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Die gestohlene Stadt. Jürgen Matz/ Sarah Rubal
Читать онлайн.Название Die gestohlene Stadt
Год выпуска 0
isbn 9783749732760
Автор произведения Jürgen Matz/ Sarah Rubal
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Gerta, die in ihrem nach der neuesten Mode an den Hüften besonders eng geschnittenem Kleid Schwierigkeiten hatte, aus dem Wagen zu steigen, den sie zu ihrer Hochzeit von Wilhelms Vater Heinrich erhalten hatten, folgte Wilhelm und Wolfgang nach drinnen.
Wilhelm setzte seinen einjährigen Sohn ab und schritt in das schattige Treppenhaus, dessen Boden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Es roch nach frischem Bohnerwachs. Er griff das gewundene Treppengeländer aus dunklem Holz und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Stufen hinauf in die großzügige Beamtenwohnung im zweiten Stock.
Die weißen Flügeltüren standen offen, am Eingang erwartete sie, in Schürze und Haube, die Hausangestellte Martha, die ihnen, wie die Wohnung, von der Stadt Uerdingen gestellt wurde. Als sie Wilhelm Warsch, den groß gewachsenen und gut aussehenden Mann mit der hervorstechenden Nase und den wachen Augen, sah, machte sie einen Knicks, doch der designierte Bürgermeister Uerdingens ergriff fröhlich ihre Hand und drückte sie.
»Herrlich, Gerta, schau doch nur, die großen Fenster, weit hinten kann man die Buss-Mühle ohne Flügel und die Häuser im Westbezirk an der Lindenstraße erkennen.«
Gerta, die am Fuße der Treppe stand, raffte ihre Röcke und folgte ihrem Mann lächelnd nach oben. Es war eben jener Überschwang, den sie an ihrem Mann so liebte. Er war Beamter, wie schon sein Vater, und hatte es in seiner Geburtsstadt Viersen in der Stadtverwaltung weit gebracht; zuletzt war er in München-Gladbach Stadtdirektor und Leiter des Wohnungsamtes gewesen.
Es war erst wenige Monate her, dass sich ihr Mann der Zentrumspartei angeschlossen und sich entschieden hatte, im 30 km weit gelegenen Uerdingen für das vakante Amt des Bürgermeisters zu kandidieren, keine leichte Aufgabe für einen Stadtfremden. Wochenlang hatte Wilhelm an seinem Programm gefeilt und es immer wieder verbessert.
Der große Krieg war nun sieben Jahre vorbei und damit auch die Monarchie, doch noch immer gab es viele, die sich nicht an die neuen demokratischen Verhältnisse gewöhnt hatten.
Für die Menschen im Rheinland war es auch nach dem Ende des großen Krieges nicht wirklich ruhiger geworden. 1922 war Deutschland mit den drastisch hohen Entschädigungszahlungen an Frankreich, den sogenannten Reparationskosten, in Rückstand geraten. Daraufhin hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, da sich dort das Zentrum der wertvollen deutschen Rüstungsindustrie befand. Reichspräsident Stresemann hatte zum »passiven Widerstand« aufgerufen, der den deutschen Staat so viel Geld gekostet hatte, dass man nun mit der Inflation kämpfte. In wenigen Monaten, im Januar 1926 würden die letzten belgischen Besatzungstruppen vom linken Niederrhein abgezogen.
Nun standen alle Zeichen auf Wiederaufbau und Fortschritt. So auch in Uerdingen, in der alten Rheinstadt hatte Politik Tradition und man hatte Warschs fortschrittliches Programm, das einen Ausbau der rheinabhängigen Industrie vorsah sowie die rasche Eingemeindung einiger benachbarter Gemeinden wie etwa dem Dorf Hohenbudberg, mit Wohlwollen aufgenommen und ihn vor einer Woche mit nicht einmal 30 Lebensjahren zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gemacht.
Gerta betrat die Wohnung, deren sechs Zimmer durch einen langen Flur miteinander verbunden waren. Sofort bemerkte sie, wie angenehm das Licht durch die hohen, doppelt verglasten Fenster einfiel, außerdem die großzügig geschnittenen Kamine in den Wohnräumen. Von besonderer Bedeutung war das elektrische Licht, das in allen Zimmern verfügbar war.
Noch waren die Zimmer beinahe leer. Aus ihrer im Vergleich dazu kleinen Wohnung aus München-Gladbach hatten sie nur wenige Stücke mitnehmen können.
»Wir richten uns ganz neu ein«, hatte Wilhelm gesagt und Gerta war einverstanden gewesen.
»Das hier wird dein Zimmer sein«, sagte Wilhelm gerade und zeigte seinem Sohn ein ganz am Ende des Zimmers gelegenes quadratisches Zimmer mit hellblau gestrichenen Wänden, in dem sich bereits einige Spielzeuge von Wolfgang befanden.
Der kleine Junge klatschte in die Hände und stieß einige Freudenlaute aus. Wilhelm wirbelte mit ihm auf dem Arm herum und lief den Flur zurück zu Gerta, der er übermütig einen Kuss auf die Wange drückte.
»Hier werden wir sehr glücklich werden, liebste Gerta, ich kann es spüren. Und wie viele Zimmer wir haben! Das ruft doch geradezu nach einem ganzen Stall von Kindern, was meinst du?«
Gerta errötete ein wenig und senkte den Blick, doch ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Nun, wo Wilhelm sein politisches Ziel vorerst erreicht hatte, konnte man darüber nachdenken. Gerta streifte ihren Hut und die Handschuhe ab und hing ihren Mantel an die Garderobe, bevor sie Martha begrüßte.
»Martha, wollen Sie mir die Küche zeigen? Ich denke, es gibt einiges, das ich zu lernen habe. Mein Mann gibt schon in zwei Tagen einen Empfang für einige Stadtverordnete und ich habe noch keine Ahnung, was wir auftischen sollen.«
Martha wiederholte ihren Knicks und wandte sich dann nach rechts, wo sich die große Küche mit dem modernen Gasherd befand.
Wilhelm, der in den vergangenen Wochen anlässlich der Stadtverordnetenversammlungen immer wieder in Uerdingen gewesen war, setzte den kleinen Wolfgang bei seiner Mutter ab.
»Ich werde einen kleinen Spaziergang machen. Die Sonne da draußen ist so herrlich und es kann nicht schaden, den einen oder anderen Bürger gleich persönlich zu begrüßen.«
Beim Blick in den Spiegel korrigierte er den Sitz seines Hutes und des Anzuges, dann war er schon hinaus auf die staubige Augustastraße, auf der nur selten einmal ein Fahrzeug entlang fuhr.
So manchen seiner Nachbarn hatte er schon kennen gelernt, wie den Herrn Direktor Robert Seyfarth aus Haus Nr. 22, der glühender Schwimmer beim ASC Duisburg war und sofern er Zeit hatte, zum Barbarasee nach Wedau fuhr. Der Katasterangestellte Schmidt, aus Haus Nr.15 hatte sich ihm recht früh bekannt gemacht, da Wilhelm ja nun sein Amtsvorgesetzter war. Im gleichen Haus, der Studienrat Schönigh. Besonders wichtig war ihm aber seine eher zufällige Bekanntschaft mit dem Uerdinger Armenwart, Josef Herding im Haus Nr. 28, konnte dieser ihm doch aus erster Hand über Armut und das Armenwesen in der Stadt Uerdingen berichten.
Die Augustastraße kreuzte die breit gebaute Krefelder Straße und genau dieser folgte Wilhelm an diesem heißen Spätsommertag um die Mittagsstunde.
Wer genau hinsah – und hinhörte – konnte verfolgen, wie er hin und wieder in fast tänzerischer Leichtigkeit den einen oder anderen Hüpfer beim Gehen einbaute und dabei ein Lied pfiff.
Die Krefelder Straße, die ihren Namen erhalten hatte, weil sie nach Krefeld führt, jenem ungeliebten Nachbarort, der in einer rasenden Entwicklung des letzten Jahrhunderts durch seine Samt- und Seidenproduktion zur Großstadt und 1890 sogar zur reichsten Stadt des Kaiserreiches erklärt wurde.
Krefeld fand daher in mittelalterlichen Aufzeichnungen nur wenig Erwähnung, Uerdingen hingegen, mit seiner langen Rheinfront, den Handwerksgilden, dem blühenden Handel und seinen Traditionen, wurde bereits 1255 von dem Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden zur Stadt erhoben. Jenem Erzbischof, der 1248 den Grundstein zum Kölner Dom legte. Grund genug, um auf das inzwischen weit größere Krefeld herabzublicken und es in zahlreichen Spottreden, vor allem während des Karnevals, dem Oeding‘sche Fastelovend zu verhöhnen. All das hatte Wilhelm bereits aus Gesprächen mit den Einheimischen erfahren. Die Feindschaft mit Krefeld gehörte zum Uerdinger Lokalkolorit, soviel stand fest.
Krieewelsche Wengkbühel nannte man die Nachbarn und rühmte sich zugleich der zahlreichen Verdienste und Besonderheiten Uerdingens. Dennoch hatte Uerdingen ein geografisch bedingtes Problem: Im Osten durch den Rhein begrenzt, im Norden durch die wachsenden Industriegebiete und die große Landgemeinde Rheinhausen, im Westen und Süden durch die vielen benachbarten Ortschaften, allen voran Krefeld, gab es für die Stadt Uerdingen kaum noch Möglichkeiten, zu wachsen und sich weiter auszudehnen. Im Stadtkern waren die Straßen historisch bedingt, so schmal, dass hin und wieder die Automobile gar nicht hindurch kamen. Daran änderte auch der Abriss des letzten beengenden Stadttores 1877 nichts. Wollte Uerdingen nicht abgehängt werden, hieß es wachsen und dafür war Warsch durchaus bereit, auch ungewöhnliche Wege