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unmöglich gedeihen. Demokratie benötigt das Vakuum »Freiheit«, das Kampfareal zwischen Staat und Volk. Doch nicht nur das Volk fordert unentwegt soziale Reformen. So wie der Debitismus immer neue Bedürfnisse wecken muss, um zu überleben, so müssen auch die demokratischen Parteien immer neue Bedürfnisse im Volk wecken, zu deren Durchsetzung sie selbst gewählt werden sollen. Eine Partei, die alle ihre Vorhaben durchgesetzt hat, ohne neue Bedürfnisse zu wecken, d.h. neue Wege zu gehen, hat im demokratischen Spektrum keine Chance auf Wiederwahl. Diese Dynamik ist es, durch die das Volk dem Staat schließlich immer mehr Freiheiten abtritt – zugunsten von Sicherheit, kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und staatlicher Regulierung. Am Ende tauscht es die Demokratie selbst ein, wieder zugunsten eines Gefühls von Sicherheit.

      Darüber hinaus gibt es keine Staatsform, die in derart kurzer Zeit derartige Komplexitätszuwächse im Inneren zu verzeichnen hat. Um das zu verstehen, müssen wir etwas vorgreifen. In der menschlichen Frühgeschichte waren Menschen Nomaden. Probleme wie Ressourcenknappheit konnten durch Wanderung umgangen werden. Es gab keinen Bedarf an Problemlösungsstrategien, was auch einer der Gründe war, weshalb sich Jäger- und Sammler-Stämme für Jahrzehntausende, teilweise bis zum heutigen Tag, nicht weiterentwickelten. Erst mit der Sesshaftigkeit war man an die Scholle gebunden und musste Lösungen für auftretende Probleme finden. Mit der gewaltsamen Implementierung des Staates potenzierte sich das Problem der permanenten Problemlösung, weil zur Bedienung der Urschuld die Bedienung der Steuerschuld hinzukam, d.h. zusätzlich zum ständigen Ungleichgewicht der Natur kam das ökonomische, montäre und soziale Ungleichgewicht der staatlichen Organisation hinzu. Es entsteht das, was der Anthropologe und Historiker Joseph Tainter in seinem Buch »The Collapse of Complex Societies« als »problemsolving society« bezeichnet. Das Problem an gesellschaftlichen Problemlösungen ist, dass sie in den allermeisten Fällen den Komplexitätsgrad erhöhen – sie lösen zwar das Problem in der Gegenwart, was aber auf ein System, das ständig im Fluss und niemals statisch ist, rekursiv zurückwirkt und es zu weiteren Problemlösungen zwingt. Auch hier gibt es, wie in allen Bereichen des materiellen Seins, eine »Positiv-Negativ-Bilanz« oder wie Einstein es formulierte: »Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen.« Gesellschaftliche Probleme zu lösen geht meist mit einer Zunahme von hierarchischer Kontrolle, finanzieller Belastung, Verwaltungskosten, Bürokratie und militärischen Kosten einher. All das lässt die Komplexitätskosten zur Verwaltung des Komplexitätsgrades anschwellen. Technische Errungenschaften, wie sie vor allem der Kapitalismus als letztes Stadium einer Kultur hervorbringt, sind nichts anderes als eine systemische Notwendigkeit zur Verwaltung der angewachsenen Komplexität. Das Problem dabei ist, dass diese technischen Errungenschaften ihrerseits nicht weniger komplex sind und sein können als die veraltete Technologie. Dazu gehört auch die Substituierung unkomplizierter Energiequellen durch teurere, komplexere. So muss das Bildungssystem gestärkt werden, um das »Know-how« zur Entwicklung der Technik zu erhalten. Menschen müssen sie warten und reparieren können. Der Staat muss die neue Technik in der Gesetzgebung berücksichtigen, was das Beamtenheer vergrößert. Juristen müssen entsprechend geschult und ausgebildet werden. Die Energiekosten zur Bedienung werden steigen und letztendlich wird der Kulturraum von dieser Technologie abhängig und weiter darauf aufbauen, was den Bedarf an Problemlösungen exponentiell anwachsen lässt. Das Gleiche gilt für die notwendigen sozialen Errungenschaften zur Stabilisierung der Staatsmacht, welche die Verwaltungskosten hochtreiben, den Beamtenapparat weiter aufblähen, die Gesetzgebung verkomplizieren usw. Dabei entstehen aber wieder neue Probleme wie beispielsweise ökonomische Ungleichgewichte, Anreizprobleme durch die Alimentierung, Missbrauch des Systems und auf diese muss der Staat abermals reagieren. All das erzeugt Kosten und wachsende Komplexität. Das Problem dabei ist, dass die Kosten der Problemlösung sich ständig erhöhen, während der Nutzen sukzessive abnimmt. Der Grund dafür ist, dass eine zunehmende Komplexität mit einer zunehmenden Anzahl von Angriffsstellen für potentielle Probleme einhergeht. Übersteigen erst die Kosten den Nutzen, kommt es zum Kollaps.

      Besonders veranschaulichen lässt sich das am Beispiel der Globalisierung und dem hernach folgenden Imperialismus. Je größer das Staatsgebiet wird, um neue Besteuerungsbasen zu finden (Globalisierung) bzw. andere Staaten ökonomisch auszubeuten (Imperialismus), desto kleiner wird der monetäre Nutzen relativ zur Größe des Reichs. Nicht nur die Angliederung oder Eroberung selbst kostet Geld – zedierte oder annektierte Gebiete müssen verwaltet oder militärisch unter Kontrolle gehalten werden, um die Loyalität bzw. die Unterwerfung zu sichern, es müssen komplizierte bilateriale Verträge ausgearbeitet werden, oppositionelle Bewegungen (Globalisierungsgegner bzw. Rebellen) müssen niedergehalten werden usw. All das verursacht Kosten bei stetig sinkendem Ertrag. Komplexität lässt sich aber nicht einfach so rückabwickeln bis zu dem Punkt, an dem sie wieder leistbar ist. Es liegt im Wesen der Komplexität, dass sie zu weiten Teilen irreduzibel ist, dass also eine Komplexitätsreduktion, ob bewusst eingeleitet oder durch ein Steigen der Grenzkosten ausgelöst, andere Strukturen und entstandene Subsysteme ungewollt wie Dominosteine mitreißt. Deshalb bleibt eine Komplexitätsreduktion auch nicht auf halber Strecke stehen, sondern ein Zahnrad greift ins nächste und das betreffende Reich desintegriert über Jahrzehnte und Jahrhunderte, oder wie Joseph Tainter sein Werk zusammenfasst: »Ein Problem kommt, man löst es. Dann kommt das nächste, und man löst es auch. Alle diese Probleme treten auf und sie werden schrittweise gelöst, eines nach dem anderen. In der Zwischenzeit steigen die Gesamkosten, sie schleichen sich immer weiter an einen heran, bis man einen Punkt erreicht, wo man es sich mehr leisten kann, die Art Gesellschaft zu sein, die man geworden ist. Das ist so mit einigen antiken Gesellschaften geschehen und man muss darüber beunruhigt sein, dass wir denselben Weg gehen.«1

      Hat sich der paläolithische Nomaden-Stamm noch mit den Unwägbarkeiten des Lebens abgefunden und der neolithische Bauernstamm kleine Anpassungen über einen Zeitraum von mehreren Generationen vorgenommen, wird die Problemlösung in einem Machtsystem zur Staatsräson und schließlich im Endstadium einer Kultur, der Demokratie, zum alles bestimmenden Merkmal. In keiner anderen Organisationsform wächst die Komplexität einer Gesellschaft rascher als in der Demokratie, weil dort der Staat zum Vehikel des Volkes für kurzfristige Problemlösungsstrategien wird und sich dieser auch als solcher anbieten muss, um der Demokratie ihre Existenzberechtigung zu geben. Das Zusammenspiel des debitistischen Bedürfnisgenerators (Schuldendruck), der Demokratie als Werkzeug der Problembehebung und Bedürfniserfüllung und der Medien als Verstärker und Skandalisierer des gesellschaftlichen Unbehagens, führt zu einem regelrechten Wettkampf der Parteien, die führende Rolle als Interessensvertreter des Volkes bzw. einer bestimmten Bevölkerungsschicht zu erringen. Dieser Schauplatz der öffentlichen Erregung, Debatte und Problemlösungsstrategie ist aber für den Staat grundsätzlich willkommen, um von den wirklich wichtigen Entscheidungen (Geopolitik, Außenpolitik, Ökonomie), die vom demokratischen Prozess ausgenommen sind, abzulenken.

      Jeder demokratisch legitemierte Staatseingriff, der notwendigerweise die Eigenverantwortung aushebelt, führt auf längere Sicht zwingend zu einem neuen Eingriff, da Staatseingriffe in einem dynamischen System immer und ausnahmslos duale Auswirkungen haben.1 So führen beispielsweise prekäre Bedingungen am Arbeitsmarkt zu gewerkschaftlichen Maßnahmen wie dem Kündigungsschutz und den Kollektivlöhnen. Diese wiederum sorgen dafür, dass in Zeiten ökonomischer Stagnation die Arbeitslosigkeit stärker steigt, weil Firmen länger zögern, jemanden einzustellen, wenn sie ihn vielleicht ein Jahr später nicht mehr brauchen. Mehr Arbeitslose benötigen wiederum mehr Arbeitslosenunterstützung und einen größeren Beamtenapparat, was durch Staatsverschuldung (= zukünftige Ausbeutung der Mittelschicht und des mittelständischen Unternehmertums – die wirklich Reichen greift man aufgrund von Parteispenden, Bestechungsgeldern und Lobbys ungern an) finanziert wird. Mehr Arbeitslose schaffen wiederum ein Wählerpotential, auf das die demokratischen Parteien angewiesen sind, sodass diese gezwungen sind, der nichtarbeitenden Schicht weitere Zugeständnisse zu machen. Das wiederum führt zu Missbrauch im System, der zur Unterbindung nach weiterer gesetzlicher Reglementierung schreit. Das verlangt nach einer Aufstockung des Verwaltungsapparates, was die Beamtenschicht vergrößert, die wiederum eine Wählerklientel darstellen, auf das der demokratische Staat Rücksicht nehmen muss. Die darauf folgende höhere Besteuerung der Mittelschicht zur Finanzierung des Sozialstaates ruft in Folge die Gewerkschaft für die Lohnerhöhungen auf den Plan. Das führt in der Folge zu einer vermehrten Abwanderung von Unternehmen in billiger produzierendere Länder und wenn der Staat

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