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den Ereignissen des vergangenen Tages wird er sich anders organisieren müssen. Sein Gefühl - am Ende der ersten Arbeitswoche in Berlin hatte es sich bemerkbar gemacht - beobachtet und verfolgt zu werden, hatte ihn nicht getrogen. Wie sonst konnten so viele Leute wissen, wo und zu welchem Zweck er sich jeweils aufhielt? Er muss sich absichern, und das wird er heute Nachmittag von West-Berlin aus in Angriff nehmen. An und für sich hatte er ja auch zu engeren Freunden und Kollegen des toten Sängers Kontakt aufnehmen wollen. Sicher hätte er da Hintergründe aus Sangers Leben in Erfahrung bringen können. Dazu war aber jetzt das Risiko zu groß. Für ihn wie für sie, da er nicht abschätzen konnte, wie hoch die Bereitschaft seiner Beschatter ging, bis zum Äußersten zu gehen. Andererseits, die Verabredung mit diesem Produktionsleiter von der DEFA, die er für heute Nachmittag getroffen hatte, wollte er doch nicht sausen lassen.

      Ingeborg Meißner hatte dem Hauptkommissar draußen in Rauchfangswerder gesagt, dass der Mann an Sangers letztem Filmprojekt mit ihm zusammengearbeitet hatte. Und sie selbst arrangierte schließlich das Treffen. Er würde sich also auf seine eigenen Fähigkeiten zur Abschüttelung möglicher Verfolger stützen müssen.

      Auch der späte Telefonanruf dieser Dixie aus Amerika hatte eine völlig neue Situation geschaffen. Wie konnte sie überhaupt Kenntnis von seiner Tätigkeit in Berlin bekommen? Woher kannte auch sie seinen Aufenthaltsort und seine Telefonnummer? Und wieso wurde sie verfolgt, und in welcher Verbindung hatte sie zu Dean Sanger gestanden? Schwer einzuschätzen das Ganze, wenn er nicht genauere Informationen über sie bekam. Aber wie?

      *

      Bis 14 Uhr arbeitet er ohne Unterbrechung an den Raschke-Vorgängen, und als die Zentral-Kartei schließt, hat er genug Ausbeute, die er Ganser nachher übermitteln kann: 23 Namen. Als er nach diversen Umwegen dann pünktlich zum Treffen mit dem DEFA-Mann erscheint, ist sein Mann nicht da. Das Pressecafe am Bahnhof Friedrichstraße ist fast leer, und nach zwanzig Minuten Wartezeit weiß Benedict, dass sein Treff geplatzt ist. Auch keine Nachricht für ihn. Vertane Zeit.

      In der Wilhelm-Pieck-Straße hat er erst mal Glück. Die Leiterin des SED-Archivs will zwar gerade ihren Posten räumen, aber der Hinweis auf Annkatrin macht sie kooperationswillig. Was sie ihm aber dann zu Sanger auf den Tisch legt, ist dürftig. Da hatte er in den MfS-Akten mehr gefunden.

      „Das ist alles. Wir sind ja auch ziemlich in Auflösung begriffen, und dann sind auch viele Dinge nach Potsdam verlagert worden. Mehr ist wirklich nicht da!“

      Die Stellungnahme der Abteilung 80 - Internationale Verbindungen beim ZK der SED zu Sangers Filmprojekt „Teil Zaatar“ ist zumindest ein fehlendes Bindeglied zu Raschkes Aktivitäten. Benedict ist verblüfft über die realistische, ja hellsichtige Analyse zu den Ereignissen im Nahen Osten, die sich in seinen Augen so wohltuend von den einseitigen Gefühlsduseleien des Amerikaners zum gleichen Thema abhebt. Die Genossen haben genau gewusst, was da vorging. Entgegen der offiziellen Propaganda trugen ihrer Ansicht nach eben nicht die Israelis die Schuld an der Vernichtung des palästinensischen Flüchtlingslagers, sondern die Syrer. Klipp und klar steht es da. Genauso stellten sie aber auch klar, dass seitens der SED aus wirtschaftlichen wie aus globalpolitischen Überlegungen keinerlei Interesse an einer solchen Darstellung des Sachverhaltes bestand. Auch die PLO bekommt ihr Fett weg. Sie wäre sehr wohl in der Lage gewesen, das Lager Teil Zaatar zu entsetzen, wenn es nicht an der erforderlichen militärischen Einheit gefehlt hätte. Letztendlich weist die Abteilung 80 „rechts-faschistischen Tendenzen“ bei PLO und Syrern die Hauptschuld an der Vernichtung des Lagers zu. Und dann fällt für Dean Sangers Drehbuch endgültig der Hammer: Der Genosse Generaldirektor der DEFA habe Sanger von der Ablehnung des Projektes zu informieren, ihm aber die wahren Ablehnungsgründe zu verschweigen!

      Dass Dean Sanger auch in den Staaten mal im Knast gesessen hatte, war Benedict bis jetzt unbekannt gewesen. Aber da liegt ein Brief von ihm aus dem Wright County Jail in Buffalo, Minnesota vom 7. Nov. 1978 an Meinen lieben Freund & Genossen Kurt Hager! Peinlich berührt, dreht er das handschriftliche Dokument zwischen seinen Fingern. Eine Mischung aus Selbstüberschätzung, Anbiederung und politischer Naivität, so will ihm scheinen. Den Kampf von Farmern gegen die Interessen der Energie-Multis wollte er unterstützen, und dabei ist er von den Sheriffs eingebuchtet worden. Jetzt befindet er sich im Hungerstreik. Wir halten uns für politische Gefangene wir werden unseren Hungerstreik solange fortsetzen bis wir unsere Freiheit erreicht haben um die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf das Elend der Tausende politischer Gefangener hier in den U.S.A. zu lenken. Jeden Tag bekommen wir Hunderte von Protesttelegrammen aus den U.S. & anderen Ländern. Jeden Tag werden wir physisch schwächer, aber unser moralischer, geistiger & ideologischer Widerstand wird mit jedem Tag stärker. Ich danke Dir für Deine Freundschaft & Solidarität. Bitte umarme Gen. Honecker für mich. Venceremos! Dean Sanger. Da müssen die ganz schön zu tun gehabt haben, mit der Post. Hatten sicher nicht gewusst, was für einen Vogel sie sich da ins vergitterte Nest gesetzt hatten.

      Es liegt auch noch eine Ansichtskarte dabei. Auch für den Genossen Kurt vom Politbüro. Motiv einsamer Cowboy mit Pferd und Herbststimmung. Da wird sich Kurti aber gefreut haben! Lieber Kurt-Ich dachte mir, dass Du mein angefügtes Schreiben vielleicht im ND veröffentlichen würdest. Aha, PR in eigener Sache. Ich hoffe, dass Du nach meiner Rückkehr in die D.D.R. die Zeit haben wirst, meinen Film ,El Cantor‘ anzusehen. Mein Film hatte sehr gute Kritiken hier in den Staaten. Pass auf Dich auf - eine Umarmung. Dean Sanger.

      O je, o je. Die Genossen, die diese klaren Analysen fabriziert hatten, die mussten sich doch bei den verquast, schwiemeligen Ergüssen des naiven Amerikaners vor Lachen ausgeschüttet haben. Sie immerhin wussten es besser. Als Benedict das Zentralarchiv der SED nach kurzer Zeit wieder verlässt, hat er fast so etwas wie Mitleid mit dem Jungen aus Colorado. Armer Dean.

      *

      „Dr. Huber? Sind Sie’s selbst?“

      „Na klar doch! Mein Kater hätte ja miau gemacht!“

      „Benedict spricht. Sie erinnern sich? Fuerteventura, die CKA-Bank!“

      „Na, ick hab doch keen Alzheimer. Wat macht Ihre Birne?“

      Alles Masche. Dr. Siegfried Huber spricht normalerweise lupenreines Hochdeutsch und auch sonst ist der Beamte des Referates I 5 bei der Außenstelle Frankfurt des BUNDESAUFSICHTSAMTES FÜR DAS KREDITWESEN BERLIN mit allen Wassern gewaschen. Damals, auf Fuerte, hatte Huber ihn mit List, Tücke und Brachialgewalt aus mancher bedrohlichen Situation raus geholt, und Huber ist genau der Mann, den er in Ost-Berlin an seiner Seite haben möchte.

      „Sie haben mir doch mal gesagt, dass ich Sie anrufen könne, wann immer Not am Mann ist. Sie würden dabei sein.“

      „Und wo ist die Not am größten, mein Verehrtester?“

      „In Berlin Hauptstadt der DDR!“

      „Ausgerechnet Berlin. Sind Sie jetzt bei den Vopos gelandet?“

      „Sie kriegen auch Ihre Auslagen von mir ersetzt, falls ...“

      „Keine Rede. Wird das Amt nicht ärmer machen. Worum geht’s?“

      Diesmal hatte der Hauptkommissar nicht die obligatorische Telefonzelle hinter der Sektorengrenze angesteuert, sondern war mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln zum Bahnhof Zoo gefahren. Von dort aus hatte er sich, das feierabendliche Menschengewühl der City als Deckung benutzend, zu einem Postamt an der Marburger Straße geschlagen. Hier nun, in einer angemieteten Sprechkabine, würde er seine länger dauernden Gespräche in aller Ruhe und, wie er hoffte, ohne lästige Mithörer, durchführen können.

      Erwartungsgemäß ist auf Huber Verlass. Nachdem sie Treffpunkte, allgemeine Maßregeln und Vorgehensweisen sowie Kommunikationswege abgesprochen haben, legt Benedict erleichtert den Hörer auf und wählt dann Gansers Nummer im Präsidium Düsseldorf.

      „Naaa?“

      Ja, ja. Auch am Jürgensplatz haben die Wände Ohren, und die Mär von Benedicts

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