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auf ihn verlassen, wenn es darauf ankam. Ihre Worte hörte er einige Sekunden lang wie aus der Ferne, um sich dann wieder auf sie zu konzentrieren. Er wollte widersprechen, sie redete indes einfach weiter, bevor er einen Ton herausbekam.

      „Ich will nichts hören“, ließ sie keinen Kommentar zu. „Ich bin Herr meiner Sinne, basta!“

      Plötzlich wurde sie sanft. „Junge, wann beginnst du endlich, im Unternehmen Verantwortung zu tragen?“ Sie zögerte. „Du kannst von mir aus weiterhin Flausen im Kopf haben, solange es die Firma nicht stört!“ Sie zwinkerte ihm zu.

      Er atmete tief durch, denn er kannte die Ansprache bereits auswendig. „Es gibt da leider Björn, der …“

      Sie schnitt ihm das Wort ab. „Christian, ich spreche mit ihm! Ihr beide solltet kapieren, dass ich nicht mehr lange lebe und ihr zusammenarbeiten müsst! Ich möchte dies auf den Weg gebracht wissen, bevor ich gehe! Verstehst du das nicht?“

      „Du lebst noch ewig!“, erwiderte er kraftlos.

      „Quatsch! Es ist auch deine Verantwortung, auf Björn aufzupassen, damit er keinen Unfug anstellt.“ Sie erzählte ihm von der Expansionsidee und hielt mit ihrer Meinung dazu nicht hinter dem Berg.

      Was beabsichtigte sein Bruder? Vermutlich war das wieder einer seiner impulsiven Einfälle!

      Er seufzte. „Okay, ich versuche, mit ihm zu reden. Bin gespannt, wie er reagieren wird.“ Die kurze Nacht machte sich ein wenig bemerkbar, er stand auf. „Mama, ich fahre ins Büro.“ Er küsste sie zum Abschied.

      „Tu das! Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Es ist mir wichtig!“ Er nickte, verließ das Zimmer und lief in die Wohnung, um ein Jackett und den Autoschlüssel zu holen.

      Mit dem roten Porsche benötigte er eine Viertelstunde nach Oberursel und stellte den Wagen auf den für ihn reservierten Parkplatz. Er wollte mit Björn sprechen, denn ihn interessierte die Expansionsidee.

      Der Gedanke daran ließ ihn die Müdigkeit und die Sorgen um die Mutter für eine Weile vergessen. Er freute sich darauf, dem Bruder auf den Zahn zu fühlen und ihn zu ärgern. Fast beschwingt betrat er das Hauptgebäude und grüßte den Mitarbeiter am Empfang.

      Im Vorbeigehen holte er sich in der Kantine im Erdgeschoss ein belegtes Brötchen, das er auf dem Weg in die Geschäftsleitungsräume, die sich in der dritten Etage befanden, aß. Im Gang begegnete ihm Heide Kranich. Die Angestellte war im Unternehmen als Assistentin der Geschäftsführung tätig. Er fand die Enddreißigerin sympathisch. Ihre langen, blonden Haare passten zu ihrer schlanken Figur und dem länglichen Gesicht. Sein Blick wurde magisch von zwei strahlend blauen Augen angezogen.

      „Hallo Heide, ist Björn im Büro?“ Die informelle Anrede gehörte über alle Hierarchiestufen hinweg zur Unternehmenskultur.

      „Nein, ist er nicht. Er besucht einen Kunden.“

      „Schade.“ Er blieb einen Moment unschlüssig stehen und schaute auf die Uhr.

      „Es ist prima, dass ich dich treffe. Wollte ohnehin bei Gelegenheit zu dir.“

      Er hob die Augenbrauen. „Aha, was verschafft mir die Ehre?“

      „Ähm, ich arbeite jetzt seit drei Monaten hier und habe neben den offiziellen Sitzungen kaum mehr als zehn Sätze mit dir gewechselt. Ich halte es für hilfreich, die wichtigen Menschen im Unternehmen richtig kennenzulernen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Hast du nach Dienstschluss Zeit und Lust, mit mir etwas trinken zu gehen?“, fiel sie mit der Tür ins Haus.

      Er lachte schallend. „Oha. Ich bin bedeutend! Du bist heute bereits die Zweite, die das behauptet.“ Er überlegte. Normalerweise vermied er es, sich mit Mitarbeiterinnen privat zu verabreden, denn damit war meist Ärger vorprogrammiert. Vielleicht jedoch könnte er bei der Gelegenheit Details über Björns Pläne erfahren!

      „Klar, können wir machen. 18 Uhr? Wo treffen wir uns?“

      ***

      Diana erreichte um 17 Uhr Bad Homburg. Sie hatte ihre Praxis gegen Mittag geschlossen, war mit dem Zug nach Frankfurt und weiter mit der S-Bahn in die Kurstadt gefahren. Im Zug hörte sie klassische Musik und überarbeitete ein Werbekonzept für ein Kinderprojekt, das ihr am Herzen lag.

      Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Gunter hatte sie am Montag angerufen und ihr bestätigt, dass alle Angaben, die Renate Hubert gemacht hatte, richtig seien. Barbara und Karl-Heinz Lautrup waren tatsächlich ihre leiblichen Eltern!

      Sie checkte im Parkhotel ein, das unweit des Kurhauses und direkt am Kurpark lag. Nachdem sie ausgepackt hatte, spazierte sie auf der Kaiser-Friedrich-Promenade an einer Kapelle vorbei, die am Rande des Parks lag. Sie hatte gelesen, dass dieses russisch-orthodoxe Gotteshaus vom Großvater des bekannten Schauspielers Peter Ustinov entworfen worden war.

      Die schwüle Luft schien zu stehen. Weshalb hatte sie die Jeans nicht gegen einen leichten Rock getauscht?

      Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Spaziergänger. Plötzlich erschienen die trüben Gedanken wieder. Am Vorabend hatte sie erneut mit Kai gestritten. Er musste zwar zugeben, dass die Besucherin in der vergangenen Woche die Wahrheit gesagt hatte, verstand trotzdem nicht, warum sie nach Bad Homburg fuhr. Ihre Enttäuschung darüber, dass er nicht einsah, dass sie ihre Zwillingsschwester und ihre leibliche Mutter kennenlernen wollte, schlug im Laufe des Gesprächs in Wut um. Vielmehr hätte sie sich gewünscht, dass er auf die Idee gekommen wäre, sie zu begleiten. Schließlich warf sie ihm vor, keine Ahnung zu haben, wie sie sich fühlte. Der Konflikt eskalierte endgültig, als sie ihn fragte, weshalb er überhaupt mit ihr zusammenlebte. Er schaute sie daraufhin entgeistert an, drehte sich wortlos um und verließ das Haus. Sie hatte ihn nicht heimkommen gehört und am Morgen war er bereits unterwegs gewesen, als sie aufgestanden war.

      Sie konzentrierte sich auf ein Nilganspärchen, das mit sechs Jungen über die gegenüber liegende Wiese stolzierte. Jetzt nur nicht heulen!

      Sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, dass sie angekommen war? Weswegen? Das interessierte ihn ohnehin nicht. Biggi hatte recht. Es ging so nicht weiter!

      Ihre Gedanken schweiften zu Opa und Oma ab. Konnte es wirklich sein, dass sie von der Adoption nichts gewusst hatten? Unvorstellbar! Sie vermisste die beiden unglaublich, nicht nur in diesem Moment.

      Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühstück nur ein Croissant gegessen hatte. Sie spazierte durch den Park zurück ins Hotel, nicht ohne einen kleinen Umweg zu einem Golfplatz zu machen, der mitten im Kurpark lag. Sie las auf einem Schild, dass die Golfanlage über hundert Jahre alt war und als älteste ihrer Art in Deutschland galt.

      Der Himmel verdunkelte sich plötzlich von einer Minute zur anderen. Der auffrischende Wind kühlte zwar ein bisschen, war aber der sichere Vorbote eines aufkommenden Gewitters. Warum zogen immer dunkle Wolken auf, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigte?

      Mit den ersten Regentropfen betrat sie ihre Unterkunft und fand im Restaurant des Hotels einen Tisch am Fenster. Das Essen schmeckte vorzüglich, obwohl es deutlich mehr kostete, als sie es von Celle gewohnt war.

      Sie war im Begriff aufzubrechen, als ein Mann bei ihr stehen blieb und sie anstrahlte. „Hallo Julia, war es recht?“ Plötzlich stutzte er. „Oh, Verzeihung. Ich habe Sie verwechselt. Sie ähneln einer Dame, die ich kenne.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Mein Name ist Antonelli. Ich bin hier der Geschäftsführer. War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

      „Vielen Dank, es war köstlich“, entgegnete sie schmunzelnd.

      Er lächelte und entfernte sich kopfschüttelnd.

      12. Mai 2016

      Björn schleppte sich die Treppe hinunter zum Erdgeschoss der Villa in Königstein, die er zusammen mit seiner Frau Tanja und dem Sohn Lars bewohnte. Aus dem Garderobenspiegel starrte ihn ein groß gewachsener, schlanker Mann aus blutunterlaufenen Augen an. Er hatte das Gefühl, dass jemand den kahlrasierten Schädel in einen Schraubstock eingespannt habe und ständig den Druck erhöhe.

      Es

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