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sie Kaylas Begleiter. »Ihr könnt gleich rein.« Sie nickte in Richtung einer Holztür, die Kayla bisher nicht aufgefallen war.

      Das Zimmer des Direktors wirkte sauber, aufgeräumt und machte einen warmen Eindruck. Der Schreibtisch, hinter dem ein Mann um die fünfzig mit schütterem Haar saß, war aus Naturholz, ebenso wie sämtliche Stühle im Raum. An den Wänden hingen Fotos von Angelausflügen und Fangerfolgen. Auf ihnen allen war der Mann zu sehen, stets hatte er ein Lächeln im Gesicht, so wie auch jetzt. Im Gegensatz zu den Fotos wirkte es allerdings professionell und einstudiert. Als Kayla vor ihm stehen blieb, stand er auf und reichte ihr die Hand.

      »Ich bin Direktor Wilson. Du musst Kayla sein.« Er hob einen schmalen Ordner so hoch, dass Kayla ihren Namen darauf lesen konnte. »Wir erwarten dich bereits. Nimm Platz.«

      Er deutete auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Die beiden Betreuer verließen den Raum.

      Wilson setzte sich und schlug den Ordner auf. Kayla war sich sicher, dass er den Inhalt bereits kannte, aber so lief das Spiel nun mal.

      »Deine Eltern schicken dich für sechs Monate zu uns. Sie hoffen, dass du deine Einstellung ihnen gegenüber änderst und den Umgang mit Personen einstellst, die nicht gut für dich sind.« Er blickte sie eindringlich an. »Nimmst du Drogen?«

      »Nein, ich …«

      Er hob gebieterisch die Hand. »Bitte keine Erklärungen. Du kannst mit den Therapeuten darüber sprechen. Beantworte einfach meine Fragen. In Ordnung?«

      Nichts war in Ordnung, dennoch nickte Kayla.

      »Ms Kean und Mr Robertson haben dir erklärt, wie es hier läuft?«

      »Ja.«

      »Füg dich ein, nimm fleißig am Unterricht teil und sprich ausgiebig mit den Betreuern. Sechs Monate vergehen wie im Flug.«

       Wenn er jetzt noch sagt, sieh das Ganze als Chance, dann kotze ich auf seinen Schreibtisch.

      »Das ist eine Chance für dich, alles zu überdenken und wieder zu einer respektvollen Beziehung zu deinen Eltern zu finden. Sie lieben dich und wünschen dein Bestes.«

      Kayla musste sich zusammenreißen, um die Augen nicht zu verdrehen. Als Wilson sich erhob, stand sie ebenfalls auf.

      »Ms Kean wird dich zu den Unterkünften führen, dort kannst du dich einrichten. Nach dem Mittagessen steht eine Gruppensitzung auf dem Plan. Du kannst gehen.«

      Wilson deutete zur Tür. Sein Lächeln war noch immer so falsch wie in dem Moment, als Kayla eingetreten war.

      Kayla stand vor einem Holzspind, der ihren Namen trug. Tränen stiegen in ihr auf, aber sie unterdrückte sie. Während sie ihre Sachen in Fächer einräumte, stand Ms Kean die ganze Zeit hinter ihr und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Hin und wieder gab sie Kayla einen Tipp, wie sie den wenigen Platz im Spind am besten nutzte, aber ansonsten schwieg sie.

      Als Kayla fertig war, zeigte ihr die Betreuerin ihr Bett. Es hatte ein Metallgestell und eine dünne Schaumstoffmatratze. Ms Kean reichte ihr Laken und Bettwäsche, damit sie das Bett beziehen konnte. Danach ging es zum Mittagessen.

      Gemeinsam schritten sie über den Platz vor dem Gebäude und gingen auf einen Flachbau zu, aus dem gedämpfte Unterhaltungen und das Klappern von Geschirr drangen. Kayla trat ein und wurde von einer Flut von Eindrücken überwältigt. Der Raum war groß und bot zwei langen Tischreihen Platz, an denen auf beiden Seiten Stühle standen. Die meisten von ihnen waren mit Jungen und Mädchen in ihrem Alter belegt.

      Rechts von ihr standen weitere Jugendliche vor der Essenausgabe an. Es roch nach Kartoffelbrei und Bratensoße. Hier drin war der Geräuschpegel wesentlich höher. Irgendwie schien jeder mit jedem zu quatschen. Hinzu kamen noch die Geräusche von klapperndem Besteck und quietschenden Stuhlbeinen auf Linoleum.

      Kayla fühlte sich verloren im Angesicht so vieler fremder Menschen und hätte den Saal am liebsten verlassen, ohne etwas zu essen, aber Ms Kean forderte sie auf, sich ein Tablett zu nehmen und anzustellen.

      Direkt vor ihr stand ein Junge mit verstrubbelten blonden Haaren, der Salat aus einer großen Schüssel auf seinen Teller schaufelte. Kayla nahm sich ebenfalls davon, dabei stieß sie ihn aus Versehen an.

      »Entschuldigung«, sagte sie sofort.

      Ohne aufzublicken, antwortete er: »Ist schon okay.«

      Die Schlange rückte auf und eine dicke Köchin mit Kochmütze und verschwitztem Gesicht klatschte eine Portion Kartoffelbrei auf einen Teller, packte ein Stück weiches Fleisch darauf, das wie Rinderbraten aussah, und goss dunkle Soße darüber. Sie reichte die Portion dem Jungen vor ihr, dann kam Kayla an die Reihe. Als sie fertig war und sich umdrehte, war der Junge verschwunden. Sie schaute sich um, suchte nach einem freien Platz an einem der Tische und da entdeckte sie ihn wieder. Er saß mit hängenden Schultern vor seiner Mahlzeit und starrte auf das Essen.

      Kayla ging zu ihm hinüber. »Ist hier frei?« Sie deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.

      Er verzog den Mund, als passe es ihm nicht, gestört zu werden, dann nickte er.

      Kayla nahm Platz und begann zu essen. Während sie nach und nach ihren Teller leerte, rührte er sein Essen kaum an, sondern stocherte nur darin herum.

      »Schmeckt es dir nicht?«, fragte sie.

      Er hob den Kopf und Kayla betrachtete ihn neugierig.

       Er sieht verdammt gut aus, aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm.

      Kayla konnte seine Unruhe fast körperlich spüren. Seine Hände waren die ganze Zeit in Bewegung. Wenn sie nicht gerade das Essen von einer Seite des Tellers zur anderen schoben, trommelten die Fingerspitzen nervös auf den Tisch. Abwechselnd starrte er auf seinen Teller oder suchte den Saal nach jemandem ab, den er anscheinend erwartete.

      »Hast du was gesagt?«, fragte er schließlich.

      »Ja, ich fragte, ob dir das Essen nicht schmeckt.«

      Kurz senkte er den Blick auf den Teller, dann schaute er wieder auf. »Keine Ahnung, hab nicht darüber nachgedacht.«

      »Probier mal, ist gar nicht so übel.«

      Seine Augenlider flatterten für einen Moment. »Keinen Hunger.«

      »Wie lange bist du schon hier?«

      Kayla sah, wie er sich streckte, erneut umsah, dann schaute er sie an. »Nimm’s mir nicht übel, aber ich habe keine Lust auf Small Talk.«

      »Okay«, sagte Kayla und dachte: Arschloch.

      Das war ja ein prima Start in ihren Campaufenthalt. Gleich der erste Junge ließ sie eiskalt abblitzen. Kayla griff ihren Teller und erhob sich.

      »Na dann, man sieht sich«, sagte sie, so cool sie konnte, aber er beachtete sie schon nicht mehr.

      Wie es wohl Ricky ging? Der Unterricht war an Mike vorbeigezogen, ohne dass er irgendetwas vom Inhalt mitbekommen hatte. Während er noch darüber nachgegrübelt hatte, was er für ihn tun konnte, war dieses Mädchen aufgetaucht und hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt. Am Anfang war das ja ganz okay gewesen, denn so saß er nicht zu exponiert herum und fiel nicht gleich als Neuer auf, aber als sie dann versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, war ihm das zu viel gewesen. Mike wusste nicht mehr, was er zu ihr gesagt hatte, aber sie war ziemlich zickig aufgesprungen und gegangen.

      Nun war er wieder allein. Während die anderen Jugendlichen nach und nach ihre Mahlzeit beendeten, saß er immer noch vor seinem vollen Teller und dachte an Ricky. Der Saal leerte sich zusehends. Mike wusste, er musste sich beeilen, denn gleich stand eine Gruppensitzung auf dem Programm, was immer das bedeuten sollte. Entweder er aß jetzt etwas oder er würde bis zum Abend hungrig bleiben. Hastig schob er sich ein paar Löffel Kartoffelbrei in den Mund, aber das Zeug schmeckte pappig. Das Fleisch war auch nicht besser, trocken und faserig. Das Mädchen von vorhin hatte keine

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