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was die Arbeitsstunden anging – verschleierte Sklavenarbeit war das! Man hatte dem Camp kurzerhand einen esoterischen englischen Namen gegeben und die Jugendlichen durften, statt im Strafvollzug zu sitzen, Blockhütten renovieren. Alles am Arsch der Welt, gleich an der Grenze zu Tschechien, wo es nichts gab als Bäume, Felsen und Gestrüpp.

      Dabei war er, wenn er seinem Vater glaubte, mit einer erstaunlich milden Strafe davongekommen. An dessen Einfluss hatte es nicht gelegen, der hatte sich geweigert, seine Kontakte für ihn spielen zu lassen. Warum er als Berliner Jugendlicher also ausgerechnet hier im sächsischen Wald gelandet war statt in Haft, war ihm ein Rätsel.

      »Wahrscheinlich ein Sozialexperiment«, hatte sein Vater gemutmaßt. »Sie stecken Delinquenten aus verschiedenen Stadtteilen und Milieus zusammen und schauen, was passiert. Gratuliere, mein Sohn.« In seiner Stimme nichts als Verachtung. Flix schauderte bei der Erinnerung daran.

      Auf dem Fensterbrett landete eine Amsel. Sie starrte zu ihm hinein, und als er sich bewegte, zischte sie davon.

      Berlin war knapp dreihundert Kilometer entfernt, aber gefühlsmäßig hätte Feel Nature auch auf einem anderen Kontinent liegen können. Weiter weg konnte man sich von der Großstadt nicht fühlen.

      »Muss ja«, hatte Diana, seine Stiefmutter, gesagt, »damit sie euch aus euren Strukturen lösen.«

      Seine äußere Struktur, das waren die Jungs in der Schule, seine innere war Juliane.

      Er hatte Diana von ihr erzählt, niemandem sonst. Am Anfang hatte er sie verachtet, dann bemitleidet. Erst nach seiner »Dummheit« (wie sein Vater es nannte), als er Hausarrest bekam und Diana zu seiner Überwachung abkommandiert wurde, begann er, sie zu mögen. Sie brachte ihn jeden Tag zur Schule und holte ihn wieder ab – nicht ohne sich tausendfach dafür zu entschuldigen. Was hätte sie sonst tun sollen? Seinem Vater, ihrem Mann, nicht zu gehorchen, war keine Option. Sie waren gefangen, beide, wenn auch auf verschiedene Arten.

      Eines Tages, als er besonders aufgewühlt aus der Schule kam, hatte er sich ihr anvertraut. Und sie schien es zu genießen, mit ihm gemeinsam ein Geheimnis vor seinem Vater zu haben: Juliane.

      X

      Endlich!

      Ich habe so lange warten müssen, so lange!

      Aber als sie aus dem Wald auf die Lichtung treten, weiß ich, dass sich das Warten gelohnt hat.

      2. KAPITEL

      In den Wäldern

      Ryan

      Eine halbe Stunde waren sie schon unterwegs. Er kam mit seinem Rucksack gut voran – im Gegensatz zu den beiden Mädchen. Es war ihm ein Rätsel, nach welchen Gesichtspunkten die ihre Sachen gepackt hatten. In seinem Rucksack steckte quasi alles, was vorzeigbar war. Auf den Rest, den er zu Hause zurückgelassen hatte, konnte er gut verzichten. Er rupfte im Vorbeigehen ein Blatt ab, zerrieb es zwischen den Fingern und roch – wildes, frisches Grün.

      Obwohl im Infobrief gestanden hatte, dass sie durch den Wald zum Camp laufen würden, hatte diese Olympe sich die riesigste ihrer Taschen ausgesucht. Das Teil war natürlich so schwer, dass sie es dauernd schimpfend von einer in die andere Hand wechselte. Das andere Mädchen – Noomi – wirkte entspannter, obwohl sie ihren Koffer ebenfalls tragen musste, denn zwischen all den Wurzeln und Tannenzapfen nützten die Rollen natürlich nichts. Sie summte die ganze Zeit vor sich hin, was ihm gefiel. Das Summen schien seine Schritte leichter zu machen, mehr Energie in seine Muskeln zu leiten; einen Moment lang fühlte er sich fast frei.

      Dann, plötzlich, erstarrte Olympe vor ihm. Sie ließ die Tasche fallen und kreischte, beides gleichzeitig, und war mit einem Sprung zwischen den Bäumen verschwunden. Nur ihr Arm blieb sichtbar, der ausgestreckte Zeigefinger auf den Weg gerichtet.

      »Bitte sagt, dass das nicht wahr ist«, rief sie aus der Deckung heraus. »Sagt, dass ich halluziniere. Solche Viecher gibt’s in fernen exotischen Ländern, aber doch nicht … hier!«

      Auch Frau Jorek und Noomi waren stehen geblieben und folgten Olympes Finger mit den Blicken.

      »Na, ihr habt vielleicht Glück!« Frau Jorek klang begeistert.

      Endlich entdeckte auch er den Grund für die Aufregung: einen hellgrau-dunkel gemusterten halben Meter Schlange, der sich langsam über den Weg ins Gebüsch wand.

      »Eine Kreuzotter«, erklärte Frau Jorek. »Sehr scheu. Man begegnet ihnen viel seltener als Ringelnattern. Nattern werdet ihr hier jedenfalls öfter sehen. Die liegen oft im Gras und sonnen sich.«

      »Sie sonnen sich?«, echote Olympes Stimme aus dem Gebüsch. »Nicht Ihr verdammter Ernst!«

      »Wow, voll wild hier.« Noomi hatte aufgehört zu summen.

      Frau Jorek sagte: »Gewöhnt euch dran. Die Wildnis ist Teil des Projekts.« Sie drehte sich um und stapfte weiter. »Los jetzt. Ein Viertelstündchen noch.«

      »Giftschlangen!«, knurrte Olympe, als sie sich aus dem Schutz der Bäume herauswagte. »Großartig.« Dann hievte sie die Tasche wieder hoch und folgte Noomi.

      Er bog die Zweige des Gebüschs auseinander, unter dem die Schlange verschwunden war, aber sie war weg. Schade. Er ruckelte seinen Rucksack zurecht, sog den warmen Waldgeruch ein und schloss zu den anderen auf.

      Nach einer Ewigkeit lichteten sich die Bäume, die Büsche rechts und links des Weges wichen zurück und endlich traten sie auf eine Lichtung.

      Sonne. Eine Wiese, mindestens hundert Meter Weite.

      »Da sind wir.« Frau Jorek drehte sich zu ihnen um. »Willkommen bei Feel Nature!«

      Sie breitete die Arme aus und auf ihrem Gesicht lag ein Strahlen. Kurz nur, ganz kurz, dann erinnerte sie sich offensichtlich an ihre Aufpasserrolle. »Das ist für die nächsten sechs Wochen euer Zuhause.«

      Zuhause, dachte er. Nun ja.

      Olympe

      Ungläubig blieb sie stehen und ließ ihre tonnenschwere Tasche auf den Boden plumpsen. »Das ist ein Scherz, oder?«

      Noomi hörte endlich auf zu summen, drehte sich zu ihr um und fragte grinsend: »Haste die Website nicht gecheckt?«

      Noomi schien das witzig zu finden, aber Olympe hatte sie längst durchschaut. Leute, die permanent gute Laune verbreiteten, hatten etwas zu verbergen, irgendeine finstere Seite.

      »Klar hab ich die gecheckt«, erwiderte sie spitz. »Aber du musst ja wohl zugeben, dass da alles schicker ausgesehen hat, moderner, nicht so …«, sie stockte kurz, »… abgeranzt.« Olympe hasste Photoshop fast genauso wie unechte Menschen. Unecht wie Noomi mit ihrem aufgesetzten Summen und Dauergrinsen. Dann lieber eine gepflegte schlechte Laune, wie Frau Jorek sie zeigte, fand sie. Da wusste man wenigstens, woran man war.

      Noomi ließ sich nicht verunsichern. »Wenn du mich fragst …« Sie ließ den Blick demonstrativ schweifen. »… ist das der ideale Drehplatz für den zweiten Teil von Cabin in the Woods.«

      Noomi kannte Cabin in the Woods? Interessant. Wer Horrorfilme liebte und Humor hatte, konnte nicht komplett bescheuert sein. Olympe knetete ihre schmerzenden Hände und nahm das andere Mädchen näher in Augenschein.

      Eine Riesenwolke dunkler Locken reichte Noomi bis zur Taille. Sie mussten beide ungefähr gleichaltrig sein, aber die andere war einen guten Kopf kleiner und etwas runder. Niemals hätte sie Noomi zur Fraktion Horrorfilm gepackt, sie wirkte eher wie … Liebesfilm. Oder Musical. Nein – eine Mischung aus beidem. Bollywood. Ja, das war’s: Bollywood. Das ganze Gesinge und Gegrinse.

      Als ob Noomi ihre Analyse beenden wollte, begegnete sie ihrem Blick. Fassungslos starrte Olympe zurück. Noomi hatte die krassesten Augen, die sie je gesehen hatte. Orangefarben.

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