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sondern vor allem auch Revolutionen. Im Januar 1918, nur wenige Wochen nach der Stürmung des Winterpalasts und noch während die Bolschewiken verzweifelt versuchten, unter allen Umständen einen Frieden mit den vorrückenden deutschen Streitkräften auszuhandeln, schwappte eine Woge von politischen Massenstreiks und Antikriegsdemonstrationen durch Mitteleuropa. Sie begann in Wien, breitete sich über Budapest, Böhmen und Mähren nach Deutschland aus und gipfelte in der Meuterei der österreichisch-ungarischen Matrosen in der Adria. Als auch die letzten Zweifel an der Niederlage der Mittelmächte schwanden, mußten sich deren Armeen endgültig geschlagen geben. Im September machten sich die bulgarischen Bauernsoldaten auf den Heimweg, riefen die Republik aus und marschierten gen Sofia, obwohl sie noch immer mit deutscher Hilfe entwaffnet wurden. Im Oktober, nach den letzten verlorenen Schlachten an der italienischen Front, fiel auch die Habsburgermonarchie auseinander. Neue Nationalstaaten wurden in der (berechtigten) Hoffnung der siegreichen Alliierten gegründet, daß sie den Gefahren der bolschewistischen Revolution vorzuziehen seien. Und die erste westliche Reaktion auf den bolschewistischen Friedensappell an die Völker – vor allem nachdem die Bolschewiken die Geheimverträge veröffentlicht hatten, mit denen die Alliierten Europa unter sich aufteilen wollten – war Präsident Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan, der die nationalistische Karte gegen Lenins internationalen Appell ausspielte. Eine Zone kleiner Nationalstaaten sollte dem roten Virus eine Art Quarantänegürtel in den Weg legen. Anfang November trugen meuternde Matrosen und Soldaten die deutsche Revolution vom Marinestützpunkt Kiel über das ganze Land. Eine Republik wurde ausgerufen, und der Kaiser zog sich in die Niederlande zurück, um von einem sozialdemokratischen ehemaligen Sattler als Staatsoberhaupt abgelöst zu werden.

      Die Revolution, die schließlich alle Regime von Wladiwostok bis zum Rhein hinwegfegte, war ein Aufstand gegen den Krieg. Doch die Tatsache, daß Frieden geschaffen wurde, konnte ihre Explosionskraft abschwächen. Auch ihre sozialen Anteile waren nur vage erkennbar, außer bei den Bauernsoldaten aus den Imperien der Habsburger, Romanows, Osmanen und den weniger bedeutenden Staaten Südosteuropas und deren Familien, wo sie vor allem von solchen Themen geprägt waren wie Landbesitz, Mißtrauen gegenüber Städten, Fremden (vor allem Juden) und Regierungen. Und genau diese Themen sollten dann in großen Teilen Mittel- und Osteuropas aus Bauern zwar Revolutionäre, aber nicht zugleich auch Bolschewiken machen – abgesehen von Deutschland (vor allem von einigen Regionen Bayerns), Österreich und Teilen von Polen. Selbst in konservativen, ja konterrevolutionären Ländern, wie Rumänien und Finnland, mußten die Bauern mit Landreformen großen Ausmaßes beruhigt werden. Andererseits waren sie überall dort, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, praktisch schon eine Garantie dafür, daß Sozialisten keine demokratischen Wahlen gewinnen konnten – geschweige denn die Bolschewiken. Das bedeutete aber noch nicht notwendigerweise, daß Bauern immer und überall Bastionen des politischen Konservatismus bildeten. Nur, fatalerweise konnten sie die demokratischen Sozialisten daran hindern und in Sowjetrußland sogar dazu nötigen, die Wahldemokratie abzuschaffen. Aus diesem Grund haben die Bolschewiken, nachdem sie selbst eine verfassunggebende Versammlung gefordert hatten (eine Revolutionstradition seit 1789), diese auch sofort wieder aufgelöst, als sie ein paar Wochen nach dem Oktober zum erstenmal zusammentrat. Auch die Gründung neuer kleiner Nationalstaaten entlang den Wilson-Grenzen verringerte den Wirkungskreis der bolschewistischen Revolution, wenn auch keinesfalls die Nationalitätenkonflikte in den Zonen der Revolution. Und genau das war auch die Intention der alliierten Friedensmacher gewesen.

      Dennoch hatte die Russische Revolution einen derart offenkundigen Einfluß auf die europäischen Aufstände der Jahre 1918–19, daß Moskau kaum mehr fürchten mußte, die Aussichten für eine Ausbreitung der Revolution des Weltproletariats stünden schlecht. Für den Historiker – wie sogar für einige der damaligen Revolutionäre – schien das deutsche Kaiserreich ein Staat mit beträchtlicher sozialer und politischer Stabilität und einer starken, aber moderaten Arbeiterbewegung gewesen zu sein, der mit Sicherheit nichts Derartiges wie eine bewaffnete Revolution hervorgebracht hätte, wenn da nicht der Krieg gewesen wäre. Im Gegensatz zum zaristischen Rußland oder dem hinfälligen Österreich-Ungarn, im Gegensatz auch zum sprichwörtlich »kranken Mann von Europa«, dem Osmanischen Reich, oder zu den waffenstarrenden Bewohnern der südöstlichen Berge des Kontinents, die zu allem fähig waren, war dies kein Land, in dem ein Aufstand zu erwarten war. Und tatsächlich blieb ein Großteil der Revolutionssoldaten, Matrosen und Arbeiter – verglichen mit den wirklichen Revolutionsbedingungen im besiegten Rußland und in Österreich-Ungarn – genauso moderat und gesetzestreu, wie es ihnen die russischen Revolutionäre in ihren Witzen schon immer unterstellt hatten. (»Wo es Schilder gibt, die der Öffentlichkeit verbieten, den Rasen zu betreten, werden natürlich auch deutsche Revolutionäre nur auf geebneten Wegen gehen.«)

      Und doch war dies ein Land, durch das die Revolutionsmatrosen das Rätebanner trugen; wo die Exekutive eines Berliner Arbeiter- und Soldatenrats eine sozialistische Regierung ernannte; und wo Februar und Oktober auf den gleichen Monat zu fallen schienen, da die effektive Macht in der Hauptstadt schon in den Händen der radikalen Sozialisten gewesen zu sein schien, als der Kaiser abgedankt hatte. Doch das Ganze war nur eine Illusion, die sich ausschließlich der totalen (wenn auch nur zeitweiligen) Lähmung der alten Armee, des Staates und seiner Machtstrukturen und dem zweifachen Schock von totaler Niederlage und Revolution verdankte. Nach wenigen Tagen saß das republikanisierte alte Regime wieder im Sattel und konnte von den Sozialisten, die bei den ersten freien Wahlen nicht einmal mehr eine Mehrheit erringen konnten (obwohl sie nur wenige Wochen nach der Revolution stattfanden), nie mehr ernsthaft gefährdet werden.8 Aber auch die Sozialisten selbst waren von der erst jüngst aus dem Stegreif gegründeten Kommunistischen Partei nicht gefährdet, deren Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg schon bald von Freikorpsoffizieren ermordet werden sollten.

      Trotzdem: Die deutsche Revolution von 1918 nährte die Hoffnungen der russischen Bolschewiken; und das um so mehr, als in Bayern 1918 tatsächlich eine kurzlebige sozialistische Republik und, im Frühling 1919, nach der Ermordung ihres Führers für kurze Zeit eine Räterepublik in München – Hauptstadt der deutschen Kunst, der intellektuellen Gegenkultur und, weniger politisch subversiv, des Biers – ausgerufen wurde. Sie überlappte sich mit einem anderen und schwerer wiegenden Versuch, den Bolschewismus im Westen zu etablieren: mit der ungarischen Räterepublik vom März bis Juli 1919.9 Beide wurden natürlich mit zu erwartender Brutalität niedergeschlagen. Hinzu kam, daß sich die deutschen Arbeiter aus Enttäuschung über die Sozialdemokraten schnell radikalisierten und in großer Zahl den Unabhängigen Sozialisten und nach 1920 auch der Kommunistischen Partei zuwandten, welche daraufhin zur stärksten Partei ihrer Art außerhalb von Sowjetrußland wurde. Wäre daher nicht auch eine deutsche Oktoberrevolution denkbar gewesen? Obwohl das Jahr 1919, Gipfel der sozialen Unruhen im Westen, die einzigen Versuche zu Fall gebracht hatte, die bolschewistische Revolution auszuweiten, und obwohl die Revolutionswelle 1920 schnell und deutlich abflaute, gab die bolschewistische Führung in Moskau ihre Hoffnung auf eine deutsche Revolution bis spät ins Jahr 1923 nicht auf.

      Ganz im Gegenteil. Es war 1920, als die Bolschewisten, so scheint es in der Rückschau, einen schweren Irrtum begingen: Sie sorgten für eine permanente Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung, indem sie ihre neue internationale kommunistische Bewegung nach den Mustern der leninistischen Vorhutpartei strukturierten, als einer Elite von hauptamtlichen »Berufsrevolutionären«. Der Oktoberrevolution galten, wie wir wissen, große Sympathien unter den internationalen sozialistischen Bewegungen, die alle radikalisiert und enorm gestärkt aus dem Weltkrieg hervorgegangen waren. Mit nur wenigen Ausnahmen gab es in den sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen viele, die wünschten, der neuen beziehungsweise Dritten Kommunistischen Internationale beizutreten, die von den Bolschewiken als Ersatz für die Zweite Internationale (1889–1914) ins Leben gerufen worden war, weil diese dem Weltkrieg keinen Widerstand entgegengestellt hatte und nun diskreditiert und gespalten war.10 In der Tat stimmten denn auch viele Parteien für den Beitritt (unter anderem die sozialistischen Parteien von Frankreich, Italien, Österreich und Norwegen und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und verwiesen die noch nicht wieder reorganisierten Gegner des Bolschewismus damit in den Rang einer Minderheit. Doch Lenin und die Bolschewiken wollten keine internationale Bewegung sozialistischer Sympathisanten der Oktoberrevolution, sondern ein Korps absolut engagierter und disziplinierter Aktivisten, eine Art globale Eingreiftruppe für die Eroberungszüge der Revolution. Parteien,

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