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Weltenleuchten. Martin Müller
Читать онлайн.Название Weltenleuchten
Год выпуска 0
isbn 9783347057470
Автор произведения Martin Müller
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Der lange Marsch auf dem lappländischen Kungsleden, nördlich des Polarkreises
Am dritten Tag fing es an, zu regnen. Nicht stark aber kontinuierlich. Wir trugen unsere gelben „Friesennerze“ über Kopf, Schultern und Rucksack und marschierten schweigsam vor uns hin. Auf einem Höhenzug entdeckte ich eine wilde Rentierherde und war begeistert, denn dies war 1973 schon eine Seltenheit. Ich schlich mich über zwei Kilometer bis auf hundert Meter an sie heran und konnte endlich ein paar der erhofften Fotos machen. Keine Menschenseele, soweit das Auge von dort oben reichte. Welch ein überwältigendes Erlebnis!
Wilde Rentierherde in den Bergen Lapplands
Steinmanderl als einzige Wegkennzeichnung
Der Weg führte wieder bergab in ein weiteres Tal. Wir wussten laut Karte, dass wir einen breiten Fluss queren mussten, fanden aber keine Brücke, sondern nur ein paar „Steinmanderl“ zu beiden Seiten, die offensichtlich die flachste Stelle markieren sollten. Das gefiel uns gar nicht.
Eiskaltes Flusswasser
Die flachsten Stellen sind bei Flüssen auch immer die breitesten. Wir hatten sicher hundert Meter vor uns, die wir im schnellfließenden Schmelzwasser zu durchwaten hatten. Gerald war schnellentschlossen und ging voran. Ich brauchte sicher zehn Minuten länger und litt qualvolle Schmerzen an den Füssen. Solche Schmerzen kannte ich bisher noch nicht. Die Flusssteine waren zwar rundgewaschen, aber dafür glitschig und ich rutschte immer wieder mit den eisgekühlten Knöcheln über deren Ränder. Mit der Ausrüstung auf dem Rücken ins Eiswasser zu fallen, war aber keine Option.
Wir mussten immer wieder Flüsse und Bäche ohne Brücke durchqueren
Nach einer kurzen Aufwärmpause ging es weiter, dem nächsten Biwak entgegen. Obwohl wir wirklich tief in der Tundra waren und immer Ausschau hielten, konnten wir keine Wölfe oder Bären entdecken. Manchmal bildeten wir uns in der Dämmerung Schatten ein, aber das konnte auch ein Fuchs gewesen sein. An diesem Abend sah ich aber etwas anderes. Im Bächlein neben dem Zelt huschte ein Schatten vorbei. Ich erinnerte mich blitzartig an meine Kindheit. Es war eine Forelle. Gut, dass ich als Kind gelernt hatte, wie man Fische von Hand fängt. Es gab die köstlichste Mahlzeit unserer gesamten Wanderung.
Am nächsten Tag passierten wir einen rund zwei Kilometer entfernten, kleinen Rundbau aus Lehm, aus dem Rauch aufstieg. In dieser Hütte lebte in völliger Einsamkeit eine Lappenfamilie. Was für ein Leben! Wovon diese Menschen dort lebten, war nicht so einfach ersichtlich, aber sie lebten dort irgendwie und lebten, so schien es uns, auf jeden Fall frei und unabhängig. Ob sie das auch so sahen? Die Steinmanderl wiesen uns weiter den Weg und so erreichten wir nach fünf Tagen, in der Dämmerung ein altes Berghotel, die Fjäll Station, am Fuße des 2007 Meter hohen Kebnekaise. Heute ist das Hotel sehr groß und komfortabel und beherbergt ein Vielfaches an Touristen. Das Hotel war voller Amerikaner mit kompletter Bergsteigerausrüstung, die mit dem Hubschrauber eingeflogen worden waren. Wir gönnten uns ein Bier und schlugen danach in ausreichendem Abstand vom Lärm des Berghotels unser Zelt auf. Vor dem Einschlafen entschieden wir, einen Aufstieg auf Schwedens höchsten Berg zu versuchen; wo wir doch in dieser Tundra immerhin schon einmal hier auf 690 Metern Höhe waren.
Der Kebnekaise war erst 1883 zum ersten Mal bestiegen worden. Ein Zweitausendmeter-Berg würde für zwei Allgäuer nicht wirklich eine große Herausforderung sein, dachten wir.
Biwak mit Gerald
Wir brachen noch in der Dunkelheit auf. Vom Hotel her war es nun ganz still. Wir kamen zügig voran, denn schließlich waren wir inzwischen gut in Übung. Es ging immer steiler durch einen Bergeinschnitt bergauf, bis wir auf einen Sattel kamen. Allmählich nahm der Wind zu und die Steine, auf denen wir gingen, waren zunehmend vereist. Unsere Schuhe waren dafür nicht gebaut, aber wir hatten ja keine anderen. Außerdem hatten wir alle unsere bisherigen Bergtouren auch ohne gute Ausrüstung sicher hinter uns gebracht. Gute Ausrüstung war teuer und Geld hatten wir immer zu wenig. Nach weiteren anstrengenden Stunden im Eis sahen wir uns erschöpft und fragend an. Doch das Wetter ließ uns keine Zeit für nachdenkliche Pausen; und so setzten wir unseren einsamen Weg fort.
Blick vom vereisten Kebnekaise-Sattel in die Tiefe
Was machen wir hier eigentlich?
Der Wind war mittlerweile ein Sturm und wurde immer stärker, je höher wir kamen. Der Sturm blies uns feine Eiskörner waagerecht entgegen. Auf unseren „Friesennerzen“ machte das einen Höllenlärm. Wir hatten zwischen Schulter und Kapuze einen Schal gewickelt, der nur kleine Teile des Gesichts frei ließ. Trotzdem blieben unsere Wangen und Augen dieser Tortur in den folgenden Stunden ausgesetzt. Es war, als würden wir „sandgestrahlt“.
Als dann die Wolken ganz dicht machten und wir den Weg kaum noch erkennen konnten, entschieden wir uns, ungefähr 30 Höhenmeter unter dem Gipfel, umzukehren.
Kurz vor dem Gipfel im Eiskristall-Sturm
Es war einfach viel zu gefährlich geworden und unsere inneren Stimmen waren eindeutig. Die Gewissheit, richtig entschieden zu haben, beflügelte uns zu einem raschen Abstieg aus der Sturm- und Eiszone. Trotz der eisglatten Steinplatten kamen wir zwar rutschend, aber immer das Gleichgewicht wahrend, zügig voran.
Das letzte Stück des Abstiegs vom Kebnekaise
Den Rest der Strecke, als das Eis und unser Adrenalin im Blut weniger wurden, mussten wir Tempo herausnehmen und uns eingestehen, dass wir völlig erschöpft waren. Es war schon wieder „sommerdunkel“ -also dauerdämmrig- als wir endlich unser Zelt erreichten.
Einige der Hotelgäste hatten uns kommen sehen und starrten uns an wie die Geister. Auf die Frage, warum wir so fertig aussähen und wo wir überhaupt herkämen, antworteten wir nur: vom Kebnekaise. Die Bergsteiger reagierten ungläubig. Sie hatten mit einer organisierten Tour und Profiausrüstung seit Tagen auf das grüne Licht des Bergführers für den Aufstieg auf den Kebnekaise gewartet. Spätestens jetzt dämmerte es uns, wie leichtsinnig wir auf diesem Berg unterwegs gewesen waren. Aber wir hatten eine große körperliche und mentale Leistung gezeigt, auch wenn die letzten Meter zum Gipfel fehlten. Und wir hatten die richtige Entscheidung getroffen und das aller-letzte Stück des Aufstieg abgebrochen. Darauf waren wir stolz!
Am folgenden Tag wanderten wir nach Osten zum nächstgelegenen See und fuhren von dort mit einem Bootstaxi auf die andere Seeseite. Von dort ging es mit einem bereits wartenden Bus zur nächsten Stadt und dann weiter mit der Bahn nach Kiruna. Während wir am Bahnsteig auf den Bahnanschluss Richtung Stockholm warteten, entschied sich Gerald unvermittelt, noch schnell Proviant einzukaufen. So stand ich allein an den Gleisen, als der Zug nach Stockholm einrollte. Ich stieg mit meinem und Geralds Rucksack ein und suchte zwei schöne Fensterplätze für die bevorstehende lange Fahrt. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt; die vergingen rasch. Ich wurde langsam nervös. Da fuhr der Zug auch schon an. Das war dumm gelaufen, wenn auch mit Ansage. Mit den zwei Rucksäcken bekam ich bei einer Polizeikontrolle im nächsten Bahnhof Ärger. Ich musste aussteigen und auf der Wache übernachten. Morgens ließ man mich