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      Wo ist sie, die ich suche? Hier in Treedsgow? Irgendwo in Dustrien? Gibt es sie überhaupt?

      W. D. Walker

       18. FRÜHLINGSMOND 1713, STAHLTAG

      Es ist Abend.

      Vor wenigen Stunden begegnete mir Emily End und schlug mich zum Narren.

       (Ich vergaß zu atmen. Emily End? Meine Schwester Emily? Sie lebte? In Treedsgow? 18. Frühlingsmond 1713 … Wie lange war das her?)

      Sie ist es, nach der ich gesucht habe. Daran besteht kein Zweifel!

      Jedoch … darf ich wahrhaftig hoffen? Sie ist eine der wenigen Frauen, die in Treedsgow studieren. Sie würde nie – nie! – ihr Studium für mich riskieren.

      Emily.

      Dieser gewöhnliche Name war mir nie exotischer erschienen. Egal wie, ich kann ihn nicht aussprechen, ohne zu lächeln. Wenngleich es ein wehmütiges Lächeln ist.

      Em-mi-ly. Wieder. Ein Lächeln.

      Als ich vor vier Stunden meine Wohnung betrat, war ich allein. Ed besuchte eine Veranstaltung. Ich ging in die Küche. Als ich nach dem Brotmesser griff, verging mir der Appetit. Ich blickte mich um. Es war still, und ich fühlte mich beengt. Ich ging in mein Zimmer und fing an, einen Brief zu schreiben. Schon nach wenigen Zeilen legte ich den Füllfederhalter nieder. Die Luft erschien mir fremd und staubig. Mir war heiß und ich wurde zunehmend unruhig.

      Mein Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach einem Grund, die Wohnung für wenigstens eine, besser zwei Stunden zu verlassen. Ich wollte mir selbst nicht eingestehen, dass ich Heimweh hatte. Ich entdeckte die Gedichtsammlung von Anthony Robert Gray auf meinem Schreibtisch und schnappte danach wie ein Schiffbrüchiger nach dem rettenden Seil. Das Rückgabedatum war erst für den achtundzwanzigsten ausgezählt. Egal. Ich stand auf und zog mir Schuhe und Jacke an.

      Wenig später stieg ich die Stufen zum Podium der Bibliothek empor. Ich ging langsam, da ich unterwegs Grays Sammlung aufgeschlagen und mich in seinen Gedichten verloren hatte. Ich erreichte die Tür und tastete nach der Klinke. Zu spät sah ich den Bücherturm, der mir entgegen kam. Ich stolperte, während Bücher zu beiden Seiten des Turms auf den Boden klatschten.

      „Bitte entschuldige!“, rief das Mädchen, das die Bücher getragen hatte. „Hab dich nicht gesehen.“ Der Klang ihrer Stimme machte mich stutzig. Vielleicht lag es auch bloß daran, wie sie sich artikulierte, eine beiläufige Art, jedes Wort in Gesang zu kleiden.

      „Nicht doch“, sagte ich und beeilte mich, ihr beim Aufsammeln zu helfen. „Ich habe geträumt.“ Ich warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Mein erster Gedanke war, dass sie nicht besonders hübsch war, eher durchschnittlich wie eine typische Studentin. Sie trug eine Brille. Ihre geröteten Wangen und das zerzauste Haar verliehen ihrer Erscheinung eine ungekünstelte Note.

      Im Nachhinein denke ich, dass ihr Charakter ihre wahre Schönheit ausmacht. Sie hat eine spitze Nase, einen kleinen Mund und über der linken Braue trägt sie ein entrückendes Mal. Sie ist weder besonders schön noch hässlich. Umso stärker scheint die Schönheit ihres Wesens durch ihr unscheinbares Äußeres. Ed hätte das nicht verstanden.

      Ich griff nach einem Buch. Ich erwartete eine wissenschaftliche Lektüre, etwas wie Lehrbuch der Physik oder Evolutionsbiologie. Ich konnte Ed in meinem Kopf fragen hören: Ist sie eine Prüderine? Oder eine Langeweila? Ich drehte das Buch um und las Norvolkische Mythologie.

      Ich stutzte.

      „Du interessierst dich für Mythen?“ Sie nickte, während sie ihre Bücher wieder zu einem Turm stapelte. „Ich habe dieses Buch bestimmt ein dutzend Mal gelesen“, sagte sie. „Es ist mir ein tragbares Stück Heimat.“ Sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln.

      „Kommt mir bekannt vor.“ Ich wollte ihr die Gedichtsammlung von Gray zeigen. Doch das Buch – ich hatte es nur kurz auf den Boden gelegt – war verschwunden. „Hast du mein Buch genommen?“

      „Welches?“

      „Dort.“ Ich zog es aus ihrem Bücherturm und zeigte ihr den Einband. Die Augen des Mädchens weiteten sich.

      „Oh. Ich dachte, es wäre von mir. Ich wollte es mir ausleihen, aber jetzt erinnere ich mich, dass das einzige Exemplar schon vergeben war.“ Sie musterte mich milde interessiert. „Du liest Gray?“

      Ich zuckte die Achseln. „Er schreibt gute Gedichte.“

      „So ein Zufall. Ich liebe die Gedichte von Gray.“

      „Ach ja?“

      Sie nickte, überlegte kurz und sprach:

      „Worte, die im All verrauchen

      Verse in den Raum geführt

      Strophen, die durch Zeiten tauchen

      Ein Wort von mir, das dir gehört.“

      Es war eine Strophe des ersten Gedichtes in der Sammlung von Gray.

      „Ich habe nach genau diesem Buch gesucht“, fuhr sie fort.

      „Du kannst es haben“, sagte ich und hielt es ihr hin. „Ich wollte es gerade zurückbringen, aber die Frist endet …“ Der Rest des Satzes ging mir verloren. Die Worte fielen von dem sinnbildlichen Tablett, auf dem sie herangetragen wurden, und verteilten sich auf dem Boden. Schlagartig war mir klar geworden, dass ich Emily mochte. Sie faszinierte mich. Unvernünftig, kannte ich sie doch gerade mal seit wenigen Minuten. Aber mein Herz war noch nie für seine Vernunft bekannt gewesen.

      Emily sah mich erwartungsvoll an, während die Stille sich ausbreitete wie der endlose Ozean. Ich räusperte mich.

      „… endet erst am achtundzwanzigsten.“

      „Vielleicht komme ich besser morgen wieder und leih es mir dann selbst aus“, sagte Emily. Ein unterschwelliges Lachen begleitete ihre Worte. „Ich werde ohnehin lange Arme haben, wenn ich zu Hause bin.“

      „Ich gebe es dir im Austausch hierfür …“, schlug ich vor und hielt das Buch mit dem Titel Norvolkische Mythologie hoch.

      „Abgemacht …“ Emily bückte sich nach dem Bücherturm.

      „… und helfe dir, die Bücher heimzutragen, wenn du magst.“

      Wieder lächelte sie ihr kleines Lächeln, das mir bereits so vertraut erschien wie die Berge um Little Hill.

      Wir unterhielten uns ausgelassen auf dem Weg zu ihrer Wohnung; erzählten uns, welche Gedichte von Grey wir am liebsten mochten und zitierten seine Verse. Ich wusste nicht und weiß auch noch immer nicht, was ich mir von meiner neuen Freundschaft erhoffen darf. Aber eines ist klar: Ich habe ihr Buch: ein Versprechen, dass ich sie wiedersehen werde.

      W. D. Walker

       Im Verwunschenen Tal

      Der Mond schien im verwunschenen Tal. Grillen zirpten, und der Wind trug den Duft des ewigen Frühlings heran. Ein Duft wie nasses Laub, wie feuchte Erde und Vogelnester. Dichte Waldstücke, Weiden und Blumenwiesen beherrschten die hügelige Landschaft, durchzogen von glitzernden Bachläufen.

      Dies warein verborgener Ort. Ein Ort bar jeder Menschenseele.

      Nun, nicht ganz.

      Über eine Blumenwiese stakste eine hochgewachsene Gestalt. Obwohl der Marionettenmann gebeugt ging, war er immer noch ein Riese. Die Kleidung stand im Kontrast zu der bleichen Haut. Die Beine waren lang und spindeldürr. Seine Schritte wirbelten Wolken von Löwenzahnsamen auf. Die Samen umspülten ihn, formten Wirbel und Strömungen aus Mondlicht und legten sich um seine Schultern wie ein Mantel aus fließender Seide.

      Die dürre Gestalt erreichte einen Waldrand, und die nächtlichen Waldbewohner verstummten. Das Flüstern der Bäume erstarb. Der Marionettenmann richtete sich zu voller Größe auf und wandte den Kopf. Seine Glupschaugen verengten sich. Er blähte die Flügel der Hakennase und sog die Luft ein.

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