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und dem Anblick des architektonischen Grauens zu.

      Fünf Holzhäuschen in unterschiedlichen Graden der Verwahrlosung und ein kleiner Betonquader gruppierten sich im Halbkreis um ein massives, eingeschossiges Steingebäude von unfassbarer Hässlichkeit.

      Es war extrem schmal, schien aber seinen Mangel an Breite durch Länge wettmachen zu wollen. Es lag auf der Wiese wie eine riesige, eckige … Kreuzotter. Selbst die Farbe stimmte: Grau und schmutzfleckig, als schämte es sich so für seine Abscheulichkeit, dass es versuchte, sich zu tarnen. Es war das mit Abstand abstoßendste Bauwerk, das sie je gesehen hatte.

      Dagegen waren die Holzhäuschen zumindest aus ästhetischen Gesichtspunkten erträglich – wenn man davon absah, dass zwei der fünf wirkten, als hätte der Zahn der Zeit nicht nur an ihnen genagt, sondern sie halb aufgefressen. Zwischen den Holzbohlen wucherte Grünzeug, das sich in allen Vegetationsstadien befand: Blüten, Blätter, Früchte. Sogar die Dächer waren voller Gestrüpp! An den Treppen, die zu den kleinen, überdachten Veranden führten, fehlten bei den beiden Ruinenhütten die Stufen. Durch die Tür- und Fensterlöcher konnte man geradewegs ins Innere der Hütten sehen und durch ein Fensterloch an der Rückwand wieder hinaus in den Wald. In den Ruinen selbst drückten sich blühende Disteln durch den kaputten Boden.

      Sechs Wochen? Hier? Ohne jegliche technische Ausrüstung, die ihr digitales Ich ausmachte?

      Sie ließ den Blick weiterwandern, über die drei anderen Hütten, die intakt schienen, zu dem Betonquader, der den Gebäudehalbkreis auf der linken Seite abschloss und wie die kleine Schwester des Kreuzottern-Hauses wirkte.

      Mit etwas Mühe konnte man sich diesen Babyquader sogar schönreden – und sei es nur wegen des liebevoll handgemalten Schildes mit der gigantischen Schnörkelaufschrift Werkstatt, das über der Tür hing und so etwas wie Menschlichkeit ausstrahlte. Das Problem lag in der Mitte: die Cabin in the Woods.

      »Unser Haupthaus.« Frau Jorek wies mit dem Kinn darauf.

      »Ein Atombunker?«, entfuhr es ihr.

      Noomi machte ein komisches Geräusch, halb Lachen, halb Husten. Ryan tat nichts. Überhaupt war der ganz schön still. Trotzdem schaute Frau Jorek sie alle drei strafend an, aber im Ernst: Das Teil sah wirklich aus wie ein Bunker. Fettmaurig, düster und geduckt, strahlte es so viel Lebensfreude aus wie ein Gullyloch.

      »Ich hoffe, die haben den Architekten auch hier eingebuchtet. Das da ist jedenfalls eine Straftat«, höhnte sie.

      Noomi sah aus, als würde sie gleich losprusten, und Ryan, der unsichtbare Dritte in ihrem Bunde der Kriminellen, drängte sich an einen Baumstamm und schwieg weiterhin.

      »Das Haupthaus ist tatsächlich ein Prunkstück der DDR-Architektur«, erwiderte Frau Jorek kalt. Olympe hoffte, dass sie es ironisch meinte. »Es ist ein ehemaliges FDGB-Ferienheim.« Bevor sie nachfragen konnte, wofür die Abkürzung FDGB stand, ging der Vortrag schon weiter. »Dadrin sind der Gruppenraum mit Küche, mein Büro, mein Zimmer, die Waschräume und unser Lebensmittellager. Überhaupt ist das unser Aufenthaltsbereich, wenn die Witterung mal nicht mitspielt.«

      »Gemütlich.« Sie konnte sich den Kommentar nicht verkneifen.

      »Ihr seid nicht hier, um Urlaub zu machen«, gab Frau Jorek zurück.

      »Und wo wohnen wir?«, fragte Noomi.

      Wenn die nicht bald aufhörte zu lächeln, würde sie einen Anfall bekommen.

      »Ihr beide teilt euch Hütte 5.« Frau Jorek deutete auf das Holzhäuschen ganz rechts. »Und du …« Sie nickte Ryan zu, »wohnst gemeinsam mit dem vierten Teilnehmer in Hütte 4.«

      Teilnehmer? War das ihr offizieller Name hier? Nicht »jugendliche Straftäter« oder »Kriminelle«, sondern Teilnehmer?

      »Die Schlafhütten haben alles, was man braucht.« Frau Jorek sprach, als würde sie ihnen eine Luxussuite anbieten. »Sogar eine eigene Komposttoilette.«

      Sogar!

      »Duschen sind im Haupthaus und warmes Wasser gibt’s auch.« Sie wies auf das Dach des Kreuzottern-Gebäudes. »Die Solarzellen versorgen das Haupthaus nämlich mit Strom.«

      »Nur das Haupthaus?« Olympe schwante Fürchterliches. »Und unsere Hütten? Gibt’s da etwa kei…«

      »Für die haben wir einen Generator«, erklärte Frau Jorek. »Aber wir schalten ihn nur einmal täglich kurz an, vor der Bettruhe. Im Sommer ist es ja lange hell. – Durchgängig Strom gibt es also nur im Haupthaus.«

      Sie wollte sich wegbeamen. Zu einem Ort mit entschieden weniger Bäumen. Nach Hause. Zu Marie und Stefan und ihren Cousins Ole und Fabi. Zu ihren Computern. Zu Strom, der vierundzwanzig Stunden täglich verfügbar war, einer richtigen Toilette und ihrem Zimmer, das sie sich nicht mit einer Teilnehmerin teilen musste.

      Mitten in ihren Wunschtraum kreischte Noomi neben ihr auf, ihre Hände und Haare flogen, und etwas Dunkles zog lautlos in die Höhe. Olympe zuckte instinktiv zurück.

      »Was …«, stieß sie erschrocken hervor, »… war das denn?«

      »Es hat mich angefallen!« Noomi wischte sich hektisch den Kopf. Endlich, freute sich Olympe und wusste, dass sie gemein war, endlich mal keine Spur von Grinsen auf dem Gesicht.

      Frau Jorek schien ungerührt. »Wahrscheinlich eine verpeilte Hufeisennase.«

      Hufeisen-was?

      »Eine Fledermausart«, erläuterte Frau Jorek. »Kleine Hufeisennase, genau genommen. Gunnar kann euch dazu mehr erzählen.«

      Gunnar?

      »Der wohnt übrigens dort, zusammen mit Lara …« Sie wies auf Hütte 1, gleich neben der Baby-Kreuzotter-Werkstatt. »Die zwei lernt ihr nachher kennen. Die Fledermäuse sind jedenfalls harmlos, aber sehr unbeholfen, wenn man sie weckt. Wir haben viele davon, sie fliegen abends durchs Camp. Neben Hufeisennasen gibt’s hier noch Abendsegler und Große Mausohren. Sie schlafen in den Felshöhlen einen halben Kilometer von hier. Seid vorsichtig, wenn ihr welche in der Dämmerung seht, auf keinen Fall danach schlagen oder sie jagen – sie stehen auf der Liste der gefährdeten Arten und müssen geschützt werden.«

      Noomis Gesichtsausdruck machte mehr als deutlich, dass sie selbst sich für schützenswerter hielt als verpennte Fledermäuse mit komischen Namen.

      »Ist ja nichts passiert«, schloss Frau Jorek streng. »Und wie ich vorhin schon sagte: Gewöhnt euch dran. Die Wildnis gehört dazu.« Dann, in sanfterem Ton: »Alles klar?«

      Nein. So was von nein.

      »Und jetzt ab mit euch in eure Hütte. Auspacken! – Ryan?«

      Ryan? Stimmt, der war ja auch noch da.

      »Komm. Ich stell dir deinen Mitbewohner vor.« Ryan, noch immer schweigend, schlappte hinter Frau Jorek her zu Hütte 4.

      Komischer Typ, befand sie. Zu still. Stille Wasser waren nach ihrer Erfahrung beinahe genauso verdächtig wie unechte Menschen mit Dauergrinsen. Aber was wunderte sie sich überhaupt? Das hier war ein Strafcamp! Es war abzusehen gewesen, dass sie nicht auf Gandhi und Mutter Teresa treffen würde, oder? Die beiden hatten natürlich was auf dem Kerbholz!

      Sie holte tief Luft, wuchtete ihre Hundert-Kilo-Tasche hoch und steuerte die zugewiesene Hütte an.

      Ryan

      Die Hütte, zu der Frau Jorek ihn lotste, glänzte in der Nachmittagssonne. Sie nahm die zwei Stufen zur Tür, kreuzte mit einem Schritt die schmale Veranda und riss die Hüttentür auf, ohne anzuklopfen. Drinnen herrschte Dunkelheit.

      Sie schob ihn über die Schwelle. »Flix, hier kommt dein Mitbewohner! Denkt an die Kennenlernrunde!« Dann war sie weg.

      Es gelang ihm, die Tür mit dem Fuß abzufangen, ehe sie hinter ihm ins Schloss fiel. Seine Augen versuchten, sich den Lichtverhältnissen anzupassen, und nach einer Weile konnte er ein Bett ausmachen,

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