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dem Tod gibt, dann bete ich dafür, dass sie mir verzeihen.“ Diese gefühlvolle Seite an ihr überraschte mich. „Du darfst niemandem davon erzählen. Wenn die anderen erfahren, wie ich wirklich bin, halten sie mich für schwach.“

      Es gab auch Momente, während derer wir überhaupt nicht sprachen. Wir standen bloß da und hielten einander in den Armen, blickten aus dem Fenster und hingen unseren Gedanken nach. Es schien, als sei eine unsichtbare Barriere zwischen uns gebrochen. All die Jahre hatte sich eine gegenseitige Sehnsucht dahinter angestaut und endlich – endlich! – konnten wir unser Verlangen stillen. Wir küssten uns, liebten uns. Danach betrachtete sie mein Gesicht, minutenlang, als wollte sie sich jedes Detail einprägen. Und immer wieder wanderte ihr Blick zu meinen Augen. Ein Leuchten belebte jene graublauen Edelsteine, die ihre Iriden waren.

      „Du bist anders, Godric. Anders als jeder Mann, den ich je gekannt habe. Du bist ruhig. So unerschütterlich. Du bist stark.“ Sie streichelte mir über den Bizeps. „Als du dieses Regal hochgehoben hast, dachte ich, ich sehe nicht richtig. Du bist jung und hast doch mehr erlebt als die meisten. Ich möchte nicht länger auf diesem Schiff bleiben. Ich möchte nur noch mit dir zusammen sein, re agapi, egal wo. Wir werden von hier verschwinden und ein neues Leben anfangen.“

      Teena kam nach etwa vierundzwanzig Stunden. Sie trat durch eine Tür, die unverkennbar in den Unterrumpf führte. Ich hörte die Schreie eines Süchtigen. Schnelle Schritte, die in den Untiefen verhallten. Roch die unverwechselbare Mischung aus Rost und Blut …

      Die Tür fiel hinter Teena ins Schloss. Sie trug eine Gasleuchte bei sich. Ihre Augen leuchteten.

      „Oben ist die Hölle los“, berichtete sie. „Raven tobt. In seiner Bibliothek wurde randaliert. Ich nehme an, das wart ihr?“ Sam lachte.

      Teena musterte mich. „Franco ist misstrauisch. Ihm ist nicht entgangen, dass du und Sam verschwunden sind. Ihr solltet euch besser nicht blicken lassen.“

      „Wie weit sind wir vom Land entfernt?“

      Teena zögerte. „Weit …“

      „Können wir …?“

      Die kleine schwarze Frau schüttelte den Kopf.

      Ich sah abwechselnd von Teena zu Sam. „Was?“

      „Teena hat weit unten im Rumpf Sprengstoff gelagert“, erklärte Sam. „Sobald wir uns in Küstennähe befinden, zünden wir den Vorrat. Das sollte ausreichend Verwirrung stiften, um von hier zu verschwinden.“ Sam wies auf die Kisten umher. „Ich habe hier einige Vorräte gelagert. Es ist nicht viel …“

      „Das macht nichts. Hunger ist ein alter Freund von mir.“

      „So siehst du aus.“ Sam musterte mich mit einem Blick, der eindeutig nicht missfallend war.

      Die folgenden Tage zählten zu den schönsten meines Lebens. Der kleine Raum hatte uns nicht viel zu bieten, wir einander dafür umso mehr. Ich wurde nicht müde, sie anzusehen. Ihren Worten zu lauschen. Sie erzählte viel – von ihrem Vater, den sie gehasst hatte, und von ihrer Flucht. Davon, wie sie an Bord des Schiffes gelangt war, und wie glücklich und geborgen sie sich an Marios Seite gefühlt hatte. Wie eine Welt für sie zusammengebrochen war, als er sie verlassen hatte. Und sie erzählte von mir.

      „Ich habe mich immer gefragt, was die Runen auf deinem Rücken zu bedeuten haben. Du hast wirklich keine Ahnung?“

      Ich schüttelte den Kopf. „Hatte ich die Runen damals schon, bei unserem ersten Kampf?“

      „Ich erinnere mich nicht.“ Sam blickte kurz ins Leere. „Wenn, dann sind sie mir nicht aufgefallen.“

      Eines Tages war es so weit.

      „Land in Sicht“, meldete Teena. Sam blickte zu dem Bullauge. „Die Küste ist auf der anderen Seite. Ich habe es vom Batteriedeck aus gesehen.“ Seit Sam und ich uns in Ravens Bibliothek begegnet waren, war Teena in den Unterrumpf abgetaucht. Als Sam ihr angeboten hatte, bei uns zu bleiben, hatte sie abgelehnt.

      „Ich komme bestens mit den Süchtigen zurecht, danke. Außerdem will ich doch nicht … eure knapp bemessenen Vorräte aufbrauchen“, hatte sie mit blitzenden Augen hinzugefügt.

      „Dann ist es Zeit, die Bombe zu zünden. Wir warten auf den Knall.“

      „Da gibt es noch eine Sache“, sagte ich. Seit ich das Versteck betreten hatte, hatte mich das Gefühl nicht losgelassen, etwas vergessen zu haben. Wie ein Traum, an den man sich nicht mehr erinnerte. Zunächst hatte ich es ignoriert. In meinen Gedanken war nur Platz für Sam gewesen. Doch dann hatte ich mich gefragt, was es sein konnte, das da so hartnäckig in meinem Hinterkopf verweilte.

      Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

      Teena und Sam sahen mich fragend an. „In meiner Kajüte ist ein Buch. Ich brauche es.“

      „Ein Buch?“, fragte Sam ungläubig.

      „Es ist wichtig.“ Etwas sagte mir, dass es so war. Allein der mysteriöse Umstand, wie ich in seinen Besitz gekommen war.

      „Das schaffe ich“, sagte Teena. „Welche ist deine Kajüte? Nummer vierzehn?“

      „Eine vorher.“

      Teena verschwand. Nach weniger als einer Stunde kehrte sie mit dem Tagebuch zurück.

      „Mach die Zündung lang genug“, schärfte Sam ihr ein.

      „Macht euch um mich keine Sorgen. In weniger als einer Stunde ist es so weit. Wartet hier. Wir werden das Bullauge einschlagen, sobald die Bombe hochgegangen ist. So erreichen wir eines der Sicherheitsboote.“ Sie verschwand erneut.

      Sam wandte sich mir zu. „Nur noch wenige Augenblicke trennen uns von der Freiheit, re agapi.“ Sie küsste mich. Küsste mich zum letzten Mal.

      Eine Stunde verstrich. Sam blickte auf ihre Taschenuhr und kaute auf der Unterlippe. Eine weitere Stunde verstrich, ohne dass ein Knall ertönte.

      „Etwas stimmt nicht“, sagte Sam. „Wir gehen sie suchen.“ Sie öffnete die Tür zum Unterrumpf. Dann sah sie meinen Blick. „Oh …“

      Ich bemerkte nicht einmal, wie sie mich musterte. Starrte bloß in die Dunkelheit. Bildete ich es mir ein oder hörte ich die Schreie der Süchtigen? Das stählerne Knarren, das stetige Tropfen, das Brüllen des Pelzes in den Tiefen …

      „Godric?“ Sams Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. „Was ist dein Problem? Bist du nicht der Perlkönig? Wirst du nicht spielend mit den Süchtigen fertig?“

      „Nun ja …“ Es waren nicht die Süchtigen, die ich fürchtete, nicht den Tod. Ich fürchtete mich vor mir selbst. Vor dem, was der Unterrumpf aus mir machte.

      „Godric … du musst nicht gehen.“

      Ich räusperte mich. „Schon gut. Ich schaffe das.“ Ich betrat den Gang. Schon nach wenigen Schritten wurde mir schwindelig. Die Wände legten stählerne Arme um mich. Der Geruch von Rost und Blut füllte meinen Kopf. Eine Erinnerung fand mich. Olli, wie er vor mir lag, in der Mitte durchgeschnitten, seine Eingeweide auf dem Boden verteilt. Der Schweiß brach mir aus. Irgendwo vor mir, wo sich der Gang im Dunkeln verlor, sah ich die Umrisse eines Mannes mit Zylinder. Die Knie gaben unter mir nach. Ich suchte Halt an der Wand und glitt langsam an ihr herab. Der Rumpf knarrte wie der Magen eines Monsters. Ich biss die Zähne zusammen. Ballte die Hände zu Fäusten.

       Töten oder getötet werden.

      In meinem Kopf hörte ich Hungers selbstgefällige Stimme: Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich knurrte.

      „Godric?“ Sam legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich wirbelte herum, packte sie an der Gurgel und drückte zu. Ich hob sie hoch, fletschte die Zähne. Mein hasserfüllter Blick traf ihre weit aufgerissenen Augen, während ich sie vor mir hertrug, den Gang zurück. Erst als das Sonnenlicht ihre Augen traf, wurde ich wieder ich selbst. Ich setzte sie auf dem Boden ab und wich zurück, entsetzt über das, was ich getan hatte. Ich stieß mit dem Rücken gegen die Wand und

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