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70 Tage Pandemie. Hendrike Piper
Читать онлайн.Название 70 Tage Pandemie
Год выпуска 0
isbn 9783347097148
Автор произведения Hendrike Piper
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Ich finde, das kann überhaupt nicht sein! Also mein Appell: liebes Deutschland, liebes Land der Dichter und DENKER, versuche es doch dieser Tage, nein, am besten, jetzt heute und sofort, statt mit Emotionen wieder mit dem Verstand zu denken. Liebe Mitbürger, bildet Euch (wieder) eine Meinung, am besten jede/r eine eigene!
Und sollte sich nach breiter ergebnisoffener gesellschaftlicher Diskussion (und damit meine ich NICHT diejenige zwischen Herrn Frosten, Frau Kermel und Konsorten) ein Konsens dafür finden, dass die vermutliche Rettung einer unklaren Zahl von Menschenleben in diesem Lande die mehrmonatige Einschränkung unserer grundlegenden Bürgerrechte rechtfertigt (denn diese Zeiträume finden sich in o.a. Quelle – erstaunlicherweise bislang gegenüber der Bevölkerung unkommuniziert!) – dann sei es so! Aber doch bitte bitte nicht ohne Diskussion!
Eine von denen, für die Ihr allabendlich klatscht.
Tag 17
Ach ja, das Klatschen. Eine der vielen neuen Gewohnheiten, die wie das Straßenseitenwechseln bei drohendem Menschenkontakt, das zigfache Händewaschen bzw. je nach Grad der Panik auch Desinfizieren derselben und das mehrfach tägliche Konsultieren der RKI-Homepage (wo sich über einen Tag übrigens mal so grad gar nichts ändert) Teil unseres Alltags geworden sind. Jeden Abend um 20: 00 finden sich mal weniger, mal mehr (derzeit eher mehr, Wetter ist ja auch weiterhin gut) Gutmenschen auf ihren Balkonen, um dem aufopferungsvollem Einsatz der vielen Krankenpflegerinnen und Ärztinnen weltweit Applaus zu schenken. Komisch, dass deren Arbeitsbedingungen die letzten (mal überlegen…) Monate, nee, Jahre, eher Jahrzehnte keine Socke interessiert hat. Aber jetzt, wo man eh nichts zu tun hat, kann man sich echt gut dabei fühlen zu denen zu gehören, die jetzt mal Respekt zollen. Und dabei im Übrigen auch noch im Sinne der allgemeinen Solidarität kontrollieren, ob Nachbars selbiges schön auch tun. Denn wehe, wenn nicht….
Ein kleines über WhatsUpp kursierendes Witzchen hierzu:
16: 00 Gemeinsam zu Hause bleiben – Regenbogen basteln aufm Balkon
18: 00 „Freude schöner Götterfunken“ spielen gegen die Rocona-Angst
20: 00 Klatschen für die Ärzte und das Pflegepersonal aufm Balkon
21: 00 Gedenkkerze anzünden für die Rocona-Toten
23: 00 Masturbieren für die arbeitslosen Prostituierten aufm Balkon
Ich wusste gar nicht, dass Quarantäne so anstrengend sein kann!
Ansonsten: Home Schooling sucks5. Die offensichtlich ohne die lieben Kleinen völlig hohl drehenden Lehrer überschütten uns durchdrehende (weil wir eigentlich arbeiten müssten!) Eltern in sicherlich guter Absicht (so viel will ich ihnen mal zu Gute halten) mit Emails voller lustiger Ideen und Aufträge, was unsere Kinder denn so tun könnten. Das geht vom normalen, „nur“ täglich auszudruckenden Unterrichtsmaterial über „So viel Sportspaß haben wir mit einem Handtuch“ - Videos und Erklärclips zu Primzahlen bis hin zu vorgeschlagenen Experimenten, die selbst die hochbegabtesten Erst- bis Sechstklässler sicher nicht alleine zu Stande bekämen. Wir sind dazu übergegangen, den nicht verpflichtenden Anteil dieser Gemengelage zu ignorieren, da wir schon am Umfang des obligatorischen Materials verzweifeln. Denn leider ist es nicht so, dass die Kinder, wenn das dann alles mal ausgedruckt ist, ihre Vormittagsschulstundeneinheit brav damit verbringen, die abzuarbeiten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es a. Streit, b. Bitten um Hilfe/Erklärungen, c. Hunger oder alles zusammen. Es hat ja nun auch seinen Grund, dass Lehrer ein Beruf ist und in jeder Klasse einer steht – auch wenn vermeintlich „still“ gearbeitet wird.
5 sucks [sʌks] = Amerikanisch umgangssprachlich für: Ist scheiße, nervt
Tag 18
Heute lese ich in der Zeitung (wieso ich mich mit dieser gleichgeschalteten Schundlektüre jeden Tag selbst kasteie, weiß ich eigentlich auch nicht. Vermutlich liegt es einfach daran, dass hier sonst nichts passiert: Draußen ist tote Hose, die Straßen meist menschenleer, treffen darf man ja eh keinen und wenn man telefoniert, hat man sich nichts zu erzählen, weil keiner etwas erlebt. Und die sich in den Straßen aufhäufenden Leichen sind auch weiterhin ausgeblieben, nicht mal einen kleinen Husten gibt’s…), jedenfalls lese ich in der Zeitung, dass unser schönes Ausflugslokal vom letzten Wochenende auf Grund des Hinweises eines aufmerksamen Lesers vom Ordnungsamt geschlossen wurde. PETZE! Wie kann man nur? Auf Seite 3 erfahre ich dann, wieso diese und ähnliche Verhaltensweisen keine Denunziation sind. Und zwar beinhalte der Begriff der Denunziation das Zugrundeliegen „niederer Motive“. Da die braven Mitbürger, die meine Schwägerin und das Ausflugslokal verpfiffen haben, aber selbstverständlich aus rechtschaffender Wohlanständigkeit gehandelt haben, ist die Verwendung solcher Begriffe natürlich völlig überzogen. Ich erinnere mich, dass es vor 85 Jahren schon einmal ein Volk voller rechtschaffender Bürger gab – und mir wird ziemlich schlecht.
Wenige Seiten später trifft die moralinsaure Empörung der tugendhaften Bürger bereits ihr nächstes Ziel: Den Sündenpfuhl der feiernden Skifahrer in Uschpl. Für diesen bekannten Skiort sehr ungünstigerweise ließen sich einige Infektionen hierzulande (vor allem hier im Süden) auf dort zurückzuführen. Natürlich ist sich unsere hochgeschätzte Tageszeitung nicht zu schade, angesichts dieses Skandals 1. ein „Ballermann im Schnee“-ähnliches „Party und Sauf – Bild“ aus den Archiven zu holen, abzudrucken und 2. es dann noch mit „Schlimme Bilder aus Uschpl“ zu untertiteln. Wie praktisch, dass es mit den feiernden Skifahrern direkt zwei beneidete und daher suspekte Gruppen in Personalunion trifft: Menschen, die sich zum einen so einen Urlaub leisten können (oder es einfach tun!) - während wir hier vernünftigerweise unsere Raten fürs Eigenheim abstottern und uns solche Extravaganzen nicht gönnen, wo kämen wir denn da hin?! Und zum anderen feiern die auch noch in ausgelassener und völlig unbeherrschter Weise, was sich das brave Bürgerlein ja nicht trauen kann, weil es viel zu peinlich ist. Und überhaupt, was sollen die Nachbarn denken? Ja, wie praktisch, dass Rocona und die Meinungsmache der hiesigen Zeitung einem jetzt mal so einen richtig guten und richtig richtigen Grund gibt, über diese Menschen vom Leder zu ziehen!
Mal ehrlich: soll ich mir diesen schlechten Trip wirklich noch 52 Tage lang geben?
Tag 19
Die Leute scheinen irgendwie alle massig Zeit zu haben. Und niemanden (oder einer Minderheit) scheint es einzufallen sich einfach mal vom entschleunigten (nächster Unwort-Favorit!!!) Alltag zu entspannen: Nachdem nach 3 Tagen Home Office und schulfrei die Recyclinghöfe erst überquollen und dann schließen mussten, scheint nun in den Haushalten Platz für neues zu sein. Und da die Baumärkte praktischerweise offen haben (systemrelevant und so) und, wie ich mir habe berichten lassen, echt voll zu sein scheinen, gibt es nun einen neuen Self-made6-Möbel-Trend: die Palettenmöbel. Überall über WhatsUpp werden die selbstgezimmerten buntbemalten Sofas, Stühle und Betten stolz gezeigt. Selbstkritisch frage ich mich, ob die Ursache meines inneren höchst ätzenden Spotts für diese neue Unsitte in Wirklichkeit Neid sein mag – Neid auf das Handwerksgeschick meiner Freunde und Bekannten, auf deren freie Zeit, Muße, Kooperativität in der Familie beim Zusammenbau.?! Und komme zum Ergebnis: nö, eigentlich nicht, diese ABM-Maßnahmen sind im Zeitalter von IKEA und anderen Zusammensteckmöbelhäusern wirklich völlig sinnbefreit und lenken von den eigentlichen Problemen ab. Sorry, liebe Freunde, aber ist halt so.
6 Self-made = Englisch für: Eigenbau, selbstgemacht
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