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auch Valeria viele Stunden davor verbracht, weil sie nicht gewusst hatte, was sie sonst mit sich anfangen sollte.

      Inzwischen hielt sie sich lieber in dem kleinen, schlauchförmigen Gästezimmer auf, in dem sie untergebracht war. Dies geschah hauptsächlich, um Adriana aus dem Weg zu gehen. Die Launen der Hausherrin waren unberechenbar: Mal war sie die Freundlichkeit in Person, aber schon im nächsten Augenblick konnte sie sich über irgendeine Kleinigkeit mordsmäßig aufregen, herumkreischen und mit den Türen knallen. Ihre Tochter, die sechsjährige Chiara, war in vielen Dingen eine Miniatur ihrer Mutter: ein altkluges, vorlautes Gör, das sich pausenlos mit ihrem Aussehen beschäftigte und die Posen der Stars aus dem Fernsehen vor dem Spiegel nachahmte. Betrat man ihr Zimmer, wurde man von einer rosaroten Flutwelle fortgerissen. Valeria kam dennoch gut mit ihr aus, denn sie verfügte über ein wirksames Druckmittel: Chiara liebte es, wenn Valeria ihr vorlas oder Geschichten erzählte, während sie selbst dabei einem pinkfarbenen Pony die Mähne kämmte. Um in diesen Genuss zu kommen, war sie bereit, gegenüber Valeria ihre Launen zu zügeln. Valeria wiederum lernte von Chiara, wie man sich die Nägel lackierte und wie man Fertiggerichte in der Mikrowelle zubereitete. Dann war da noch der dreijährige Moreno: ein zum Anbeißen süßer Wonneproppen mit großen blauen Augen und hellen Wuschellocken. Aber auch er konnte sich lautstark bemerkbar machen, ganz besonders, wenn er sich mit seiner Schwester in die Wolle kriegte. Und das kam mehrmals am Tag vor.

      An Valerias erstem Sonntag in Rom hatte Alessandro mit ihr eine Stadtrundfahrt in einem Touristenbus unternommen. Erwartungsgemäß war Valeria überwältigt gewesen vom Übermaß an Zeugnissen der Geschichte und von all dem Prunk in den Museen und Kirchen, allen voran natürlich dem Petersdom. Aber am meisten faszinierte sie die Stadt als solche: der Glanz der vielen Geschäfte, das Gewusel in den Straßen, das Meer von Häusern mit Abertausenden von Fenstern, und dahinter Menschen, so viele Menschen, die alle auf einem Fleck lebten. Natürlich hatte Valeria gewusst, dass Rom über drei Millionen Einwohner hatte, aber bisher war das für sie nur eine abstrakte Zahl gewesen. Mittendrin zu leben und ein Teil dieser Masse zu sein, war verstörend und faszinierend zugleich. Auch wenn es ihr schwerfiel, es zuzugeben: Ein bisschen begann Rom ihr tatsächlich zu gefallen.

      Seit der Stadtrundfahrt hatte sie Alessandro jedoch nur noch wenig zu Gesicht bekommen, so als hätten sich mit diesem gemeinsamen Ausflug seine Vaterpflichten erfüllt. Er schien viel zu arbeiten, verließ das Haus früh am Morgen und kam oft spät nach Hause. Dann fielen Adriana und Chiara plappernd über ihn her, während ihm deutlich anzusehen war, dass er eigentlich nur seine Ruhe wollte. Waren Valeria und ihr Vater doch einmal allein, hatten sie sich nicht viel zu sagen.

      »Habt ihr immer noch Hühner?«

      »Ja.«

      »Bringt meine Mutter noch immer ihre Forellen vorbei?«

      »Ja. Und Seife.«

      Valeria fragte sich, wie viel Alessandro wusste. Rosa würde ihm doch wohl kaum von dem Mann erzählt haben, den sie erschossen hatte. Aber was hatte sie ihm dann gesagt? Irgendeinen Grund für Valerias überstürzte Reise hierher musste sie ihm doch genannt haben. Sie wagte jedoch nicht, Alessandro danach zu fragen.

      Denn da war noch etwas anderes: Sosehr Valeria auch in sich hineinhorchte, sie verspürte keine innere Verbindung zu ihrem Vater und auch nicht zu Chiara oder Moreno, ihren Halbgeschwistern. Das machte sie traurig. Traurig und gleichzeitig wütend auf Rosa, die nach Valerias Meinung dafür verantwortlich war.

      Trotz der vielen neuen Eindrücke, die Rom für sie bereithielt, war Valerias Heimweh vom ersten Tag an stetig gewachsen, bis sie kurz davor gewesen war, ihre Mutter anzurufen, um sie anzuflehen, wieder nach Hause kommen zu dürfen. Doch ausgerechnet an diesem Abend war Alessandro früher als sonst von der Arbeit gekommen und hatte für Valeria ein Geschenk dabei: seinen alten Laptop, den er für sie hergerichtet hatte. Es ginge nicht an, hatte er gemeint, dass ein Teenager komplett hinterm Mond lebe.

      Seitdem war Valeria damit beschäftigt, das World Wide Web zu entdecken. Es war kein völliges Neuland. Sie und Mr Wilson hatten mit dessen Computer gelegentlich im Internet nach Ergänzungsmaterial für den Unterricht gesucht. Aber unter der Aufsicht ihres Lehrers war die Sache naturgemäß nicht allzu reizvoll gewesen und der gute Mr Wilson war selbst eher ein staunender Gast in der digitalen Welt. Doch Alessandros Bemerkung hatte etwas in ihr ausgelöst. Sie hatte beschlossen, den Aufenthalt in Rom als Chance zu betrachten, sich mit einigen grundlegenden Dingen des modernen Lebens vertraut zu machen. Vielleicht würden aus den »ein, zwei Monaten« ja noch mehrere werden. Dann müsste sie wohl oder übel ab dem Herbst hier zur Schule gehen. Eine geradezu ungeheuerliche Vorstellung. Aber immerhin vorstellbar. Zumindest nicht mehr ganz so beängstigend wie noch vor Wochen.

      Sogar Adriana hatte zwischenzeitlich die Vorteile von Valerias Aufenthalt zu schätzen gelernt, besonders, seit sie wieder angefangen hatte, halbtags in der Redaktion einer Zeitschrift zu arbeiten, deren Hauptanliegen es war, Klatsch über Prominente zu verbreiten. Denn Valeria ließ sich hervorragend als Haushaltshilfe und Babysitterin einsetzen: Mein Gott, du kannst tatsächlich Brot backen? – Ach bitte, lies doch den Kindern was vor, ich brauche nur eine Minute Ruhe! Gegenüber den Nachbarinnen hatte Adriana sogar behauptet, Valeria sei ein Au-pair-Mädchen. Es müsse ja nicht die ganze Welt von Alessandros früherem Fehltritt erfahren, hatte Adriana Valeria erklärt. Es mache ihr doch nichts aus?

      »Nein«, hatte Valeria geantwortet.

       Wem würde es schon etwas ausmachen, als Fehltritt bezeichnet zu werden?

      Normalerweise schickte Adriana Valeria mit den Kindern allein in den Park, denn sie verließ das Haus nur, um entweder zu arbeiten oder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem »Shoppen«. Daher fragte sich Valeria, warum sie heute mitgekommen war.

      Beide saßen angespannt auf der schattigen Bank und sahen Chiara beim Schaukeln zu. In ihrem weiten Kleid flog das Kind wie ein rosa Schmetterling vor und zurück. Moreno hockte derweil im Sandkasten und buddelte ein Loch.

      »Wie ist das eigentlich so, das Leben in den Bergen?«

      »Ruhig«, antwortete Valeria.

      »Ich meine, wie hält man das aus, immer in dieser Einsamkeit?«

      »Ich fand es nie einsam.«

      »War dir nicht furchtbar langweilig?«

      »Nein. Ich hatte entweder Unterricht oder ich musste im Gemüsegarten helfen, die Hühner füttern, Holz stapeln, Obst ernten und einkochen … Es gibt immer etwas zu tun.« Ich höre mich an wie Rosa, dachte Valeria und fügte hinzu: »Wenn es regnete, habe ich viel gelesen und außerdem war ich oft im Wald unterwegs.«

      »Unterwegs? Wo denn? Alessandro hat mir erzählt, dass da weit und breit nichts ist. Das nächste Dorf ist angeblich fünf Kilometer weit weg.«

      »Ja und?«, erwiderte Valeria. »Das läuft man doch in einer knappen Stunde.«

      »Du bist dorthin gewandert?«

      So, wie Adriana es sagte, hörte es sich an, als wäre es völlig abgedreht, fünf Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Für Adriana war es das wahrscheinlich auch. Valeria erklärte, sie sei oft und gerne in der Gegend herumspaziert, habe Pilze gesammelt – oder Beeren, Kräuter und wilden Spargel – oder sich einfach irgendwohin gesetzt, um ins Weite zu schauen und dabei die Gedanken schweifen zu lassen.

      »Du warst ganz allein in den Wäldern unterwegs?«, fragte Adriana mit ungläubigem Entsetzen. »Hast du wenigstens ein Handy dabeigehabt?«

      »Es gibt dort kein Netz.«

      Adriana riss nur stumm die Augen auf und schüttelte dann den Kopf.

      Jetzt besaß Valeria ein Handy. Alessandro hatte ihr sein altes Gerät überlassen. Falls sie mal verloren gehe, hatte er mit ernster Miene gemeint, als er ihr gezeigt hatte, wie es funktionierte.

      »Gab es wenigstens einen Fernseher?«, wollte Adriana wissen.

      Valeria nickte, verschwieg aber, dass der Empfang nur gut war, wenn das Wetter mitspielte. Man versäume dabei nicht viel, hatte Rosa stets betont.

      »Hast

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