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die, in Russland geboren, glaube ich, die hat mir aus meiner pubertierenden Seele gesungen. Guck mal, ob du „Was ist das Ziel in diesem Spiel" irgendwo findest, muss doch heute möglich sein, auf YouTube oder sonst wo."

      „Mann, Stojan, jetzt habe ich dich aber angestochen, soviel an einem Stück hast du ja noch nie geredet."

      „Stimmt nicht, du hast mir nur noch nie solange zugehört, Tasso, so herum wird ein Schuh draus!"

      „Jedenfalls bin ich froh, dass du nicht depressiv melancholisch bist, sondern nur ein sentimentaler Kitschheini mit melancholischem Gemüt!"

      Tasso durfte das.

      Jetzt suchte er für ihn etwas Lustiges, Komisches, und tatsächlich, das war schwieriger und dauerte länger. Schließlich hatte er „Goethe ruft an“ von John von Düffel in der Hand. „Das wird ihm wahrscheinlich besser gefallen als Erklärt Pereira oder Tod eines Bienenzüchters, Fido, was meinst du? Oder der Kirchhoff. Obwohl die besser sind! Er wird es noch einsehen, pass auf!“ Noch einen Band mit Kästner-Gedichten packte er dazu, der danebenstand, irgendwie aus missionarischen Erwägungen heraus wollte er ein Gewicht obendrauf packen. Gewicht wie wichtig, ihm wichtig.

      Bevor sie das Haus endlich verließen, schrieb er noch auf das Blatt Papier auf seinem Schreibtisch: Seit wann hatte Irene ihr Tattoo? Und: Hat das Tattoo eine Bedeutung über Schmuck oder Mode hinaus? Er nummerierte die Fragen durch, das waren die siebte und die achte auf seiner Agenda. Noch einmal machte er auf dem Absatz kehrt und kritzelte: 9. Hatte Irene wirklich montags frei? Oder war das gelogen?

      9

      Dienstag, 16.2.16

      Sonja hatte dann doch spontan zugesagt, als er sie auf dem Weg zu Tasso anrief, und sie hatten einen netten Abend mit der Lammkeule verbracht, ein bisschen über sich gefrotzelt und gegen Kollegen gestichelt, die Stojan noch kannte. Und den neuen Dienststellenleiter, den Stojan nicht kannte. Klar, dass auch der Fall Altmann Thema wurde.

      „Sonja, liebe Sonja, ich will dich überhaupt nicht vereinnahmen, aber trotzdem bin ich auf deine Hilfe angewiesen. Es gibt da vielleicht ein dickes Mosaiksteinchen, aber ich komme nicht dran, habe es schon versucht. Wolltest du nicht unbedingt mal nach Kassel? Vielleicht zur documenta? Oder zum Einkaufen? Oder Fußballspiel?“

      „Nu sag schon, was ich da soll. Documenta ist dieses Jahr nicht, Kasselaner Fußball findet bestenfalls in irgendeiner Hessenliga vor hundertfünfzig Zuschauern statt, und seit wann interessieren dich meine Einkäufe? Demnach: Wenn ich für dich etwas da erledigen soll, muss ich da schon extra hinfahren, das geht moralisch voll auf deine Kosten, und ob du das jemals wiedergutmachen kannst, ich weiß nicht, das ist nicht so um die Ecke. Und hör mir auf mit Landschaftserlebnis oder das Auto mal endlich wieder bewegen, Batterie aufladen und so weiter! Versuchs doch einfach so: Sonja, meinetwegen auch liebe Sonja, es ist doch auch dein Fall gewesen, du kannst doch auch nicht gut damit umgehen, dass der Fall nicht geklärt wurde, wahrscheinlich immer noch ein Mörder frei herumläuft, weil wir irgendetwas übersehen haben. Los sag schon, was soll ich in Kassel?“

      Das war vor fast einer Woche gewesen. Und jetzt würde sie ihren freien Freitagvormittag opfern, nicht nur für ihn, sondern für sie beide, für die Gerechtigkeit, für das Gute im Kampf gegen das Böse. Da konnte doch kein Opfer zu groß sein. Waren sich beide einig geworden. Und Stojan wartete ungeduldig.

      War Irene wirklich ein unbeschriebenes Blatt? Viele Leute, die auf dieses Blatt etwas draufschreiben konnten oder wollten, hatten sie nicht gefunden. Oder nicht gesucht? Er nahm sich als nächstes die Aussage des Augenarztes vor, bei dem Irenes gearbeitet hatte. Stojan hatte sie selbst damals noch aufgenommen, konnte sich in Bruchstücken erinnern. Der Arzt war ein paarmal aus dem kleinen Sprechzimmer herausgelaufen, weil eine Mitarbeiterin nach ihm gerufen hatte, ja, er erinnerte sich wieder, eine Patientin wollte nicht einsehen, dass eine angebliche notwendige Untersuchung nicht von ihrer Krankenkasse bezahlt werde, und hatte sich lauthals beschwert.

      Stojans Protokoll war von wem auch immer in Maschinenschrift übertragen worden, aber offenbar nicht mehr von ihm selbst abgezeichnet worden. Am liebsten würde er jetzt noch in den Text eingreifen und Kommasetzung, Abkürzungen und Stil korrigieren, aber das ging ja wohl nicht. Offiziell hatte er die Akte ja nicht einmal in der Hand. Mithin musste er auch darüber hinwegsehen.

      „Im ersten Lj. sei sie richtig lieb und aufmerksam, und lernwillig gewesen, besonders technisch von sehr schneller Auffassungsgabe. Gerne hätte sie Sehtests gemacht, später auch Augendruckmessungen. In der Kommunikation mit Pat. und am Tel, sei sie allerdings bis zuletzt eine einzige Katastrophe gewesen. Das sei aber Organisationssache gewesen, die beiden ausgebildeten Vollzeitkräfte hätten auch Defizite im Leistungsspektrum, wären aber sehr beliebt bei den Pat., und das wäre für das Funktionieren einer Praxis von unschätzbarem Wert. Iota sei etwas schwer von Kapee aber sehr freundlich und gewissenhaft. Yvonne, die eigentliche Erstkraft machte ihm die ganze Verwaltung und Post und schrieb Rechnungen aber im logischen Denken wäre Irene trotz ihrer Jugend 1 Klasse besser gewesen, mindestens. Einen charakterlichen Entwicklungsknick, vielleicht könne man das so nennen, hätte er gegen Ende des zweiten Ausbildungsjahres, oder etwas später bemerkt. Sie hätte sich keine besondere Mühe mehr gegeben, sei fahrig und unkonzentriert gewesen und hätte sich häufig au. schreiben lassen, merkwürdigerweise immer von unterschiedlichen Allgemeinärzten auch aus weiter entfernten Orten, auch von Gynäkologen und Orthopäden. Mit den Kolleginnen, die sie anfangs noch ziemlich gefördert hatten, gab es jetzt öfters Streit um liegengebliebene Arbeiten, unsaubere Geräte, überhaupt sei der Ton unter seinen Mitarbeiterinnen ruppiger geworden. Zu dem Zeitpunkt sei ihm klar geworden, dass weder bei ihr noch bei ihm selbst Interesse an einer Anstellung nach der Ausbildung bestehen konnte.“

      Die Atmosphäre in der Praxis hatte Stojan angespannt gefunden, er entsann sich. Kein großes Wunder, wenn jemand eine Woche vorher plötzlich und gewaltsam aus dem Team gerissen worden war. Alles war ungeordnet, Stojan war froh gewesen, als er wieder draußen war, auch weil er nicht mehr sitzen konnte, die Schmerzen im Bein waren kaum noch erträglich gewesen.

      „Telefonische Nachfrage Augenarzt Dr. Markus Weniger, 6.6.13“ stand darunter, dann Sonjas Kürzel.

      „Klärung zum Madeira-Urlaub:

      Irene habe um Urlaub gebeten, weil sie eine Reise gewonnen habe, er habe nicht nachgefragt, sie habe sehr freundlich gefragt, zuletzt einen besseren Eindruck hinterlassen, auch wieder natürliche Haarfarben getragen, sei nicht mehr so flippig gewesen wie noch zuvor. Der Urlaub habe ihr auch zugestanden, die Kolleginnen hätten sich immer abgesprochen, so dass der Praxisbetrieb nicht gelitten habe. Und in der letzten Woche vor Weihnachten hätte immer die ganze Praxis Urlaub, das sei traditionell so, im letzten Jahr sei das ab dem 17.Dezember gewesen.

      Wann habe sie gefragt, ob sie Urlaub bekommen könne?

      Das sei ziemlich spontan gewesen, bei der Weihnachtsfeier der Praxis, Moment, das konnte er im elektronischen Terminkalender nachschauen, sie gingen dann immer irgendwohin essen, kleine Geschenke gab's auch, Gutscheine fürs Kino oder Eisdiele oder ähnliches. Früher wäre auch seine Frau und die jeweiligen Partner seiner Helferinnen mit dabei gewesen, Aber das wäre seiner Frau dann zu familiär geworden. Also das war der 23. November, bei dem neuen Italiener seien sie gewesen, der sei übrigens auch nicht besser als Pepe, da sei es höchstens heller, ungemütlicher und teurer. Da hätte sie das erste Mal gefragt, nach dem Wochenende hätte er ihr dann zugesagt. Zehn Tage später hätte sie ja schon losgewollt.“

      Sonja schien das als Gedächtnisprotokoll angefügt zu haben, so hatte sie das früher auch immer gemacht, indirekte Rede, viel Konjunktiv, sachlich, aber nicht streng dokumentarisch. Stojan mochte das, er konnte das so lesen, wie es gemeint war, auch wenn es nicht so exakt war wie das Formblatt.

      Jetzt überlegte er, ob es sich lohnen könnte, dem Augenarzt nochmal einen Besuch abzustatten. Hatte man die Arbeitskolleginnen befragt? Alle? In der Akte stand nur, sie hätten ausgesagt, mit Irene keinen privaten Kontakt gehabt zu haben. Im ersten Ausbildungsjahr hätten sie manchmal noch die Mittagspause zusammen verbracht, einen Salat beim Türken gegessen oder einen Cappuccino in der Eisdiele getrunken, da hätte sie auch mal etwas von zuhause erzählt, nichts Aufregendes oder Spektakuläres. Offenbar hatte

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