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Allererstes«, sagt er und drückt mir das Messer in die Hand. »Ich habe dich gefragt, ob uns eine Gefahr droht.«

      »Aber hier ist niemand«, werfe ich ein. Es klingt halb verärgert, halb weinerlich. Ich will nicht weiterkämpfen und erst recht nicht fliehen.

      »Hier ist noch niemand«, sagt Kay und schiebt sein Kinn vor. »Du bist dir die ganze Zeit bewusst gewesen, dass sie nach wie vor angreifen können, vielleicht in wenigen Sekunden, vielleicht in einem Monat.« Kay spricht zwar leise, aber sein Ton ist geradezu schneidend. »Du wusstest, wie unsicher dein Zuhause ist, und trotzdem hast du mich hierher mitgenommen und dein Leben, mein Leben und das deiner Familie gefährdet.«

      Seine Worte sind wie Faustschläge in meinen Magen, aber ich begreife, dass ich jeden der Schläge verdient habe. Ich kämpfe aufsteigende Tränen nieder und beobachte Kay mit zusammengepressten Lippen dabei, wie er ein Seil durch die Schlaufen seiner Hose zieht.

      Er verknotet es und sieht mich mit durchdringendem Blick an. »Ich habe es todernst gemeint, als ich sagte, dass ich dich immer beschützen werde, aber du musst verdammt noch mal aufhören, uns in Gefahr zu bringen.«

      »Ich wollte doch nur, dass –«

      »Alison, ein Leben, in dem wir alle glücklich zusammen sind, existiert nicht.« Kay klemmt die Messer und den Hammer unter das Seil, greift nach der Axt und hält mir seine Markerhand hin. »Wir müssen hier verschwinden. Kannst du uns in eine Zeit bringen, in der du noch nicht warst?«

      Ich schlucke und sehe zur Tür. »Ich will es ihnen zumindest erklären. Meine Eltern müssen doch wissen, warum ich nie mehr … nie wieder …«

      »Kannst du es, Alison? Uns in eine Zeit bringen, die du nicht kennst?«

      »Nein.«

      Kay atmet schwer aus. »Dann sind wir an jedem anderen Ort genauso unsicher.«

      »Das stimmt. Wir können also genauso gut hierbleiben«, antworte ich glücklich, denn in diesem Augenblick höre ich Dads alten Pick-up den Waldweg hinaufrumpeln. Ich stürze aus dem Schuppen. Meine Beine fliegen förmlich über den Rasen, Dads Wagen entgegen. Ich sehe ihn schon. Er biegt eben um eine Kurve und steuert nun auf den Schotterparkplatz zu. Nur 100 Meter ist er entfernt. Höchstens. Und mit jedem Meter, den er näher kommt, ändern sich meine Gefühle. Da ist überschnappende Freude, Dad gleich in die Arme schließen zu können.

      Schotter spritzt hoch. Noch gut 70 Meter. Und plötzlich Angst, Dad könnte mich tot glauben.

      Bremsen. Das Auto steht. Ich sehe Dads Gesicht. Es ist genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Wettergegerbt, kantig und doch so fröhlich. Jetzt Hoffnung, ich könnte doch die richtige Zeit getroffen haben.

      Vielleicht noch 50 Meter und dann weiß ich es mit Bestimmtheit. Der Motor geht aus, die Tür öffnet sich. Und jähe Panik überfällt mich, einen Fehler zu machen.

      Gott verflucht! Der Störsender. Kay! Ich bremse ab, blicke dabei hinter mich, verliere das Gleichgewicht und schlage auf den Rasen. Kurz verschwimmt alles grün, dann sehe ich eine Wurzel und schiele hoch. Kleine grüne Äpfel hängen in der Baumkrone. Sie sind noch nicht ganz reif. Es muss August sein, vielleicht September.

      Die Wagentür schlägt zu.

      »Alison?« Dads Stimme.

      »Alison!« Kays Stimme. Er geht mit schnellen Schritten in meine Richtung.

      Ich setze mich auf und reibe mir die Handballen. Gras klebt daran.

      Schon ist Kay bei mir und streckt mir die Hand entgegen. »Alles in Ordnung?«

      »Ich glaube, ja.« Ich sehe zu Dad. Er geht auf mich zu, aber seine Schritte werden langsamer, je näher er kommt.

      »100 Meter, verflucht«, zischt Kay und zieht mich hoch.

      »Es tut mir leid«, murmle ich und sehe in Dads Gesicht. Er wirkt weder erleichtert noch erfreut. Er sieht einfach nur aus, als würde er einen Geist sehen. Sein Mund steht offen, seine Augen sind weit aufgerissen.

      Mein Gott! Er muss wirklich geglaubt haben, ich sei tot.

      »Daddy.« Mehr bringe ich nicht heraus, doch Sekunden später klammere ich mich um seinen Hals. »Ich kann dir alles erklären. Ich … Ich … Du …« Mir fehlen plötzlich die Worte. Ich empfinde nur ungeheures Mitleid. Wie lange haben mich meine Eltern für tot gehalten?

      Dad legt seine Hand auf meine Schulter und schiebt mich von sich.

      »Welches Jahr haben wir?«, frage ich ihn. Ich muss es wissen.

      »Was?«

      »Welches Jahr? 2015, 2016? Dad, bitte, ich erkläre dir alles. Aber welches Datum ist heute?«

      »Was ist denn bloß mit dir passiert?«, fragt Dad statt einer Antwort.

      In diesem Augenblick überkommt mich ein ungutes Gefühl. Wieso freut sich mein Vater nicht, mich lebendig zu sehen? Oder habe ich genau den Moment getroffen, in dem ich diese Zeit verlassen habe? Den 31. August 2015? Und Dad versteht bloß nicht, wieso ich derart zerschunden aussehe, da für ihn nur wenige Stunden vergangen sind, seit er mich am Morgen zuletzt gesund und munter gesehen hat.

      Dad weicht einen Schritt zurück und schüttelt den Kopf, als wolle er nicht wahrhaben, wer vor ihm steht. »Wer bist du? Wer ist er? Wieso hat er mein Werkzeug?«

      Werkzeug? Das ist alles, was meinen Vater interessiert?

      Kay legt den Arm um mich. »Mr Hill. Sie sollten ihrer Tochter zuhören.«

      »Das ist nicht meine Tochter«, sagt Dad kalt und kneift die Augen zusammen.

      Er muss mich wirklich tot geglaubt haben.

      Ich sehe zu Kay hoch, flüstere »Schon gut« und berühre Dad mit ausgestrecktem Arm. »Bitte, Dad. Ich bin es. Ich lebe. Es ist so viel passiert. Ich kann ni–«

      »Aaal-iii-sooon!«, brüllt mein Vater, noch bevor ich meinen Satz beenden kann.

      Über mir fliegt ein Fenster auf. Ruckartig lege ich meinen Kopf in den Nacken.

      »Was ist denn los?«, ruft eine helle Stimme zurück.

      Noch bevor ich sie sehe, ahne ich, was los ist, und mein Herz setzt aus.

      Sie beugt sich weit aus dem Fenster, um zu uns herunterzublicken. Ihre schwarzen Haare sind lang, sehr lang und seidig und fallen ihr ins Gesicht. Sie schiebt sie zur Seite, zieht mit den Zähnen ein Band von ihrem Handgelenk und schlingt es um ihre Haare.

      »Alles in Ordnung, meine Kleine?«, fragt Dad.

      Sie nickt und der lockere Knoten löst sich wieder.

      »Haben wir Be–«

      Jetzt sehen wir uns direkt in die Augen. Ihre sind groß und wach, in meinen schwimmen Tränen.

      Dies ist nicht mein Zuhause, sondern ihres! Ich habe die falsche Realität erwischt.

      »Kennst du diese Leute?«, höre ich Dad fragen und fühle mich plötzlich wie in Trance. Meine Knie werden weich. Ich spüre, wie ich wegsacke. Kay greift mich unter den Armen und zieht mich mit sich. Ich stolpere willenlos hinter ihm her.

      »Hey! Mein Werkzeug!« Dads Stimme ist weit entfernt, aber lange nicht so weit wie mein Zuhause. »Alison! Ruf die Polizei!«

      Die Polizei, die Ports … Deswegen war niemand hier. Denn von dieser Alison geht keine Gefahr aus. Sie darf ein ganz normales Leben führen. Meine Bitterkeit darüber ist so groß, dass ich sie sogar im Mund schmecke. Alles darin zieht sich zusammen, und als wir in den Wald eintauchen, kotze ich mir die Seele aus dem Leib. So lange, bis ich meine, mein Inneres hätte sich nach außen gestülpt.

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