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sozialistischen Zukunft zogen, daß eine russische Revolution nicht sozialistisch sein würde und könnte. Die Bedingungen für eine derartige Transformation waren schlichtweg nicht gegeben in einem Agrarland, das als Inbegriff für Annut, Ignoranz und Rückständigkeit galt und in dem das Industrieproletariat – das Marx den Totengräber des Kapitalismus genannt hatte – nur eine winzige, wenn auch strategisch plazierte Minderheit war. Selbst die marxistischen Revolutionäre Rußlands teilten diese Ansicht. Der Sturz des Zarismus und des Großgrundbesitzersystems konnte und sollte also nichts weiter als eine »bürgerliche Revolution« hervorbringen. Der Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat (der, laut Marx, nur zu einem einzigen Ergebnis führen konnte) sollte dann unter diesen neuen politischen Bedingungen fortgeführt werden. Aber natürlich war Rußland nicht isoliert, und eine Revolution in diesem riesigen Land, das sich von den Grenzen Japans bis zu den Grenzen Deutschlands erstreckte und dessen Regierung zu den wenigen »Großmächten« gehörte, die die Weltlage bestimmten, mußte natürlich erhebliche internationale Folgen haben. Karl Marx selbst hatte am Ende seines Lebens noch gehofft, daß eine russische Revolution wie ein Sprengzünder wirken würde, der die proletarische Revolution in der industrialisierten westlichen Welt (also dort, wo die Bedingungen für sie gegeben waren) auslösen könnte. Wir werden noch sehen, daß es am Ende des Ersten Weltkriegs tatsächlich so aussah, als sollte genau das nun geschehen.

      Dabei gab es nur eine Schwierigkeit: Wenn Rußland nicht für die proletarische Revolution der Marxisten bereit war, dann war es auch nicht für die liberale »bürgerliche Revolution« bereit. Selbst diejenigen, die wirklich nur diese Art von Revolution erreichen wollten, mußten erst noch einen Weg finden, bei dem man sich nicht allein auf die kleine und kraftlose liberale russische Mittelklasse stützen mußte – die ja nur eine winzige Minderheit in der Bevölkerung war, ohne jegliches moralisches Ansehen und öffentliche Unterstützung und ohne die institutionalisierten Traditionen einer repräsentativen Regierung, in die sie hätte eingefügt werden können. Die »Kadetten«, die Partei des bürgerlichen Liberalismus, zählten weniger als 2,5 Prozent der Abgeordneten in der frei gewählten (bald aber aufgelösten) verfassunggebenden Versammlung von 1917–18. Ein bürgerlich-liberales Rußland hätte entweder erreicht werden können, wenn unter der Führung von Revolutionsparteien (die etwas anderes wollten) ein Aufstand der Bauern und Arbeiter (die keine Ahnung hatten, was das war, und sich auch nicht darum scherten) stattgefunden hätte. Oder aber, und das war wahrscheinlicher: die revolutionären Kräfte würden über die bürgerlich-liberale Revolution zu einer »permanenten Revolution« fortschreiten, eine von Marx aufgegriffene Bezeichnung, die während der Revolution von 1905 vom jungen Trotzki wiederbelebt worden war. 1917 war Lenin, dessen Hoffnungen 1905 nicht viel weiter als bis zu einem bürgerlich-demokratischen Rußland gereicht hatten, zur Ansicht gekommen, daß das liberale Pferd im russischen Revolutionsrennen überhaupt kaum mitzählte. Das war eine realistische Einschätzung. Doch klar war ihm und allen anderen russischen und nichtrussischen Marxisten auch 1917 schon, daß die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Rußland einfach nicht gegeben waren. Für die marxistischen Revolutionäre in Rußland war es unumgänglich, ihre Revolution in andere Länder zu tragen.

      Und nichts schien wahrscheinlicher, als daß ihnen das gelingen könnte. Denn der Große Krieg endete beinahe überall, vor allem aber in den Staaten der unterlegenen Kriegsparteien, mit politischem Zusammenbruch und revolutionären Krisen. 1918 verloren die Herrscher aller besiegten Mächte ihren Thron (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien); der Zar von Rußland hatte ihn bereits 1917 verloren, nachdem er von den Deutschen besiegt worden war. Außerdem gab es sogar bei den europäischen Siegern des Krieges soziale Unruhen, welche in Italien beinahe zur Revolution zu führen schienen.

      Unter den außergewöhnlichen Belastungen des Massenkrieges hatten sich die Gesellschaften des kriegführenden Europa krümmen müssen. Die anfängliche Woge des Patriotismus war nach Kriegsausbruch ausgelaufen. Und bis 1916 hatte sich Kriegsmüdigkeit in eine unheilvolle stumme Feindseligkeit gegenüber der endlosen, ziellosen Schlachterei gewandelt, die offensichtlich niemand beenden wollte. Während sich die Kriegsgegner 1914 hilflos und isoliert gefühlt hatten, wußten sie 1916, daß sie im Interesse der Mehrheit sprachen. Wie dramatisch sich die Situation verändert hatte, sollte sich am 28. Oktober 1916 zeigen, als Friedrich Adler, der Sohn des Vorsitzenden und Gründers der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, aus öffentlichem Protest gegen den Krieg den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh kaltblütig in einem Wiener Café erschoß (es herrschte noch das Zeitalter der Unschuld für Sicherheitsbeamte).

      Antikriegsgefühle kamen natürlich dem politischen Profil der Sozialisten zugute, die in zunehmendem Maß zu jener Antikriegshaltung zurückkehrten, die die Bewegung vor 1914 eingenommen hatte. Und einige Parteien waren sowieso nie davon abgewichen (zum Beispiel in Rußland, Serbien und die Unabhängige Arbeiterpartei in Großbritannien). Aber selbst dort, wo sozialistische Parteien mehrheitlich den Krieg noch unterstützten, fanden sich seine schärfsten Gegner in ihren eigenen Reihen.2 Gleichzeitig rückten die Arbeiterorganisationen in den großen Rüstungsindustrien aller wichtigen kriegführenden Länder ins Zentrum der militanten industriellen Antikriegsbewegungen. Gewerkschaftsaktivisten der unteren Ränge (»shop stewards« in Großbritannien, »Betriebsobleute« in Deutschland), erfahrene Männer in starken Verhandlungspositionen, wurden zur Verkörperung der Radikalisierung. Aber auch die Arbeiter und Mechaniker aus den neuen hochtechnologisierten Betrieben der Marine, gleichsam schwimmenden Fabriken, radikalisierten sich. In Rußland und Deutschland wurden die wichtigsten Marinestützpunkte (Kronstadt, Kiel) zu Zentren der Revolution. Und es war eine Meuterei der französischen Marine, im russischen Bürgerkrieg von 1918–20 im Schwarzen Meer, die eine Militärintervention gegen die Bolschewiken stoppte. Die Rebellion gegen den Krieg erhielt so ihr Zentrum und ihre Wirkungskraft. Kein Wunder also, daß die österreichisch-ungarischen Zensoren, die die Korrespondenz ihrer Truppen überwachten, eine Veränderung des Tons konstatierten. Wo es zuerst hieß: »Wenn uns der Herrgott nur Frieden bringen könnte«, hieß es nun: »Wir haben genug« oder: »Es heißt, die Sozialisten werden uns den Frieden bringen.«

      Es kann daher auch nicht weiter überraschen, daß (laut habsburgischen Zensoren) die Russische Revolution das erste politische Ereignis seit Kriegsausbruch war, das seinen Widerhall sogar in den Briefen der Frauen von Bauern und Arbeitern fand. Und ebensowenig verwunderlich war, daß sich die Sehnsucht nach Frieden mit dem Bedürfnis nach einer sozialen Revolution vermischte, vor allem nachdem die Oktoberrevolution Lenins Bolschewiken an die Macht gebracht hatte. Ein Drittel der Verfasser der zensierten Briefe aus der Zeit zwischen November 1917 und März 1918 erwartete, den Frieden durch Rußland zu bekommen, ein Drittel durch Revolution und weitere 20 Prozent durch eine Kombination aus beidem. Und daß eine russische Revolution große internationale Auswirkungen haben würde, war schon zuvor deutlich geworden; sogar die erste Revolution 1905–06 hatte die noch vorhandenen alten Imperien erschüttert, von Österreich-Ungarn über die Türkei bis nach Persien und China (siehe Das imperiale Zeitalter, Kapitel 12). Bis 1917 war dann das gesamte Europa zu Sprengstoff geworden, der nur darauf wartete, gezündet zu werden.

      2

      Rußland, reif für eine Revolution, kriegsmüde und am Rande der Niederlage, war das erste Reich Mittel- und Osteuropas, das unter dem Druck und den Anstrengungen des Ersten Weltkriegs zusammenbrach. Eine Explosion war schon längst erwartet worden, wenn auch niemand Zeit und Auslöser der Detonation vorhersagen konnte. Nur wenige Wochen vor der Februarrevolution hatte sich Lenin in seinem Schweizer Exil gefragt, ob er sie wohl noch erleben würde. Die Zarenherrschaft brach zusammen, als Arbeiterinnen bei einer Demonstration (am 8. März, dem regelmäßigen »Frauentag« der sozialistischen Bewegung) und die als notorisch militant bekannten Putilow-Metallarbeiter nach ihrer Aussperrung zum Generalstreik aufriefen und zum Marsch über den gefrorenen Fluß in die Hauptstadt aufbrachen, begleitet hauptsächlich von Forderungen nach Brot. Die Schwäche des Regimes wurde vollends deutlich, als sich die zaristischen Truppen, darunter sogar die bislang immer loyalen Kosaken, nach kurzem Zögern schließlich weigerten, gegen die Massen vorzugehen und sich mit ihnen zu verbünden begannen. Als sie nach vier chaotischen Tagen schließlich zur offenen Meuterei ansetzten, dankte der Zar ab, um von einer liberalen »provisorischen

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