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… es tut mir leid.“

      „Schon gut“, flüsterte Sam und rieb sich die Kehle. „Ich gehe allein.“ Schon hatte sie den Gang betreten. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

      „Warte.“ Ich sprang auf die Beine, obwohl ich am ganzen Leib zitterte. Eilte ihr nach und packte die Klinke. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Sam musste sie von der anderen Seite verriegelt haben.

      „Sam!“ Ich hämmerte gegen die Tür. Wie sehr wünschte ich mir schwarzes Perl herbei, das mir die Kraft gab, die Eisentür aufzubiegen. „SAAAM!“ Nach etwa zehn Minuten gab ich auf.

      Ich kehrte zum Bett zurück und ließ mich darauf nieder. Grausame Bilder fanden einen Weg in meine Gedanken. Sam, abgestochen von einem Süchtigen. Überwältigt von Francos oder Ravens Männern. Ich raufte mir die Haare. Mein Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach etwas, das mich ablenken konnte, und fand das Tagebuch. Ich schlug es auf und las:

       Ich wohne jetzt seit fast einem Viertel hier: Treedsgow, …

      Ich warf es fort und erhob mich. Ging auf und ab, trat eine Kiste durch den Raum und mehrmals gegen die Eisentür, bis mir der große Zeh schmerzte. Zuletzt ließ ich mich wieder auf dem Bett nieder. Ich konnte nichts tun außer hoffen, dass Sam heil zu mir zurückkehrte.

      Sie ist stark, sagte ich mir. Hab Geduld. Sie wird es schaffen.

      Ich nahm das Tagebuch wieder zur Hand und strich über den ledernen Einband. Nun, da mein Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, verspürte ich Neugier. Wieder dachte ich daran, wie ich in seinen Besitz gekommen war. Wollte jemand, dass ich es las? Ich dachte an die Worte des Mannes in meinem Traum. Die Zwölfte Stunde schlägt, Godric End. Es bleibt nicht viel Zeit. War es bloß irgendein Traum gewesen? Oder eine Botschaft?

      Zum zweiten Mal öffnete ich das Tagebuch und fing an zu lesen.

       Das Tagebuch

       13. TAUMOND 1713, VIERTABEND

      Ich wohne jetzt seit fast einem Viertel hier: Treedsgow, Stadt des Wohlstands und der Naturwissenschaften. Ich habe immer davon geträumt, eines Tages hierherzuziehen. Doch nun vermisse ich meine Heimat. Little Hill. Ich vermisse die hügelige Landschaft, die die kleine Stadt umgibt, die Berge am Horizont, die Kohlearbeiter, sogar das riesige Bergwerk. Ich vermisse das Landhaus meiner Eltern, die lange Flure, mein geräumiges Zimmer, die Bibliothek … Ich vermisse Mutter, meine beiden jüngeren Schwestern, sogar Vater, obwohl wir nicht in Freundschaft auseinandergingen. Und ich vermisse Edwina. Immer noch.

      Ich versuche, mich von alldem abzulenken und gehe oft spazieren. Treedsgow hat viel zu bieten: Breite Straßen und alte Bauten. Plätze mit Brunnen und Statuen. Einen Hafen, einen Leuchtturm, einen Bahnhof, unzählige Läden und Bars und natürlich die Universität. Der Winter steht der Stadt gut. Viertmorgennacht kleidete er sie in unschuldiges Weiß. Aus den Schornsteinen steigt Rauch, der sich über die Dächer aus Tonziegeln erhebt und mit dem wintergrauen Himmel verschmilzt. Entlang der Hauptstraßen stehen Gasleuchten. Gasleuchten! Ich habe so etwas nie zuvor gesehen. Nachts bricht sich ihr Licht tausendfach in den Eiskristallen.

      Der einzige Makel dieser idyllischen Stadt ist die Nervenheilanstalt Sankt Laplace jenseits des Stadtrandes, fern vom Licht und vom Leben. Sie bietet guten Stoff für Gruselgeschichten.

      Übernächstes Viertel beginnt mein Studium an der Treedsgow University. Der Umzug ist getan, nun werde ich den Rest der Stadt erkunden. Mein nächstes Ziel ist der Hafen. Angeblich gibt es dort ein Dampfschiff!

      Meinen Mitbewohner habe ich bisher nicht zu Gesicht bekommen. Er ist bei seinen Eltern und kehrt erst nächste Sonnnacht zurück. Unser Nachbar sagte, Edward sei ein einmaliger Mensch.

      W. D. Walker

       16. TAUMOND 1713, VIERTMORGEN

      Gestern kehrte mein Mitbewohner zurück. Sein Name ist Edward Thomas Jones Thomson, Sohn des Barons von Westebbe. Ich nenne ihn Ed. Er ist groß. Ein gelassener Kerl, der oft mit den Schultern zuckt. Seine Eltern wollten, dass er studiert. Wie ich Ed einschätze, hat er nicht viele Widerworte gegeben. Ich vermute, er ist weniger am Studium interessiert als daran, möglichst viele Frauen ins Bett zu kriegen.

      „Wenn du Spaß haben willst, geh zum Hafen“, teilte er mir im Vertrauen mit, zehn Minuten nach unserer ersten Begegnung. „Auf der Universität wirst du kein Glück haben. Dort gibt es nur Prüderine und Langeweila. Und die wissen genau, dass sie fliegen, wenn sie nicht brav sind. Nein, wenn du dir nicht die Zähne an steinharten und dabei nicht mal leckeren Nüssen ausbeißen willst, halt dich an mich.“ Ed ist in Ordnung. Was mich betrifft, so bin ich nicht daran interessiert, ein Mädchen kennenzulernen, bloß um ihren Acker zu pflügen, wie Ed es so schön formuliert. Nenn mich romantisch, aber ich mache mir nicht viel aus einer einzigen Liebesnacht. Ich suche nach dem, was ich mit Edwina hatte. Egal was ich tat, wenn ich es mit ihr zusammen tat, trug ich ein Lächeln auf dem Herzen. Und wenn es bloß darum ging, ihr dabei zu helfen, die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen.

      Edwina hätte das Zeug gehabt, in Treedsgow zu studieren, wäre sie keine Frau gewesen, noch dazu die Tochter eines Kohlearbeiters. Wir waren fünfzehn, als wir uns zum ersten Mal küssten. Meine Hände zitterten. Edwina lachte. Zufällig berührte ich ihren Oberarm und fühlte ihre Gänsehaut.

      Wir warteten nicht lange und teilten unsere erste Liebesnacht. Zwei Jahre lang waren wir ein Paar. Aber unsere Liebe erkrankte. Einmal sagte Edwina, dass wir uns trennen müssten. Denn sie war die Tochter eines Kohlearbeiters, ich der Sohn eines wohlhabenden Mannes. Ich wies es von der Hand. Nichts könne mich davon abhalten, bei ihr zu bleiben.

      Doch irgendwann hatte der Druck unerträgliche Ausmaße angenommen. Mein Vater kam immer öfter auf unsere Beziehung zu sprechen: „Sie werden dich nicht auf der Christopher-Adams-Schule annehmen, wenn sich herumspricht, dass du dich mit dieser Dirne triffst. Wie willst du eines Tages in Treedsgow studieren ohne Abschluss?“

      „Vielleicht will ich ja gar nicht nach Treedsgow“, erwiderte ich. Das war natürlich Unsinn, war das Studium an der Treedsgow University doch von klein auf mein Traum gewesen.

      „Willst du etwa wie der Vater dieser Edwina in einer Kohlemine graben?“

      Auch Edwinas Eltern wollten unsere Beziehung nicht gut heißen. Ihr Vater hasste den meinen, weil er Mitglied im Vorstand des Bergbauvereins war. Er nannte mich nie beim Namen, sagte immer nur Der Sohn des Bonzen. Eines Tages beendete Edwina unsere Beziehung. Bis zu meinem Umzug nach Treedsgow blieben wir Freunde. Aber selbst nach meinem Schulabschluss, vier Jahre nach der Trennung, spürte ich ihren Kummer über meinen Fortgang. Es war mehr als nur die Trauer über einen verlorenen Freund. Sie trauerte um eine verlorene Liebe.

      W. D. Walker

       28. TAUMOND 1713, MITTVIERT

      Das Semester hat vor drei Tagen begonnen. Was in meinen Augen an Wunder des technischen Fortschrittes grenzt, ist für die meisten Bürger Treedsgows längst zum Alltag geworden. So wird der Haupteingang der Universität von zwei elektrisch gespeisten Bogenlampen beleuchtet. Dr. Warrick, unser Professor für Grundlagenmechanik, radelt jeden Morgen auf einem Hochrad zum Campus. Er hat es selbst konstruiert, in einer der Werkstätten der Universität bauen lassen und bereits ein Patent dafür angemeldet. Neben Laboren, Werkstätten und einer riesigen Bibliothek gibt es auch eine Rohrpostzentrale, die gut ein dutzend Häuser der wichtigsten Bürger Treedsgows miteinander vernetzt.

      Die Zukunft beginnt hier.

      Nach den Veranstaltungen dieses Tages besuchte ich die Bibliothek. Es gibt dort Enzyklopädien und Lexiken, aber auch Romane und lyrische Werke. Ich lieh mir eine Gedichtsammlung von Anthony Robert Gray aus.

      W. D. Walker

       8. FRÜHLINGSMOND 1713, WERKTAG

      Ist es möglich, dass ich schon seit zwei Vierteln in Treedsgow studiere? Es gibt viel zu tun, und die Zeit vergeht ungesehen …

      Vor zwei Tagen war Frühlingsanfang.

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