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ziemlich konkret den Grundriss eines kleinen Gebäudes wiedererkennt. Genauso verfuhr man bei j mit der Hieroglyphe für »Arm, Hand« und dem semitischen Wort jod, bei m mit dem Zeichen für »Wasser« und dem Wort mêm und bei r mit dem Zeichen für »Kopf« und dem Wort rôsch.

      © Hoffmann und Campe Verlag nach https://de.wikipedia.org/wiki/Protasinaitische_Schrift; Buchstabennamen nach Ludwig D. Morenz: Ägypten und die Geburt der Alphabetschrift, Rahden 2016, S. 36

      Sowohl in der protosinaitischen Schrift als auch in ihrem ägyptischen Vorbild gibt es noch keine Vokalzeichen. Möglicherweise war die Ursache dafür, dass die Buchstaben den ersten Laut des durch sie angedeuteten Wortes verkörperten – Wissenschaftler sprechen vom akrophonischen Prinzip –, denn alle ägyptischen und semitischen Wörter beginnen mit einem Konsonanten. Eine spätere Einführung von Vokalzeichen erübrigte sich, denn semitische Sprachen lassen sich ohne Selbstlaute gut verschriftlichen: Die Wortwurzeln des Phönizischen, des Althebräischen und des Arabischen bestehen überwiegend aus drei Konsonanten, den sogenannten Radikalen. Manchmal ergaben sich dennoch Zweideutigkeiten. Dafür führte man erst relativ spät, im 1. Jahrtausend v. Chr., Sonderzeichen ein, um Vokale anzudeuten.

      Von Anfang an wurden die neuen Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge geordnet und auswendig gelernt. In dieser frühen Zeit konkurrierte – wie bereits im ersten Kapitel angedeutet – die Abgad-Reihung, die mit aleph und bet beginnt, mit einer anderen Reihenfolge, an deren Beginn die Buchstaben h l ḥ m – gesprochen ha-la-ḥa-ma – stehen. Dieses Prinzip setzte sich später im südsemitischen Raum, also in Südarabien und Äthiopien durch.

      Der Epigraphiker Aaron Demsky hegt die Theorie, dass die frühen Abecedarien mit Hilfe von Liedern als Gedächtnisstütze auswendig gelernt wurden. Um das Einprägen der Buchstaben zu erleichtern, seien diese darüber hinaus nach fünf Sachgruppen geordnet gewesen: »Haus und Hof« – aleph bis waw; »Feld« – zayin und chet; »Hand« – jod bis lamed; »Wasser« – mem und nahasch; »Teile des Kopfes« – ayin bis taw.

      Das Uralphabet von Serabit el-Chadim hatte 22 Zeichen. Die semitischen Abecedarien aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., die man in Ugarit und Bet Schemesch bei Jerusalem gefunden hat, verfügten noch über acht zusätzliche Zeichen. Bei späteren semitischen Alphabeten waren es wieder 22 Buchstaben – allerdings fehlen in der phönizischen Schrift zwei Zeichen aus der protosinaitischen Schrift (oder bildhaft-kanaanäischen Schrift, wie sie auch genannt wird), die die rekonstruierten Namen schawt und harma trugen. Dafür kamen in Phönizien noch tet und samech dazu.

      Den qualifizierten ägyptischen Schreibern, Fortführer einer damals schon 1500 Jahre alten hochkulturellen Tradition, muss das Alphabet wie ein restringiertes Instrumentarium von Pidgin-Hieroglyphen vorgekommen sein. Pidgin nennt man in der Sprachwissenschaft stark vereinfachte Varianten einer Sprache, wie sie etwa in Kolonien, auf Schiffen oder auf internationalen Baustellen zwischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern, die unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen, genutzt werden. Die Schreiber, die selbst tausende von Zeichen beherrschten, sahen auf die revolutionärste Neuerung der Schriftgeschichte herab wie heute Bildungsbürger auf das Kiezdeutsch von Migranten.

      Die Erfindung des Alphabets kam allerdings weniger gebildeten nichtägyptischen Muttersprachlern, die relativ schlichte Tätigkeiten ausübten, entgegen. Die Inschriften in Serabit el-Chadim sind teilweise in einer so rohen und unbeholfenen Art verfasst, dass man glaubte, daraus folgern zu können, ihre Verfasser seien Analphabeten gewesen, die außer diesen kurzen religiösen Formeln, mit denen sie sich möglicherweise Fundglück erbaten, nichts schreiben konnten.

      Die israelische Ägyptologin Orly Goldwasser geht sogar so weit zu sagen, dass die Erfinder des semitischen Alphabets vermutlich noch nicht einmal Ägyptisch konnten und dass gerade diese Unwissenheit es ihnen ermöglichte, den entscheidenden Sprung zu einer reinen Alphabetschrift zu wagen. Die systematischen Unterschiede zwischen dem System, das die Ägypter zur Schreibung von Lauten entwickelt hatten, und dem protosinaitischen Alphabet hält Goldwasser für so gravierend, dass unmöglich das eine vom anderen abstammen könnte. Diese These von der unüberbrückbaren Differenz der zwei Systeme unterstützte auch der französische Ägyptologe Pascal Vernus auf einer Konferenz in Jerusalem im Jahre 2013, auf der die neuesten Thesen zur Frühgeschichte des Alphabets debattiert wurden.

      Dazu passt auch die Feststellung von Ludwig D. Morenz bei seinen Forschungen in Serabit el-Chadim, dass es in zwei der Türkisminen nur protosinaitische Inschriften gibt und keine ägyptischen. Man könne eine erstaunlich hohe Literalitätsrate der Türkisbergleute in der von ihnen geschaffenen Schrift annehmen. An deren Entwicklung sei im Umkreis des Hochplateaus ein bemerkenswert breiter Personenkreis beteiligt gewesen.

      Im Gegensatz zu Morenz und Goldwasser trauten früher viele Wissenschaftler den vermeintlichen Hinterwäldlern in den Steinbrüchen von Serabit el-Chadim die Erfindung des Alphabets nicht zu. Deshalb gelangte man im 20. Jahrhundert trotz der frühen Entdeckung der Sinai-Inschriften zur Annahme, die neue Buchstabenschrift wäre möglicherweise in Ugarit erfunden worden. Ugarit wurde erst 1928 entdeckt und ab 1929 von französischen Archäologen ausgegraben. Man stieß dort, in der Nähe des heutigen Ortes Ras Schamra in Nordsyrien, auf etwa 1500 Tafeln, die in einer Keilschriftvariante des Alphabets geschrieben sind. Weitere 500 solcher Tafeln fand man in der weiteren Umgebung von Ugarit. Es handelt sich erkennbar um Buchstaben, die nach den Abgad- und Ha-la-ḥa-ma-Systemen anderer semitischer Schriften geordnet sind. Aber sie sind nicht linear geschrieben, sondern mit eckig wirkenden geraden Strichen – den Keilen, nach denen die in Mesopotamien von den Sumerern entwickelte Keilschrift benannt ist. Diese entstand etwa zeitgleich mit den ägyptischen Hieroglyphen vor 5000 Jahren und ist eine der beiden ältesten Schriften der Welt. Sie ist aber nicht alphabetisch, sondern ihre etwa 600 Zeichen stehen für Silben und Wörter.

      Offenbar leuchtete den Ugaritern der Vorteil des aus den Hieroglyphen entwickelten Alphabets ein. Ihr Stadtstaat war der erste, der die bereits viele Jahrhunderte außerhalb Ägyptens gebräuchliche Buchstabenschrift offiziell verwendete. Aber sie selbst gehörten eher dem mesopotamischen Kulturkreis an; hier wurde etwa ein Jahrtausend vor der Einführung des Alphabets die echte Keilschrift benutzt. In einem Akt kultureller Mischung, der dem vergleichbar ist, was in der Frühzeit des Alphabets im ägyptisch-sinaischen Raum geschah, schrieben die Ugariter die neuen Buchstaben als Keilschrift – das heißt, sie malten oder gravierten sie nicht, sondern ritzten sie mit einem Stichel in noch ungebrannte Tontafeln ein. Da die Ugariter wie die großen Kulturen des Zweistromlands auf Ton schrieben, waren die staatlichen Schreiber von der mesopotamischen Keilschrift her daran gewöhnt. Zudem lassen sich Keile auch leichter in Ton ritzen als lineare Zeichen. Und deswegen haben ihre Texte überlebt, im Gegensatz zu den vielen protosinaitischen Texten im ägyptischen Kulturkreis, die es gewiss gab, die aber auf vergänglichem Papyrus geschrieben wurden.

      Nachdem der Deutsche Hans Bauer 1932 seine Entzifferung der ugaritischen Schrift vorgestellt hatte, neigte man 70 Jahre lang dazu, die Stadt für den Geburtsort des Alphabets zu halten. Eine entwickelte bronzezeitliche Metropole mit einer eigenen qualifizierten Schreiberelite hielt man für einen würdigeren Ort für eine so epochale Erfindung als elende Steinbrüche voller Arbeiter. Man dachte, diese Kanaaniter, die über das Meer mit Ägypten Kontakt hatten und durch Karawanen mit Mesopotamien verbunden waren, hätten die Idee der Schrift von diesen beiden Urkulturen empfangen und dann etwas erfunden, das ihren Bedürfnissen angepasst war: eine Alphabetschrift, die teilweise vage inspiriert von ägyptischen Hieroglyphen war, aber Technik und Form von der Keilschrift übernahm. Die protosinaitischen Schriften interpretierte man nun als dem rauen Steinbrucharbeitermilieu angepasste Alltagsvarianten der ugaritischen Schrift. Dazu musste man sie aber jünger schätzen, als Gardiner das getan hatte. Sie durften nun frühestens 1500 v. Chr. verfasst sein. Dann wären sie in der ugaritischen Blütezeit entstanden.

      Gegen diese Theorie spricht aber unter anderem die sogenannte Byblos-Schrift. Die nördlich von Beirut an der Mittelmeerküste gelegene Hafenstadt Byblos war seit dem Alten Reich im 3. Jahrtausend v. Chr. eng mit Ägypten verbunden. Unter anderem lieferte sie Zedernholz

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