbilder, nicht auf Bestimmtes zugeschnitten ist, sondern sich selbst im Bereich des Unbestimmten und Möglichen befindet (vgl. Anders 1936/37, S. 50).

      Die Freiheit des Menschen verweist somit auf eine spezifische Stellung des Menschen zur Welt – seine fehlende Einbettung und Distanziertheit. Er ist frei, weil er als Einzelner nicht im Ganzen aufgeht, sondern distanziert zur Welt steht. In Kapitel 2 wird deutlich, dass Anders die menschlichen Vermögen und Fähigkeiten, wie gerade am Beispiel der Freiheit angedeutet, als Indiz einer spezifisch menschlichen Stellung zur Welt sieht. Dies soll sowohl an der Abstraktionsfähigkeit (Kapitel 2.1), am Verzichtenkönnen (Kapitel 2.2), wie auch am Vorstellungsvermögen (Kapitel 2.3) exemplifiziert werden. Kapitel 2.4 betont schließlich, dass der Mensch aufgrund seiner distanzierten Stellung stets utopische Ansprüche an die Welt stellt, jedoch zugleich darauf angewiesen ist, diese Distanz zu überwinden (vgl. Müller 2012, S. 25).

      Der zunächst weltfremde Mensch überwindet seine Weltfremdheit durch Erfahrung, gewinnt Einsichten in die Welt und macht sie dadurch zu seiner Welt. Doch wie ist es möglich, überhaupt zur Welt zu kommen, war der Mensch doch durch Freiheit und Distanziertheit charakterisiert? Kapitel 3.1 widmet sich den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und stellt sie als spezifische Nötigkeit, also Abhängigkeit des Menschen von der Welt heraus. Gerade hierin wird deutlich, was es für den Menschen bedeutet, dass er sich in einer distanzierten Position in der Welt befindet (vgl. Anders 1930, S. 16). Das Sehen erweist sich dabei als menschliche Praxis der Erfahrung schlechthin (Kapitel 3.2), kann der Mensch einerseits die Welt durch Einsichten einholen, bleibt jedoch von der Welt distanziert – der Sehende ist hier, das Gesehene dort (vgl. ebd., S. 19). Die Erfahrung mit dem Fremden und Undeutlichen wird als ursprüngliche Erfahrung eines weltfremden Wesens angesehen, welches darauf angewiesen ist, die Welt zu veranschaulichen, um sich in ihr zurechtzufinden. Dabei wird deutlich, dass der Mensch weder davon abhängig ist, die Einsichten in die Welt beständig festzuhalten, noch die Welt als zu durchschauendes und letztlich zu kontrollierendes Objekt anzusehen (vgl. Anders 1928b, S. 70). Vielmehr gehört es ebenso zur Praxis des Sehens die Welt immer wieder anders sehen zu können, sie einmal fixiert, wieder freizugeben für eine andere Sichtweise. In diese Erfahrung von Perspektivität bezieht sich der Mensch selbst mit ein, seine eigene Perspektive wird ihm bewusst und öffnet so einen Möglichkeitsraum für eine andere Sicht der Dinge (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 48). Gerade hierin wird das konstitutive Moment einer Bildung als Distanz erkannt (Kapitel 3.3). Das Wandern, welches Anders als ein Aus-sich-heraustreten-können beschreibt, setzt Bildungsprozesse in Gang, welche die Welt mit anderen Augen sehen lassen (vgl. Anders 1928b, S. 66). Die bildungsphilosophische Beschreibung des Sich-fremd-werdens kann hier anthropologisch fundiert werden durch die Einsicht, dass der Mensch stets nur provisorisch von der Welt und von sich erfährt.

      Wurde der Mensch in den bisherigen Kapiteln in Bezug auf seine mangelnde Einbettung in die Welt betrachtet, widmet sich Kapitel 4 den Grenzen dieser Mangelhaftigkeit. Diese Grenzen werden sowohl im Bereich der Freiheit (Kapitel 4.1), wie auch im Bereich der Erfahrung (Kapitel 4.2) diskutiert. Wo der Mensch nicht mehr distanziert in der Welt steht, sondern vielmehr eingebettet und abhängig ist von der Welt, wie beispielsweise in seiner Leiblichkeit (Kapitel 4.1.2), verschwinden auch die Möglichkeiten von Freiheit und Erfahrung. Da mit dem Aufzeigen der faktischen Grenzen der Mangelhaftigkeit der Mensch nun nicht einzig durch seine Unfestgelegtheit definiert werden kann, plädiert Anders dafür, dem Menschsein eine grundsätzliche Bewegung zwischen Freiheit und Unfreiheit einzurechnen (vgl. Anders 1928, S. 129). Dies meint Anders, wenn er die Position des Menschen als zweiseitig charakterisiert (vgl. Anders 1929, S. 147).

      Schließlich kann jedoch eine Analyse der anthropologischen Schriften von Anders nicht beschlossen werden, ohne die Kritik aufzuzeigen, welche Anders selbst an der Anthropologie übt. Kapitel 5.1 geht dabei auf das anthropozentrische Vorurteil der philosophischen Anthropologie ein, welche sich im Mensch-Tier-Vergleich einer Uniformierung aller Tierspezies schuldig macht (vgl. Anders 42018a, S. 365f.). Außerdem zeigt Anders die Antiquiertheit eines solchen Vergleichs vor dem Hintergrund der aktuellen technisierten Gesellschaft auf (vgl. ebd.). Schließlich führt Kapitel 5.2 die Kritik an einer abschließenden Definition des Menschen an, welche sowohl einer Regierbarkeit des Menschen in die Hände spielt, als auch angesichts der menschlichen Tat stets am Wesen des Menschen vorbeidefiniert (vgl. Anders 1936/37, S. 80). Anthropologie kann, insofern sie sich nicht der Ideologie schuldig machen will, nur als negative Anthropologie auftreten. In diesem Zusammenhang stehen die hier zu analysierenden Frühschriften von Günther Anders für eine „kritische Selbstaufklärung der Anthropologie“ (Lohmann 1996, S. 155). Ziel der Arbeit ist es, durch den Nachweis der Dialektik von Distanz und Nähe einen zentralen Bestandteil der negativen Anthropologie von Günther Anders aufzuschließen und hiermit ein Fundament zu legen für eine weitere Beschäftigung mit Anders Frühschriften.

      Dem positionstheoretischen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch sich prinzipiell in einer bestimmten Lage zur Welt befindet. Damit ist nicht etwa eine soziale Lage innerhalb einer bestimmten Gesellschaft gemeint, sondern eine ontologische Lage. Die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen kann nach Anders nie ohne die Charakterisierung seiner Situation, seiner bestimmten Lage, beantwortet werden (vgl. Anders 1929, S. 142f.). Die Lage lässt Rückschlüsse auf das Wesen schließen und dem Wesen liegt eine bestimmte Lage voraus. Anders geht also davon aus, dass der Mensch nie im luftleeren Raum beschrieben werden kann, sondern sich bereits wesenhaft in einer bestimmten Position zur Welt befindet. Ein erstes Anzeichen für diese Lage kann nun bereits darin gesehen werden, dass der Mensch überhaupt

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