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Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke
Читать онлайн.Название Sonst brichst du dir das Herz
Год выпуска 0
isbn 9783401805702
Автор произведения Susanne Mischke
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
Adriana wiederholte ihre Frage.
»Ich treffe doch Gleichaltrige«, sagte Valeria und setzte hinzu: »Zweimal die Woche gebe ich bei uns im Dorf Nachhilfe in Französisch, Englisch und Mathe. Auch für Leute in meinem Alter. Abiturienten.«
Adriana vergaß, den Mund zu schließen.
»Glaubst du mir nicht?«, erkundigte sich Valeria. Dachte Adriana etwa, sie hätte eine geistig minderbemittelte Hinterwäldlerin vor sich, nur weil man ihr erst hatte beibringen müssen, wie man ein Handy bediente?
»Doch, doch. Ich meine nur …« Adrianas Gesichtsausdruck wurde ernst, als sie sagte. »Weißt du, Valeria, nicht jeder, der intelligent ist, findet sich auch im Leben gut zurecht. Dafür braucht es … Erfahrungen. Und ich frage mich, wie man so leben kann, so wie du und deine Mutter all die Jahre. Vielleicht findet sie das für sich gut, aber das kannst du doch auf die Dauer nicht wollen, oder?«
Valeria nickte, aber sie schwieg. Adriana hatte – absichtlich oder nicht – einen wunden Punkt getroffen. In den vergangenen Monaten hatte Valeria häufiger über ihr Leben nachgedacht, über ihre Zukunft. Ganz besonders, seit Mr Wilson sie immer wieder gedrängt hatte, das Abitur zu machen. Er würde sie im nächsten Frühjahr zu den Prüfungen anmelden, sie würde das locker schaffen, er habe da gar keine Bedenken. Man müsse das nur ihrer Mutter beibringen. Andererseits würde Valeria ja im nächsten Jahr achtzehn und damit volljährig. Mit dem Abitur in der Tasche könnte sie studieren, was sie wolle, hatte Mr Wilson versichert. Denn wozu hätte er sie sonst jahrelang unterrichtet? »Du bist sehr klug, dir stehen alle Türen offen.«
Aber genau darin lag das Problem. Valeria wusste nicht, was sie wollte, und das betraf nicht nur das Studienfach, sondern ihr ganzes Leben. Vielleicht hatte Adriana recht. Vielleicht musste sie wirklich mehr von der Welt sehen, um herauszufinden, was sie interessierte.
»Und was macht die Liebe?«
»Was?«, fragte Valeria, aus ihren Gedanken gerissen.
»Die Liebe«, wiederholte Adriana und knuffte Valeria in die Seite. »Los, raus mit der Sprache. Wer ist er, wie heißt er?«
Valeria sandte einen Blick in das Geäst der Platane, in deren Schatten sie sich niedergelassen hatten. Reichte es nicht, wenn sie Chiara Geschichten erzählte?
»Manchmal«, begann sie, »lassen Jäger bei uns ihre Autos stehen und gehen von da an zu Fuß auf die Pirsch. Hinterher sitzen sie dann auf der Bank, unter dem Maulbeerbaum, und trinken ein Glas Wein. Die letzten paar Mal hat einer von ihnen seinen Neffen mitgebracht. Er heißt Lorenzo und studiert in Mailand.«
»Und?«, fragte Adriana, offenbar nach einer kleinen Romanze lechzend.
»Nichts und«, sagte Valeria.
»Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist er hübsch? Bist du verliebt in ihn?«
»Ich weiß nicht. Er ist … ganz okay.« Valeria ärgerte sich über sich selbst und fragte sich, wieso sie überhaupt davon angefangen hatte. Um Adriana nicht zu enttäuschen? Zugegeben, sie hatte manchmal ein wenig Herzklopfen verspürt, wenn Lorenzo in seiner Jagdkluft aus dem Jeep gesprungen war. Aber müsste sich verliebt sein nicht anders anfühlen? Intensiver, deutlicher, ein Orkan der Gefühle? So, dass man nicht mehr schlafen, nicht mehr essen und an nichts anderes mehr denken konnte? Jedenfalls wurde es in den Büchern und Filmen immer so dargestellt. Valeria hatte aber nach wie vor prima geschlafen, einen gesunden Appetit an den Tag gelegt und nur ab und zu an Lorenzo gedacht.
Adriana seufzte, lehnte sich zurück und kreuzte ihre langen Beine mit den hochhackigen Sandaletten. Das Ganze höre sich ja nicht gerade nach einer alles verzehrenden Leidenschaft an, schlussfolgerte sie scharfsinnig. Aber Valeria sei ja noch so jung und habe alle Zeit der Welt.
Die nickte und hoffte, dass Adriana nun endlich zufrieden sein würde. Ihr Blick wanderte über die Sträucher und Rasenflächen des Parks. Wie sattgrün das Gras war, trotz der Hitze, die auch jetzt, in den ersten Septembertagen, noch immer über der Stadt hing wie ein feuchtwarmes Tuch. Die Clique junger Leute, die Valeria vorhin aufgefallen war, brach gerade auf. Einer der Jungs schüttelte die Decke aus, auf der sie gelegen hatten, und faltete sie zusammen, der andere sammelte die Eistüten ein und trug sie artig zum nächsten Papierkorb.
Adriana nahm jetzt ihre Diven-Sonnenbrille ab und schaute Valeria von der Seite an, mit einem Ausdruck, als hätte sich plötzlich etwas Entscheidendes an ihr verändert. »Hast du dich eigentlich je gefragt, wieso du Alessandro kein bisschen ähnlich siehst?«
Valeria, überrumpelt vom abrupten Themenwechsel, verneinte. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber Adriana war nicht die Person, mit der sie darüber reden wollte. Außerdem gab es im Moment Interessanteres: Die vier kamen den Weg entlang. Obwohl die zwei Jungs recht gut aussahen, hingen Valerias Augen wie gebannt an einem der Mädchen. Luisa, durchfuhr es sie wie ein Blitz.
Nein, sie träumte nicht. Das Mädchen sah wirklich aus wie Luisa, ihre Schattenschwester. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Haltung aufrecht, das Kinn hatte sie selbstbewusst nach vorn gereckt. Sie trug ein blau-weiß geringeltes T-Shirt, enge Jeans und flache Sneakers, an einem Schulterriemen hing eine große braune Ledertasche. Eine Studentin? Allerdings waren ja noch Ferien, fiel Valeria ein.
»Verzeih mir, Valeria, wenn ich so offen bin. Ich möchte dich natürlich nicht verletzen und eigentlich wäre das ja die Aufgabe von Alessandro. Aber du weißt ja, wie feige Männer in solchen Dingen sind ...«
Das Mädchen im Ringel-T-Shirt hatte die Sonnenbrille aufgesetzt und ging jetzt in Begleitung der anderen an Valeria vorbei. Sie schien Valeria nicht zu bemerken, obwohl diese nur wenige Meter von ihr entfernt auf der Bank saß. Unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, starrte sie der Erscheinung nach. Dabei versuchte sie, Adrianas Geschwätz neben sich auszublenden, während sie in Gedanken das Mädchen, das sich nun Meter für Meter von ihr entfernte, anflehte: Dreh dich um! Dreh dich bitte, bitte noch einmal um!
»… weiß nicht, warum dir deine Mutter dieses Märchen erzählt hat, da musst du sie selbst fragen …«
Die vier näherten sich der Stelle, an der der Weg einen Knick machte und hinter Büschen verschwand. Nur mit Mühe widerstand Valeria dem Drang, aufzustehen und ihnen nachzulaufen.
»… wollte vielleicht nur, dass du einen Vater hast, so wie andere Kinder auch …«
Ich sehe Gespenster, sagte sich Valeria. Wahrscheinlich sehne ich mich nur nach einer vertrauten Person, deshalb sehe ich in einer Wildfremden meine Schattenschwester Luisa.
Kurz vor der Wegbiegung angelangt, blieb das Mädchen unvermittelt stehen, wandte sich mit einer schnellen Bewegung um, nahm die Sonnenbrille ab und schaute Valeria direkt ins Gesicht. Für ein, zwei Sekunden begegneten sich ihre Blicke und die Welt schien den Atem anzuhalten. Valeria hörte weder das Kindergeschrei noch das Vogelgezwitscher oder das, was Adriana sagte. Dann hob das Mädchen lässig die Hand, winkte, lächelte und drehte sich mit einer kleinen, anmutigen Pirouette wieder um. Mit federnden Schritten, die kaum den Boden zu berühren schienen, folgte sie ihren Freunden, die schon weitergegangen waren.
»… und solltest den Tatsachen ins Auge sehen. Ich jedenfalls kann nicht so tun, als wärst du … Valeria? Wo willst du hin?«
Valeria war aufgestanden und schaute wie gebannt auf die Wegbiegung, hinter der Luisa – denn es war Luisa gewesen, da bestand nicht der leiseste Zweifel – verschwunden war.
»Lauf nicht weg, bitte«, drang Adrianas Stimme zu ihr durch. »Ich wollte dich nicht verletzen, aber jemand musste dir doch reinen Wein einschenken. Valeria?«
»Ist schon gut«, sagte Valeria und setzte sich wieder hin.