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Das Meer warf große Wellen gegen die Kaimauer, und die Segel vieler kleiner Boote knatterten im Wind.

      Das Dampfschiff war noch da. Emily betrachtete staunend den großen Schornstein und die Schaufelräder am Rumpf. Schwarze Lettern verkündeten den Namen des Gefährts: Royal Mordred. Obwohl ich den Dampfer bereits gesehen hatte, erfüllte sein Anblick mich wieder mit Ehrfurcht. Ich bewahrte eine gelassene Miene, als wäre ich durch nichts auf dieser Welt zu beeindrucken.

      „Ich würde gern einmal auf der Royal Mordred fahren“, schwärmte Emily. „Du nicht auch?“ Der Wind hatte ihr den Strohhut in den Nacken geweht. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz befreit und deutete wie ein Hinweispfeil unablässig wedelnd auf das Mal über ihrer Augenbraue. Irrte ich oder sah sie heute noch bezaubernder aus als sonst?

      Eine große Welle brach an der Kaimauer. Gischt spritzte auf, und Emily wich erschrocken zurück.

      Ich lachte.

      „Es ist doch nur Wasser“, sagte ich und stellte mich vor sie, wie um das Wasser abzufangen.

      Sie errötete. „Hab mich erschrocken“, murmelte sie und wich meinem Blick aus.

      Immer noch schmunzelnd deutete ich auf ein Café und bot an, ihr eine Cola zu spendieren.

      Insgesamt kann von einer gelungenen Verabredung die Rede sein. Wir tranken Cola und spazierten die Promenade entlang. Wir redeten über die norvolkischen Mythen, über das Studentenleben in Treedsgow, über uns.

      Emily sagte, dass sie alle halbe Jahre den Konzerten der Treedsgower Philharmoniker lauschte.

      „Ich würde dich gerne einmal begleiten“, sagte ich.

      Emily schwieg. Ihre Miene war nicht abweisend, eher abwesend genau wie vor zwei Tagen im Coffee-House Calvin. Was beschäftigte sie? Fühlte sie sich womöglich bedrängt?

      Schließlich deutete sie auf eine Bank mit Blick auf das Meer und schlug vor, sich zu setzen. Das dunkle Wasser war an diesem Abschnitt der Küste zurückgewichen, und hinter der Kaimauer lag ein breiter Sandstrand. Schweigend lauschten wir dem Rauschen der Wellen. Die Sonne versank hinterm Horizont. Es war keine peinliche Stille, wie Ed sie fürchtete, eher eine stillschweigende Übereinkunft, den Zauber des Augenblicks nicht durch sinnlose Worte zu verscheuchen.

      Nach einer Weile lehnte Emily ihren Kopf an meine Schulter. Ich rührte mich nicht, als wäre sie ein Vogel, den ich nicht erschrecken wollte. Die Sonne war schon fast im Meer versunken und unzählige Sterne glitzerten am Himmel. Eine kühle Brise trug uns den Salzgeruch zu, und Emily schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Ohne nachzudenken, legte ich ihr den Arm um die Schultern und wartete mit klopfendem Herzen auf Widerspruch. Aber Emily schwieg und rührte sich nicht.

      „Kennst du die Sternenbilder der Norvolken?“, fragte ich leise, als nur noch ein orangeroter Streifen über dem Meer an den vergangenen Tag erinnerte, und die Straßenlaternen entlang der Promenade aufflammten.

      „Nicht alle, aber einige“, flüsterte Emily, legte den Kopf in den Nacken und deutete himmelwärts. „Die Hemisphäre lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Blickst du in Lotrichtung nach oben, siehst du Stahl.“ Ich folgte ihrem Blick. „Wenn du die Sterne richtig verbindest, bilden sie seine Silhouette, wie er die Hand nach dem Mond ausstreckt.“ Ihre Stimme lächelte. „Du erinnerst dich, dass der Mond der Sage nach das silberne Schloss von Tyr, dem Götterbildner, ist? Dass er es zum Gefängnis seiner Tochter Ea machte, weil sie ihren Sohn ins Leben zurückholte?“

      „Du meinst Lotin?“

      Bei der Erwähnung des Namens zuckte Emily zusammen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ihre Hand zum Talisman fuhr.

      Sie fasste sich schnell. „Stahl vermisst seine Schwester“, fuhr sie fort, als wäre nichts gewesen. „Die Sternenbilder zwischen den Linien auf der Höhe von dreißig und sechzig Grad zum Horizont sind die Kinder von Ea und werden deshalb auch die zweite Generation genannt. Zwölf mal Zwölf Bilder sind es. Dort sind Einar, Alfgard und Oddleif. Von null bis dreißig Grad ist entsprechend die dritte Generation …“

      Ich lauschte verträumt dem Klang ihrer Stimme. Ich hätte mit ihr die ganze Nacht verbringen können, nein, die Ewigkeit auf dieser harten Holzbank mit Blick auf das inzwischen spiegelglatte Meer, in dem sich der Sternenhimmel von Treedsgow zeigte, ihr Kopf an meiner Schulter.

      „Mir ist kalt“, murmelte Emily irgendwann. Wir verließen den Hafen. Vor ihrer Wohnung verabschiedete ich sie mit einem Kuss auf die Hand.

      W. D. Walker

       34. FRÜHLINGSMOND 1713, WERKTAG

      Vor drei Tagen habe ich Emily das letzte Mal gesehen. Sie studiert Astronomie. Sie besucht andere Vorlesungen als ich. Sie hält sich in Gebäuden auf wie dem Hemisphärion oder dem astronomischen Observatorium und ist allenfalls in gemeinschaftlich genutzten Räumen wie der Mensa oder der Bibliothek anzutreffen. Es ist also eher dem Zufall überlassen, ob ich ihr auf dem Campus begegne.

      Ich habe einen Brief geschrieben. Ich möchte sie wiedersehen! Es kostet mich meine gesamte Willenskraft, um ihn nicht sofort unter ihrer Wohnungstür durchzuschieben. Sie soll nicht wissen, wie sehr ich mich nach ihrer spitzen Nase und jenem Mal über ihrer linken Braue sehne.

      Allein zu wissen, dass es sie gibt, beflügelt mich. Ich wache morgens auf, bevor mein Wecker schellt. Ich erledige meine täglichen Aufgaben stets gut gelaunt, bisweilen sogar mit einem Lied auf den Lippen. Nichts kann mich verstimmen. Nichts!

      W. D. Walker

       36. FRÜHLINGSMOND 1713, MITTVIERT

      Soeben schob ich den Brief unter Emilys Tür durch. Ich habe bei einem der anderen Hausbewohner geschellt, um ins Treppenhaus zu gelangen. Nun heißt es: warten.

      W. D. Walker

       5. URBAN 1713, VIERTMORGEN

      Emily lässt sich Zeit. Warum? Ist sie zu beschäftigt? Gibt es so viele Dinge, die ihr wichtiger sind? Diese Frage klingt selbst in meinen Ohren narzisstisch, aber wenn ich unser letztes Treffen Revue passieren lasse, glaube ich, dass sie mich mag. Warum also lässt sie mich warten?

      Vielleicht sucht sie nur die richtigen Worte …

      W. D. Walker

       (Auf die nächste Seite war ein Brief eingeklebt. Emilys Antwort. Ich strich über die Zeilen, die sie verfasst hatte, meine Schwester, die ich für tot gehalten hatte. Eine Erinnerung fand mich. Daran, wie neidisch ich auf Emilys saubere Handschrift gewesen war. Ich hatte versucht, die Schnörkel, die sie an jedes ‚L‘hängte, zu imitieren, und es ihr gegenüber heftig abgestritten. Die Schnörkel machte sie immer noch.)

       7. URBAN 1713, STAHLTAG

      Lieber William.

      Ich kann einem weiteren Treffen nicht zustimmen. Die Leute reden. Ich möchte meinen Platz an der Universität nicht verlieren. Ich hoffe, du verstehst das.

      Alles Liebe

      Emily

      Mein Kopf ist leer, und ich bin müde.

      Als Edwina und ich uns trennten, wurde es finster um mich herum. Eine Zeit lang war ich gefühlsblind, aber ich gewöhnte mich an die Dunkelheit, sah wieder Formen, wenn auch keine Farben.

      Ich übte mich in Geduld.

      Dann öffnete sich eine Tür, und Emily trat in mein Leben. Goldenes Licht begleitete sie wie eine Aura, und ich sah, wie viel schöner alles sein konnte. Sie reichte mir einen Kelch, ließ mich von neu erwachter Liebe kosten, nur einen winzigen Schluck …

      Bloß um mir alles im nächsten Augenblick zu nehmen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und ich stehe wieder im Dunkeln. Das goldene Licht hat sich in meine Netzhaut gebrannt, ein verblassender Abglanz des Glücks, der mich höhnisch daran erinnert, wie schön das Leben sein könnte. Ihre Nase, das Mal über ihrer Augenbraue – nicht für mich.

      Ich

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