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Das war es auch für mich. Denn für mich war ein zwölfstündiger Nachtmarsch fast Urlaub im Vergleich zu den anderen „Beschäftigungen“, die man sich sonst täglich für mich ausdachte. Auf Befehl des Zugführers marschierten wir am frühen Abend los. Dabei mussten wir sein Lieblingslied „großer Häuptling Schwarzer Adler“ -von Heino- laut singen. Er schritt dabei jeden ab, ob er stimmlich dabei auch sein Bestes gab.

      Nach der Hälfte der Nachtmarschzeit hatte ich einen körperlich völlig überforderten San-Soldaten über die eine Schulter gehängt und über die andere unsere beiden G-3 Gewehre. Das machte mir nicht viel aus; Hauptsache nicht exerzieren oder durch den nassen und eiskalten Dreck robben. Nachts um zwei Uhr fuhr ein Wolf -ein Bundeswehr-Geländewagen-, der Wagen des Hauptmanns der Kompanie, neben uns her. Der sah uns eine Zeit lang zu, und verschwand dann wieder. Nach insgesamt zwölf Stunden erreichten wir unser Ziel, die Kaserne, und durften endlich ruhen. Obwohl ich es nie zugegeben hätte, war ich auch erschöpft. Tage später wurden die Rekruten in das Verwaltungsgebäude gerufen und erfuhren, wohin sie für die restliche Wehrdienstzeit versetzt werden sollten. Außer mir; ich wurde mit harschem Befehlston des fünfundzwanzigjährigen Unteroffiziers mit dem „Nazigetue“ zum Hauptmann befohlen. Ich erwartete nichts Gutes, aber egal, wohin man mich versetzen würde, viel schlimmer konnte es ja nicht werden; hoffte ich. Nach dem „Stillgestanden“ im Büro des Hauptmanns durfte ich „rühren“ und mich sogar setzen. Der Hauptmann musterte mich längere Zeit, und sagte: „San-Soldat Müller, aus Ihnen wird nie ein Soldat“. Ich erwiderte ungefragt, dass ich das auch so sähe und wartete, welche Art von Strafversetzung mir nun mitgeteilt werden würde. Der Hauptmann fuhr fort mit seiner Beobachtung, dass der San-Soldat Müller jedoch sportlich sehr fit und ein „harter Hund“ sei und er mir einen Gefallen tun wolle. Der Monolog nahm nun eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Die Bundeswehr würde mich als San-Soldaten zu den Feldjägern nach Sonthofen versetzen. Die Feldjäger waren verantwortlich für eine Fortbildungseinheit der Bundeswehr für höhere Dienstgrade sowie die Verwaltung der dortigen Bundeswehrsportschule. Das Letztere war gut. Nach der Versetzung auf die „Burg“ nach Sonthofen musste ich keine Uniform mehr tragen, war Heimschläfer und arbeitete als Laborant in der Sanitätsstation. Die meiste Zeit aber verbrachte ich als San-Begleitung der Trainingsgruppen der Sportschule. Mein Oberfeldarzt hatte schnell bemerkt, dass mir das -im Gegensatz zu anderen Soldaten- Spaß machte. Ich durfte oft bei den Leistungssportlern mitmachen und war einen Großteil meiner Dienstzeit im Wildwasser oder in den Bergen. Wenn die hohen Dienstgrade während ihrer Aus- beziehungs-weise Fortbildungszeit auf den Schießplatz mussten, machte sich deren Ausbilder jedes Mal einen Spaß daraus, mich, den San-Begleiter, der noch nicht mal einen „Balken“ auf der Schulterklappe trug, als Letzten zum Schießen aufzufordern. Ich, der unter einer Zwangssituation während der Grund-ausbildung die Waffe verweigert hatte, hatte mich mittlerweile als guter Schütze erwiesen und meine Schieß-ergebnisse dienten dem verantwortlichen Ausbilder bei dieser Gelegenheit jedes Mal als Demütigung für die Stabsoffiziere. Mir passte das; mir sollte es Recht sein.

      Am Bundeswehrstandort Sonthofen gab es drei Kasernen. Zusammen formierten sie eine Faustballmannschaft, die im Kern aus Soldaten der Sportschule bestand. Zwei der Mannschaftsmitglieder hatten zuvor in der Bundesliga gespielt und machten das Techniktraining. Der Plan war, in diesem Jahr bei den deutschen Meisterschaften auf dem Gelände der Sport-Uni Köln teilzunehmen. Es ging nicht um die deutsche Meisterschaft, um die die Bundesliga-Mannschaften kämpften, sondern um die der Bundeswehr, Polizei, THW und der Berufs-Feuerwehren. Irgendeiner der Sportlehrer -ein höherer Offizier- hatte erfahren, dass ich ein Faustballspieler sei und mich zum Training eingeladen.

      So eine Einladung war ein Befehl. Ich ging zum Training und kam gut zurecht. Schließlich wurde ich als einziger einfacher Soldat -ohne Strich auf der Schulterklappe- in die erste Mannschaft berufen. Alle anderen waren Offiziere.

      Das war wohl eine Ehre aber es fühlte sich für mich nicht gut an.

      Vor dem großen Turnier fuhren wir mit einem NATO-oliven Bus nach Landsberg zur Fliegerstaffel. Von dort flog uns einer der Faustballer mit einer Transall der Luftwaffe nach Köln. Wir saßen zu sechst, längs auf heruntergeklappten Bänken in diesem riesigen Transportflugzeug und staunten beim Start über dessen unglaubliche Beschleunigung. Der Flieger konnte ja Panzer transportieren und mit den sieben Faustballspielern flog er an diesem Tag quasi leer. Was für eine Verschwendung, dachte ich mir.

      Am Samstag spielten wir unsere Spiele gut; auch ich war in dieser „Halbprofi-Mannschaft“ in bester Form, und wir landeten nach der K.O.-Runde souverän im Halbfinale. Deutscher Meister zu werden, war der Traum des Bundeswehr Standorts Sonthofen. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt. Am Sonntag erwischte ich jedoch einen rabenschwarzen Faustball-Tag. Ich spielte so schlecht wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte einen mentalen Einbruch und war völlig verunsichert. Der Traum von der Deutschen Meisterschaft schwand dahin und wir wurden am Ende sogar nur noch Vierte. Dass ich der Hauptverursacher war, wurmte mich unsäglich, aber ich stellte erstaunt fest, dass es kein böses Wort aus der Mannschaft gab. Das machte meine persönliche Niederlage etwas erträglicher. Mit so viel Sportlichkeit unter den ehrgeizigen Offizieren hatte ich nicht gerechnet.

      An ruhigen Schlechtwettertagen in der „Burg“ in Sonthofen las ich gerne Alexander Solschenizyn´s Bücher, besonders „der erste Kreis der Hölle“ von 1968 und „der Archipel Gulag“ von 1973. Diese Bücher gingen mir sehr nahe und nährten meine Alpträume.

      In meiner Freizeit fuhr ich in dieser Zeit häufig mit einem älteren, von den Profis ausgemusterten Zweierkanadier im Wildwasser, meistens im Ober Lech.

      Auf einer dieser Fahrten, diesmal in der Breitach, kenterte ich und trieb bewusstlos 300 Meter durch den Bach. Mein Fußgelenk hatte sich irgendwie im Kniebügel verfangen und ich schaffte es nicht mehr aus dem Boot heraus. Ich wurde durch das Bachbett geschleift und blieb an einer Flachstelle hängen.

      Als ich wieder zu Bewusstsein kam, merkte ich, dass meine linke Mittelhand gebrochen war. Ich hatte das Gefühl, dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen zu sein. Mein Vordermann hatte sich zuvor beim Kentern ohne Schwierigkeiten aus dem Boot befreien können. Er war wohlauf und fand mich weiter unten, am Ufer sitzend wieder.

      Wir fuhren zurück zur Kaserne auf die „Burg“ und gingen in den San-Bereich. Ich fertigte mir meinen Gips selbst an. Mit dem Dauerkneten einer Verbandsrolle wurden nach einigen Wochen die Finger wieder gängig. Alles war wieder gut.

      Ich hatte wieder mal sagenhaftes Glück im Unglück gehabt. Künftig wollte ich doch beim Wildwasserfahren viel vorsichtiger sein.

      Während meines Urlaubs bei der Bundeswehr fuhr ich über Ostern mit meiner Freundin Helen, mit der ich schon seit meiner Tätigkeit im Kinderheim „on and off“ zusammen war, zu deren Schwester an den Gardasee. Dieser Reise mit Helen wäre ich gerne aus dem Weg gegangen, denn das Verhältnis zwischen ihr und mir hatte sich abgekühlt und die Trennung stand an. Für mich stand ein Wohnortwechsel bevor und ich wusste, dass dies unsere Beziehung nicht aushalten würde, aber ich konnte den richtigen Zeitpunkt für ein Trennungsgespräch nicht finden. So schob ich die Entscheidung feige vor mir her. Eine gute Ausrede, warum ich nicht mitfahren wollte war mir auch nicht eingefallen und so fuhr ich mit an den Gardasee. Helen war zehn Jahre älter als ich und hatte viel klarere, engere und langfristigere Erwartungen an mich, als das umgekehrt der Fall war. Das fühlte sich nicht gut an. So nahm ich mir auf der Hinfahrt fest vor, unsere Beziehung nach dem Urlaub zu beenden.

      Auf der Heimfahrt vom Gardasee fuhr ich mit Helens Käfer zurück über den Fernpass und wurde kurz vor Nassereith plötzlich aus einer Haarnadelkurve getragen. Wir rutschten auf einen kleinen Abhang zu und überschlugen uns zweimal, bevor der Käfer auf dem Dach liegen blieb. In dieser Kurve auf dem Fernpass hatte sich die einzige Eisplatte der gesamten Strecke befunden. Zudem waren die Reifen des Käfers abgefahren. Ich verspürte einen Schmerz an der Schulter. Helen war bewusstlos und wimmerte leise. Ziemlich schnell kam ein von anderen Verkehrsteilnehmern alarmierter Krankenwagen und brachte uns beide in die Unfallklinik nach Zams im Inntal. Helen`s Genick war gebrochen. Bei mir war nur der Rabenschnabel auf der linken Schulter angeknackst aber ich stand unter Schock und wollte nicht wahrhaben, was mit Helen passiert war. Wie durch ein Wunder hatte sie überlebt, wenn sie die ersten 4 Wochen auch schlimme Schmerzen aushalten musste.

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