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zweitens fand er, dass das eigentlich ausreichen sollte, um rein figurtechnisch noch im Rahmen zu bleiben. Da könnte sein Bruder mal ansetzen, hatte er noch gedacht, statt ihm die Kalorien vorzurechnen. Dann hatte er sich wieder an Fabian gewandt, seinen gerade ins erste Schuljahr gekommenen Enkel. „Guck mal, was Fido schon kann". Um sich selbst, dem Enkel und natürlich auch dem Hund ein bisschen die Langeweile zu vertreiben, hatte er begonnen, „Sitz!" und „Bleib!" zu trainieren. Das funktionierte schon sehr gut, einschließlich des Kommandos: „Zu mir!", worauf Fido sofort und ohne Umwege im Galopp zu seinem Herrchen zu rennen hatte. Wegen der sowieso schon etwas erschwerten Bedingungen im Saal des Parkcafés hatte Stojan einen ziemlich kurzen Parcours mit einer geraden Strecke von höchstens zehn Metern für Fidos Spurt abgesteckt und sich als einziges einigermaßen natürliches Hindernis den Rollator eines weiteren entfernten Verwandten, den er noch nie gesehen zu haben glaubte, ausgeliehen. Alles war also bestens gerichtet. Fido saß bereits mit zurückgelegten Ohren und wartete auf das Kommando seines Herrchens. Just in diesem Moment musste sich Bogdan, - hieß der ehemals jugoslawische Kellner nicht so? Stojan war jetzt nicht mehr ganz sicher -, sich eines Besseren besonnen haben, das heißt in diesem Fall eher eines Schlechteren. Jedenfalls vollzog er eine zackige Wendung und begab sich mitsamt seinem Tablett auf den Weg in Richtung des in der Tat wesentlich eher als das Cousinchen ausgehungert aussehenden Onkels Alfons. Gerade als Stojan den Rest des Films vor seinem geistigen Auge abspulen wollte einschließlich Lärm und Geschrei und Scherbenhaufen - nein, kein Blut, aber ein zweijähriger Boxer kennt nun mal keine Gefahr und keine Bosnier, Fido wurde auch nicht aus der Haftpflichtversicherung ausgeschlossen, die Gebühren lediglich etwas angepasst in Richtung Kampfhund - riss ihn der neue Klingelton seines Handys in die Realität zurück. Sonja rief zurück. Schon vormittags hatte er sie nach Leuten fragen wollen, die irgendwie Zeit mit Irene verbracht hatten, hatte aber bei einer Besprechung gestört, was Sonja ihm sehr kurz und sehr knapp mitgeteilt hatte.

      "Da gab es noch die Pfarrerin, die war aber nicht lange im Amt. Unverheiratet und sehr sexy, wie man sagt, war auf dem besten Wege, die evangelische Kirche voll zu kriegen, angeblich sogar mit katholischen Männern. Also eine echte Bedrohung für Sitte und Anstand im Sauerland, stand von Anfang an unter argwöhnischer Beobachtung besonders der weiblichen Bevölkerung. Wiederholt wurde angeblich privater Herrenbesuch außerhalb der allgemein akzeptierten seelsorgerischen Geschäftszeiten zum Synodialamt gemeldet. Als sie schließlich zweimal in der Woche im Pfarrheim Feten von Jugendlichen organisieren ließ, zu denen Erwachsene keinen Zutritt hatten, hieß es, sie würde mit den Kids Joints rauchen und anschließend die völlig enthemmte Dorfjugend verführen. Sie konnte sich damals noch gut an das Mädchen erinnern, fand sie ein bisschen aufsässig, aber mehr Mitläuferin als Anstifterin, und wohl sehr auf Anerkennung aus. Jankowski hatte sie aufgesucht und ein bisschen befragt, das hat aber nur eine kleine Aktennotiz eingebracht. Besuch sie doch noch mal, du hast ja Zeit, die arbeitet jetzt aber für den Hochsauerlandkreis. Das Büro müsste in Meschede sein. Irgendwann hatte sie keine Chance mehr gesehen, sich gegen Lug und Intrige durchzusetzen, hat der Kirche den Rücken zugekehrt und ihren Abschluss als Sozialarbeiterin nachgeholt. Mit Mitte vierzig, alle Achtung. Warte, ich habe ihre Nummer damals notiert. Vielleicht hat sie ja noch ein Mosaiksteinchen für dich."

      Stojan schrieb mit und schob den Zettel in seine Hosentasche. Konnte ja nicht schaden.

      Dann zog er mehrere Blätter DinA4-Papier aus dem Schacht seines Druckers, nahm einen Bleistift und schrieb: Frage 1.

      7

      Hatten sie sich damals überhaupt die richtigen Fragen gestellt? Sie hatten ordentlich ermittelt, gewissenhaft, routiniert, nach Plan und der Reihe nach. Aber allein schon, um die richtigen Fragen zu finden, brauchte man mehr Fantasie und Erfahrung als die jungen Kollegen mit dem guten Abiturzeugnis und der guten Beurteilung der Polizeihochschule.

      Wo hatte Irene die Nacht vor ihrem Tod verbracht? Wo war sie in den Zug eingestiegen? Wie war sie dahingekommen? Wohin wollte Irene am nächsten Morgen? Wieso müssen es gleich zwei Tötungen sein? Einmal brutal, mit Gewalt und Kraft, einmal eher filigran, technisch feiner, wenn man überhaupt eine so sachliche Betrachtungsweise an den Tag legen kann, wenn ein junger Mensch, der eigentlich sein ganzes Leben noch vor sich haben sollte, grausam getötet wird, ohne Rücksicht auf Zukunft, Eltern, Freunde. Hass kam in Stojan hoch, Hass auf einen Unbekannten, der frei von jeglicher menschlichen Regung schien und nicht die geringste Chance hatte, dass Stojan so etwas jemals verstehen würde. Er hatte viele Täter erlebt, da gab es aufgestauten Hass, Notwehr, da gab es Töten auf Verlangen, da gab es Rache, die man menschlich nachvollziehen konnte. Klar, Eifersucht, er kannte solche Leute, da gab es ein belastetes Verhältnis zwischen Opfer und Täter, irgend so etwas. Und hier? Kannten sich Täter und Opfer überhaupt? War es ein Auftragsmord? Suchten sie einen Auftragskiller? Das Leben der Irene Altmann war dem Täter so egal gewesen, nichts wert. War Irene überhaupt gemeint? Oder völlig beliebig gewesen? Der Tathergang hatte etwas Mafiöses an sich, aber auch etwas Demonstratives. Seht her, ich kann es. Musste er etwas beweisen? Sich selbst? Anderen? War Irene ein Versuch? Versuch in einer Reihe? War das Insulin der Plan B? Oder wusste er nicht, wie schnell das Insulin wirkte, war sich unsicher über die Dosis? Er wird alles genommen haben, was rein ging auf die Schnelle. Wie lange dauert es eigentlich bis Insulin zur Unterzuckerung führte? Stojan wusste es nicht genau, nur, dass es nicht ewig nachweisbar war, sondern bereits nach einem halben Tag ziemlich verflogen. Viel hing auch von der Art des Insulins und von dem Zustand des Opfers ab.

      Perfektionierte hier einer sein grausames Handwerk und bot gleich zwei alternative Vorgehensweise an? Seinen Kampfrichtern? In der Disziplin: doppelter Mord an einem ahnungslosen Menschen erhielt der Kandidat acht von zehn möglichen Punkten. Wegen guter Performance qualifiziert für höhere Aufgaben. Wie pervers und amoralisch schien die Zeit geworden! Oder war nur seine Fantasie so degeneriert, abgestumpft genug, um sich so etwas auszudenken, für möglich zu halten? Dann wäre ihm nicht auf einmal speiübel gewesen.

      Wie wäre es mit zwei Tätern: Einer spritzt ihr Insulin in den Hals, der andere setzt seinen mörderischen Würgegriff? Konnte das sein? Eigentlich ja, nicht leicht vorstellbar, aber nicht unbedingt ausgeschlossen. Hat hier jemand falsche Spuren gelegt? Eine fremde Handschrift zu kopieren versucht?

      Oder er suchte eine als Mensch getarnte Mordmaschine. In fremdem Dienst und Auftrag.

      Stojan blätterte weiter in dem Aktenordner, er konnte sich an einzelne Notizen erinnern, der Fall bekam eine zusätzliche Dimension, Irene wurde plastischer. Es gab eine Busverbindung, eine sehr umständliche, von Schmallenberg nach Meschede und dann irgendwie weiter. Von vornherein kaum wahrscheinlich, dass sie so angereist war. Ein paar Tage später hatte man den Berufspendlern Fotos von Irene gezeigt, keiner konnte sich an die junge Frau erinnern. Hatte sie die Nacht vor ihrem Tod überhaupt zuhause verbracht? Welche Sachen fehlten? Und waren nie wiederaufgetaucht? Die Mutter hatte eine Tasche erwähnt oder einen Rucksack.

      Er selbst hatte die Mutter befragt, damals, in ihrem Haus, zweiunddreißig Stunden, nachdem man ihre Tochter tot aufgefunden hatte, zwanzig Stunden, nachdem man sie identifiziert hatte, sieben Stunden, nachdem man ihr die Todesnachricht überbracht hatte. Er wusste noch, dass er Agnes Altmann ziemlich gefasst vorgefunden hatte, konnte sich aber auch daran erinnern, dass er selbst unter hohen Dosen morphinhaltiger Medikamente stand und damit körperlich aber auch emotional fast schmerzfrei war. Sogar zum Chauffieren und Mitschreiben hatte er sich einen von den Jungs mit den guten Noten mitgenommen, ganz im Gegensatz zu seinen üblichen Gepflogenheiten.

      Ja, gefasst war sie gewesen, das heißt, sie konnte antworten, klar genug, dass man sie verstand, aber es war unschwer auszumachen, dass er es mit einem in sich zusammen gesunkenen Häufchen Elend zu tun hatte. Tränen hatten die flüchtig aufgetupfte Augenschminke schon wieder ins Gesicht gespült. Eine Nachbarin war da, redete gelegentlich leise im Nebenraum mit dem Vater, der auch hin und wieder mal wie ferngesteuert durch die Wohnung huschte. Er hatte sich ein paar Tage frei genommen, wenn Stojan richtig verstanden hatte. Gesehen hatte Irene zuhause an ihrem Todestag niemand, der Vater verließ das kleine Reihenhaus um zehn vor sechs, um pünktlich im Sägewerk anfangen zu können. Er nahm dann das alte Familienauto. Die Mutter bekam einen Kleinwagen vom Pflegedienst gestellt, wenn sie eingesetzt wurde, und den hatte sie dann die ganze Woche zur Verfügung. So auch am 19. Februar. Ihren ersten Einsatz an diesem Morgen hatte sie in Fredeburg, ab halb sieben wurde

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