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platzen oder eingehen, weil wir als „göttlicher Ingenieur“ uns immer wieder zu Zwischenlösungen verlocken lassen, die sich in der Folge als noch größere Probleme erweisen.2

      Noam Chomsky, (*1928) Linguist und einer der einflussreichsten Intellektuellen der USA, beschrieb 2017 den Untergang des amerikanischen Traums vom freien Land. Einem Land unbegrenzter Möglichkeiten zu individuellem Aufstieg, zu Wohlstand und Privilegien, zu sozialer Mobilität in Freiheit und Unabhängigkeit. Chomsky begründete das Scheitern dieses Traumes an der ungelösten Konzentration von Reichtum und Macht und dem Mangel an Visionen:

       „Die Great Depression, die schwere Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre in den USA, die ich selbst noch miterlebt habe, war eine harte Zeit – subjektiv gesehen viel härter als die heutige. Aber es herrschte das Gefühl vor, irgendwie auch wieder da raus zu kommen, die Erwartung, es werde irgendwann schon wieder besser:»Heute haben wir vielleicht keine Arbeit, aber morgen ganz bestimmt, und gemeinsam können wir an einer besseren Zukunft arbeiten.« Politischer Radikalismus hatte Hochkonjunktur und nährte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – eine, in der mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit die repressiven Klassenstrukturen aufbrechen würden. »Irgendwie wird es vorangehen«, dachten alle.

       Auch in meiner Familie gehörten viele zur Arbeiterklasse und hatten keinen Job. Aber die Gewerkschaftsbewegung war im Aufschwung, Ausdruck und Quelle von Optimismus und Hoffnung zugleich. Und das fehlt heute.»Nichts wird mehr, wie es mal war«, das ist heute die Stimmung – es ist aus und vorbei.“3

      Als der Journalist Gabor Steingart 2011 seinen „Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“ veröffentlichte, stand die uns so lieb gewordene, gesellschaftliche Normalität schon längst auf der Kippe. Nach seiner Vorstellung führten uns das Weltfinanzbeben (2008) und die Kernschmelze im japanischen Fukushima (2011) zum Ende der Normalität.4

      Warnungen, der von den Bewohnern der Industrieländer vorrangig betriebene Lebensstil schädige die weltweiten Ökosysteme, zerstöre die soziale Balance zwischen den Ländern und in den Ländern und gefährde sogar die eigenen Lebensgrundlagen, füllen längst Buchregale und Mediatheken. Ebenfalls schrieben zahlreiche Autoren Konzepte für die überfällige „Wende der Titanic“5. Aktivisten in zahllosen Projekten schufen Blaupausen für eine naturverträgliche, sozial akzeptable und kulturell befriedigende Lebensweise.

      Doch die Verdrängungskraft weiter Bevölkerungsteile und die Ignoranz mächtiger Interessengruppen sorgten dafür, dass die „Titanic“ auf Kurs blieb. Weltweit verstreute Kriege, die Papst Franziskus als „Dritten Weltkrieg“ brandmarkte, mehrfache weltumspannende Krisen der herrschenden Finanz- und Wirtschaftssysteme, Zusammenbrüche von Versorgungssystemen reichten nicht zur umfassenden Besinnung und Neuorientierung.

      In der Zeit von James Dean ließ sich noch sagen: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Für unsere Gesellschaften gilt längst: „Denn sie tun nicht, was sie wissen.“

      Um die Muster des derzeitigen politischen Handelns zu verstehen, lohnt eine mentale Distanz zur aktuellen Informations- und Meinungsflut. Erinnern Sie sich noch an den Club of Rome mit seinem Bericht über die Grenzen des Wachstums? Oder an Heinz Haber (1913-1990) und Hoimar von Ditfurth (1921-1989), die schon vor Jahrzehnten noch heute wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse in eigenen TV-Sendungen leicht verständlich erklärten? Ihre damaligen Beiträge wirken nun wie Prophezeiungen heutiger Zustände. Doch offenbaren sie auch Hinweise auf die Bewältigung jener Herausforderungen, die nach einem Exit aus den derzeitigen Beschränkungen wieder – oder besser noch weiterhin – auf der Agenda stehen.

      Wie werden wir mit dem Coronavirus, wie mit dessen uns noch unbekannten Kollegen zu leben lernen? Wie mit den vermuteten 1,5 Millionen Virenarten in der Biosphäre? Denn sie sind in der Welt, sie bleiben! Unsere derzeitige Lebensweise, vor allem in den Industrieländern, unser Umgang mit der Natur, eröffnet neuen Krisen immer wieder die Türen.

       Homo Sapiens erfährt seine Grenze

      Die Corona-Pandemie stellt unser gesellschaftliches Wertesystem brachial infrage. Der Homo Sapiens schwang sich auf zum Herrn und Herrscher über Natur und Biosphäre. Wissenschaftler sprechen seit einigen Jahren mal stolz, mal warnend vom Anthropozän. Gemeint ist damit, dass das Verhalten der Gattung Mensch für Zukunft und Existenz des Planeten Erde entscheidend geworden ist.

      Nun kommt ein kronenartiges Virus daher und erzwingt drastisch unsere Einsicht, dass wir doch Teil von Natur und Biosphäre sind. So stehen wir am Scheideweg. Stellen wir uns weiterhin ein auf einen Kampf um die Beherrschung der Natur oder schließen wir Frieden, und fügen uns in die angestammte Rolle der Kreatur? Antike Mythen unterschiedlicher Kulturen und biblische Reflexionen beschreiben die Menschen als Teil der Schöpfung, Kreatur und zugleich herausgehoben als der Schöpfung Hirte und Hüter.

      Die dennoch über Jahrtausende kulturell gepflegte Illusion von der Herrschaft über die Schöpfung erfährt durch die Pandemie einen herben, tödlichen Dämpfer. Nur die radikale Änderung unseres Lebensstils kann eine Menschheitskatastrophe abwenden. Quarantäne und staatlich verordnete Beschränkungen von Versammlungen, öffentlichen Veranstaltungen und Reisen wirken auf diese Verhaltensänderung hin. Physische Distanz der Menschen zueinander und eine konsequente Hygiene sind längst das Gebot der Stunde. Europäische Staaten und einzelne deutsche Städte verhängten Ausgehverbote, um Menschenansammlungen zu verhindern, die dem Virus zu seiner Verbreitung nutzen. Dabei nehmen die Politiker und Krisenmanager die Einschränkung und Aussetzung anerkannter und verfassungsrechtlich geschützter Bürgerund Menschenrechte in Kauf. Kulturbetriebe, Schulen und Kindertagesstätten wurden geschlossen, Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen verboten, Gremien vertagten sich oder wurden abgesagt, ganze Wirtschaftszweige wurden gedrosselt und gerieten an den Rand der Existenz. Ein Blick über den Atlantik zu den USA oder Brasilien zeigen die Folgen miserablen politischen Managements.

      Um Erhalt des Lebens und der Gesundheitsinfrastruktur willen nimmt die Mehrheit der Bevölkerung diese Einschränkung an und akzeptiert die häusliche Isolation. Moderne digitale Technik erlaubt, Kontakt mit der Außenwelt zu halten und die „Welt ins Haus“ zu holen. Auch wenn die auf der Welt verteilten Server unter der rasant ansteigenden Datenverarbeitung durch Stream-Dienste im Internet ächzen und an die Grenzen der Kapazität kommen, bringen sie uns auch Nachrichten über positive Folgen der erzwungenen gesellschaftlichen Entschleunigung. In der Mehrzahl der von der Pandemie betroffenen Länder konnte der exponentielle Anstieg der Infektionen durch Lockdown-Maßnahmen gebrochen werden.

      Satellitenbilder belegen den Rückgang des Smog über chinesischen und italienischen Industrieregionen und Ballungszentren. Die stinkende Brühe in Venedigs Kanälen regeneriert sich zur Wasserlandschaft, in der wieder Fische sichtbar werden. In der Lagune werden im klaren Wasser wieder Fischschwärme gesichtet. Delphine trauen sich in die stillgelegten Häfen Sardiniens. Für einen Hirschen endete der Versuch der Rückeroberung seines angestammten Lebensraumes jedoch tödlich. Er wurde in der Innenstadt Bocholts entdeckt und auf Weisung der Polizei von einem herbeigerufenen Jäger erschossen.

      Was seit Jahren in Umwelt- und Klimapolitik proklamiert, aber nie ernsthaft verfolgt wurde, holt sich die Natur in kurzer Zeit zurück. Diese Erfahrungen können unsere Überzeugungen von einem naturverträglichen gesellschaftlichen Leben der Menschen bekräftigen. Noch stehen uns Wochen, vielleicht Monate des virusbedingten Ausnahmezustandes bevor. Wir können die Einschränkungen bejammern und beklagen. Wir können und dürfen sie auch zur gründlichen Reflexion und Neubesinnung unseres Lebens während und nach der Krise nutzen: zur Reflexion über ein gesellschaftliches Leben als Teil der Natur. Ein Leben resilient6 im Umgang mit den aus der Natur erwachsenden Gefahren und Risiken der uns anvertrauten Schöpfung.

       Zukunftsbeben

      Als Zukunftsbeben bezeichnen Forscher Momente, die den Lauf der Geschichte drastisch und nachhaltig verändern. Auslöser können Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis sein.

      Zu sozialen Zukunftsbeben werden Ereignisse, die von Menschen selbst herbeigeführt wurden oder durch die Reaktionen der Menschen auf Naturereignisse. Soziale Zukunftsbeben werden durch menschliche Entscheidungen geformt.

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