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Der Mann aus Samangan. Heidrun Wolkenstein
Читать онлайн.Название Der Mann aus Samangan
Год выпуска 0
isbn 9783347149496
Автор произведения Heidrun Wolkenstein
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
In meiner Wohnung angekommen, setzte er sich auf meine Couch. Auch Felix spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war und verzog sich unsicher auf seinen Platz. „Gibt es nicht doch noch irgendeine Möglichkeit?“, fragte ich ihn. „Frankreich“, antwortete er. „Bleib doch wenigstens noch bis zum 16. April. Vielleicht finden wir doch noch einen Weg?“, flehte ich ihn an. „Nein, es hat keinen Sinn“, entgegnete er. „Ich habe mich entschieden. Diese Woche bin ich noch da. Ich muss mich von so vielen Leuten verabschieden und so viel vorbereiten und am nächsten Freitag bin ich weg.“ Verzweifelt umarmte ich ihn. Wir waren beide verzweifelt und zutiefst traurig. Ich spürte, wie er seine Traurigkeit verbergen wollte und krampfhaft versuchte, stark zu sein. Traurig und enttäuscht von irgendwelchen Marionetten, die in den Gerichten und Behörden stumm und ohne Gedanken ausführten, was eine Regierung bestimmte. Die Regierung legte fest, wie viele Afghanen zurückgeschickt werden mussten. Es gab einen Deal der EU mit dem afghanischen Präsidenten. Er erhielt von der EU elf Millionen Euro, damit er seine Flüchtlinge zurücknahm. Es war völlig egal, ob die Afghanen integriert und arbeitswillig waren oder nicht. Es war auch egal, mit welchen Problemen und Todesängsten sie hierher nach Europa gekommen waren und unter welchen gefährlichen Bedingungen sie überhaupt die Reise angetreten haben. Das teuflische Kontingent, die Rückführung in ein zerstörtes Land, das sich seit Jahrzehnten im Krieg befand, musste wegen dem Blutgeld erfüllt werden. Die Richter bekamen eine klare Anweisung, wie viele Afghanen einen negativen Bescheid erhalten mussten. „In Afghanistan töten sie dich, wenn du Glück hast, durch eine Kugel oder durch eine Bombe. Aber hier in Europa töten sie dich mit dem Kugelschreiber“, erklärte er mir. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Ich glaube, der Mord mit dem Kugelschreiber ist schlimmer, weil der Mensch, der mit diesem Stift dein Schicksal besiegelt, weiß gar nicht, dass er dich damit eigentlich direkt getötet hat!“, sagte er traurig. Einmal erzählte mir eine Flüchtlingshelferin, dass sie bei einer Verhandlung dabei war. Ihr Schützling erzählte eine so ergreifende Geschichte aus seinem Leben, sodass alle Anwesenden, einschließlich der Richterin, weinten. Trotzdem hat er einen negativen Bescheid erhalten. Der Mensch – ein Leben - und was damit weiter passiert, ist völlig egal für diese dunklen Mächte, die uns befehlen, wie wir zu denken – und sogar zu fühlen haben. Es wurde mir an diesem Abend auf jeden Fall klar, dass ich nicht mehr länger zu diesem dunklen System gehören möchte. Mich nicht mehr von einem System schikanieren und ängstigen lassen möchte, das jeden Respekt vor dem Leben und vor wahren Werten verloren hat, oder vielleicht nie hatte. Ein System, das beherrscht wird von einer dunklen, machtgierigen Elite, die nur das Beste für sich selbst wollte und für die wir nicht mehr, als auszubeutende Nutztiere sind. Am besten wäre es, wenn wir gleich einen Monat nach Pensionsantritt sterben könnten, damit wir dem Staat nicht zu viel Geld kosten. Aber daran arbeiteten sie ohnehin schon die längste Zeit. An der gezielten Eliminierung von nutzlos gewordenen Menschen. Nein, ich wollte nicht mehr zu diesem System gehören! Der Wunsch, frei zu sein und das zu tun, was meine innere Stimme sagte, wurde an diesem Abend so laut wie noch nie zuvor. Ich habe in meinem, nicht ganz so leichten Leben immer wieder gelernt, dass diese innere Stimme der einzige richtige Vertraute ist, den ich habe und auf den ich bedingungslos hören sollte.
An jenem Abend war er nicht gekommen, um mit mir zu schlafen. Wir saßen nur einfach auf der Couch und hielten uns fest. Es war einer der schlimmsten Abende meines Lebens. Nicht weniger schlimm als der Abend nach der Hiobsbotschaft meiner Ärztin. Kurz vor 22.00 Uhr wollte er dann plötzlich wieder zum Bahnhof. „Aber warum?“, fragte ich ihn enttäuscht. „Jetzt habe ich dich erst vor zwei Stunden abgeholt und jetzt willst du schon wieder weg? Bleib doch wenigstens diese Nacht bei mir!“ Ich war den Tränen nahe und es gelang mir kaum, sie zurückzuhalten. „Nein“, sagte er leise. „Ich muss morgen ganz früh raus und noch jemandem helfen.“ Ich konnte nicht verstehen, dass er wirklich einfach so gehen wollte. Alles in mir fühlte sich so hilflos und so schlecht an. „Okay, dann fahre ich dich morgen ganz bald in der Früh direkt nach Hause“, entgegnete ich ihm. Aber auch das wollte er nicht. „Komm, fahr mich jetzt bitte. Sonst gehe ich zu Fuß“, befahl er traurig. Seine Stimme klang so hoffnungslos, dass es mir fast das Herz zerriss. Also fuhr ich ihn zum Bahnhof und auf dem Weg dorthin, bettelte ich ihn immer wieder an, ihn direkt zu seiner Wohnung fahren zu dürfen. Aber er blieb stur. Er ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. Mein Herz schmerzte so stark, als er sich nur mit einem Küsschen verabschiedete und aus meinem Wagen stieg. „Bitte!“, rief ich ihm nach. „Wenn du ohnehin nur noch eine Woche da bist! Dann lass uns doch wenigstens noch einmal treffen!“ Farid überlegte kurz und antwortete dann: „Vielleicht.“ Dann ging er und endlich durften sich meine Augen mit heißen Tränen füllen. Ich schluchzte laut auf und ließ die heißen Tränen einfach über meine Wange laufen. Während ich losfuhr, rief ich Sabrina an. Ich konnte unmöglich jetzt einfach nach Hause fahren! Ich war kaputt und der Schmerz war zu groß. Gottseidank! Sabrina hob ab. Sie war zu Hause. Ich fuhr zu ihr. Es war eine halbe Stunde Fahrt, in der ich Tausende von Tränen weinte. Sabrina war schon sehr müde, als ich bei ihr ankam. Sie öffnete mir im Bademantel. Ich erklärte ihr die ganze Situation und natürlich wusste auch sie keinen Rat. Aber es war gut, es einfach jemandem zu erzählen. Es war besser, als nach Hause zu fahren. Gegen Mitternacht war sie schließlich so müde, dass ich ihr meine Anwesenheit auf keinen Fall länger antun wollte. „Du, ich wünsche dir alles Gute“, sagte Sabrina zum Abschied und umarmte mich. Ich erkannte, dass mir das Gespräch mit ihr nicht geholfen hat. Ich fühlte mich um nichts besser als vorher. Was sollte sie schon sagen? Sie konnte mir doch auch nicht helfen! Auf dem Heimweg parkte ich mein Auto noch einmal kurz an den Rand. Es war mir immer noch nicht möglich, nach Hause zu fahren. Was sollte ich dort schon machen? Ich konnte heute sowieso nicht schlafen! Wen könnte ich kurz vor Mitternacht kontaktieren? Samir kam mir in den Sinn. Samir ist auch Afghane. Aber einer, der mehr Glück hatte, weil er schon länger in Österreich war. Damals gab es diese blutige Vereinbarung mit dem Präsidenten noch nicht. „Einen Afghanen kannst du immer anrufen, auch nachts! Wir sind immer wach!“, hat er einmal zu mir gesagt. Also kontaktierte ich ihn. Er hatte kein Problem damit, sich noch mit mir zu treffen. Wir trafen uns auf einem öffentlichen Parkplatz in der Stadt. Dort ließ ich mein Auto stehen und stieg in seinen weißen Audi. Der Glückliche hatte schon vor einigen Jahren einen positiven Bescheid mit Daueraufenthalt vom Staate Österreich bekommen. Ich erklärte Samir, warum ich so verzweifelt war und erwartete von ihm irgendeine Antwort – irgendeine Lösung. Aber er meinte nur, dass Farid keine andere Möglichkeit hat, außer nach Italien oder Frankreich zu fahren. Gemeinsam holten wir noch Ismat ab. Auch er war noch munter und quietschvergnügt. Ismat hatte einen Bruder in Frankreich. Er erzählte uns, dass es seinem Bruder in Frankreich überhaupt nicht gut ging, denn dieser hatte auch dort noch keinen Bescheid. Und so fuhren wir zu dritt durch die Stadt. Einfach ziellos durch die Straßen, weil Samir sowieso gerne mit seinem neuen Audi in der Gegend herum fuhr. Die beiden konnten mir weder helfen noch mich trösten. Trotzdem war es gut, mit jemandem zu reden und nicht alleine zu sein. Mit jemandem, der auch Ahnung von der Problematik hatte. Und außerdem würde ich ohnehin nicht schlafen können. Sabrina war meine Seelenschwester, meine beste Freundin, aber es hatte keinen Sinn, mit ihr darüber zu reden, weil sie keinen blassen Schimmer von Flüchtlingen und Asyl hatte. Sie konnte mir keinen Rat geben und stellenweise fehlte ihr auch das Verständnis für die Situation. Sie konnte sich nicht in die Lage eines Menschen versetzen, der aus seiner Heimat flüchtet, um zu überleben. Immer wieder suchte sie den Vergleich zu unseren Leuten. Ich möchte ihr das nicht zum Vorwurf machen, aber in Bereichen, wo ich keine Ahnung habe, fällt es mir ja auch schwer, jemandem etwas zu raten. Die Zeit verging schnell und dann war es plötzlich 4.00 Uhr morgens. Ismat war müde. Er wollte nach Hause und so trennten sich unsere Wege wieder.
Der