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ließ sie sich rollen, freute sich darüber, wie schnell sie wurde, und über den Wind, der ihr ins Gesicht blies. Unten angekommen, begann sie, in die Pedale zu treten.

       Was für ein Leben!

      Der Weg ins Dorf führte am Meer entlang und Marit kam es vor, als würde sie fliegen. Der Asphalt glitt unter ihren Rädern hinweg, der Wind wehte ihr die offenen Haare aus dem Gesicht und trieb ihr das Blut in die Wangen. Kreischende Vogelschwärme brachten sich in Sicherheit, wenn sie auf sie zugeschossen kam, und links von ihr klatschten die Wellen gegen die Buhnen. Es war klar und sonnig, so ganz anders als am Tag zuvor oder in der Nacht. Als hätte der nächtliche Sturm die ganze Welt sauber geblasen und jetzt war für nichts mehr Platz außer für Sonnenschein. An diesem Tag konnte man glauben, dass der Frühling schon da war, wie der Kalender es behauptete. Noch ein paar Wochen und die ersten Ostertouristen würden in den Ort einfallen. Bis dahin wollte Marit sich hier eingelebt haben.

      Sie kam schnell voran, zumindest dafür, dass sie überhaupt nicht im Training war. Sie erreichte Nordersiel schon nach zwanzig Minuten und war nicht einmal besonders aus der Puste. Wahrscheinlich werde ich noch schneller sein, wenn ich erst einmal ein bisschen Übung habe. Entspannt ließ Marit sich die Hauptstraße entlang rollen. Es war Sonntag und das einzige Geschäft, das offen hatte, war eine kleine Bäckerei. Marit nahm sich vor, dort auf dem Rückweg eine Kleinigkeit zu kaufen, aber jetzt wollte sie sich erst einmal den Ort ansehen. Der Zweck ihres heutigen Ausfluges war nicht so sehr, wirklich etwas zu erledigen, sondern vielmehr, sich gründlich umzuschauen. Immerhin hatte sie vor, ihre nächsten Lebensjahre hier zu verbringen, da half es, sich ein wenig vertraut zu machen.

      Eine Apotheke, eine kleine Post mit Schreibwarenladen, das obligatorische Meerwasserwellenbad, eine touristisch orientierte Fußgängerzone mit typischem Fischerhafen, Ärzte, ein Einkaufszentrum … der Ort war gut ausgestattet. Zwei kleine Hotels lagen in der Nähe des Hafens und Marit passierte unzählige Schilder, die auf freie Ferienwohnungen hinwiesen. Vorbei an der Eisdiele und dem Fischverkauf ging es weiter: Teeladen, Fahrradverleih, noch ein Andenkenlädchen, ein Naturschutzzentrum und – ein verwittertes Holzschild. Irgendetwas an diesem Schild schien eine kleine Glocke in ihrer Erinnerung anzuschlagen. Marit bremste, setzte die Füße auf den Boden und studierte das Schild. Das Holz war weich und dunkel und hätte sicher schon längst erneuert werden müssen. Die eingeritzten Buchstaben waren verwaschen und nur noch schlecht zu lesen, doch Marits Erinnerung half ihr beim Entschlüsseln. »Ferienwohnungen Booken«.

      Sie musste lachen. Booken. Die Ferienwohnung, in der Janna und sie damals gewohnt hatten, war von der etwas schrulligen, aber herzlichen Frau Booken vermietet worden. Marit konnte sich noch an ihre vielen Gespräche mit der Frau erinnern. Frau Booken war niemand, der viel davon hielt, Abstand zu ihren Urlaubsgästen zu halten.

      Einen Moment lang blieb Marit unter dem Schild stehen. Auf einmal war sie von dem starken Bedürfnis erfüllt, Frau Booken zu besuchen. Sicher erinnert sie sich gar nicht mehr an mich, ging es ihr durch den Kopf. Janna und ich waren doch nur ein paar von Tausenden Urlaubsgästen und das Ganze ist vierzehn Jahre her.

      Dennoch wandte sie den Lenker ihres Fahrrads in die Richtung, in die das Holzschild wies, und begann, in die Pedale zu treten.

      Die Wohnung lag ein ganzes Stück außerhalb, zwar in der Nähe der Uferpromenade, aber nicht so nahe am Ortszentrum, dass man sich von den Touristen eingeengt fühlte. Marit folgte einem Weg den Deich entlang, vorbei an alten krummen Bäumchen und unzähligen Schafen. Hier, direkt hinter dem Deich, war die Luft merkwürdig still und der Meergeruch kaum wahrnehmbar, nur die Schreie der Möwen und das leise Rauschen bewiesen, dass das Wasser noch in der Nähe war. Die Sonne schien warm auf Marits Gesicht, und sie kam beinahe ein wenig ins Schwitzen. Schließlich — nach einer gefühlten Ewigkeit — passierte sie einen Deichübergang, an dem ein weiterer Wegweiser auf das »Strandzentrum« hinwies. Marit erinnerte sich an das erste Mal, als sie es gesehen hatte, verwundert darüber, dass es ein »Strandzentrum« geben konnte, ohne einen richtigen Sandstrand. Janna war enttäuscht gewesen, hatte sie sich doch kilometerlange Sandflächen vorgestellt und stattdessen ein betoniertes Ufer mit ein paar wenigen Sandkisten vorgefunden. Aber das Zentrum hatte sie dann vollkommen dafür entschädigt. Es war eine eher kleine Einrichtung für diesen abgelegenen Teil des Strandes, aber im Sommer war dennoch viel los gewesen. Von hier aus starteten diverse Aktivitäten wie Wattwanderungen und Exkursionen ins Inland. Und natürlich gab es das Kinderprogramm für alle Kinder, deren Eltern sich mal ein wenig ausruhen wollten. Marit schauderte ein wenig, als sie daran zurückdachte.

      Nur wenige Meter hinter dem Wegweiser stieß sie auf die kurze Einfahrt, die zu dem Häuschen hinter dem Deich führte, an das sie sich so gut erinnern konnte. Ein weiteres Holzschild – dieses hier deutlich neuer — verkündete »Ferienwohnung frei«.

      Marit bog in die Einfahrt ab, rollte vorbei an einer kleinen Buchsbaumhecke und bremste gerade dort, wo sich die Hecke zum Garten hin öffnete. Ein Blick hinein sagte Marit, dass sich hier nicht viel geändert hatte. Der Rasen war zu dieser Jahreszeit vielleicht ein bisschen weniger grün als in jenem Sommer und der knorrige Apfelbaum war ein Stück gewachsen, aber nicht viel.

      Ansonsten herrschte das wilde Pflanzenchaos, das ihr an diesem Häuschen damals schon so besonders gut gefallen hatte. Anscheinend hatte derjenige, der den Garten angelegt hatte, mit viel Liebe, aber nicht besonders viel gärtnerischem Verstand gearbeitet. Die Rasenfläche in der Mitte, auf der stolz der Apfelbaum aufragte, wurde umrahmt von allerlei Stauden, Büschen und kreuz und quer wachsenden Blumen, die damals in allen möglichen Farben geblüht hatten. Die Stauden waren dick und teilweise mit Unkraut durchsetzt, die Büsche sahen aus, als würden sie nur alle Jubeljahre mal beschnitten, das Ganze wirkte wie ein halbwilder Dschungel, der nur darauf wartete, sich auf den ordentlichen Rasen und das Häuschen dahinter zu stürzen.

      Es war ein Ziegelbau, wie so viele hier an der Nordsee, mit tiefgezogenem Dach und kleinen weißen Fenstern. Vielleicht war es mal ein sehr kleiner Hof gewesen oder ein Tagelöhnerhaus, jedenfalls stand das Haus sicher schon lange hier, sehr viel länger als Touristen Urlaub machten. Hinter den Fensterchen reihte sich noch immer die ihr allzu bekannte Ansammlung von Nordseekitsch. Ausgesägte Holzmöwen, Plastikleuchttürme, verfilzte Wollschafe und Muscheln über Muscheln. Marit musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie Janna einmal voller Ernst darauf hingewiesen hatte, dass die meisten dieser Muscheln an der Nordsee gar nicht vorkamen.

      Es war ein seltsames Gefühl, den kurzen, gepflasterten Weg zum Eingang entlangzulaufen. Marit fühlte sich, als sei sie zwei Personen gleichzeitig, die junge Frau mit dem Kind an der Hand und … ja, was war sie jetzt eigentlich? Alt? So fühlte sie sich nicht. Oder nicht mehr.

      Sie klingelte und lauschte auf das vertraute Geräusch der Glocke im Haus. Eine Zeit lang blieb alles ruhig und Marit glaubte schon, dass niemand zu Hause war, dann konnte sie schemenhaft eine Gestalt hinter der Glasscheibe der Tür ausmachen und gleich darauf wurde sie aufgezogen.

      »Moin.« Die Stimme der Frau klang fragend, ein wenig verunsichert, als wüsste sie nicht genau, was sie von Marit halten sollte. Doch noch bevor Marit etwas sagen konnte, hellten sich die Züge der Frau merklich auf. »Sie kenn’ ich doch, Sie waren …« Sie ließ den Satz einen Augenblick lang in der Luft hängen und suchte ganz offensichtlich in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Namen. »Sie waren die mit dem kleinen Mädchen. Janna? Ich erinnere mich noch an Sie. Das ist aber schon lang her … fünfzehn Jahre?«

      »Vierzehn«, murmelte Marit, auf einmal verlegen. Sie hatte plötzlich keine Ahnung mehr, warum sie hergekommen war.

      Doch Frau Booken schien ihr Unbehagen nicht zu teilen. »Kommen Sie doch herein! Es ist schön, dass Sie mich besuchen kommen, wohnen Sie hier in der Umgebung? Machen Sie wieder Urlaub?«

      Es hätte klingen können wie ein Vorwurf. Wenn Sie schon hier Urlaub machen, warum dann nicht in meiner Wohnung? Aber seltsamerweise tat es das nicht. Es klang wie ein ganz schlichtes Interesse von jemandem, den man lange nicht mehr gesehen hatte.

      »Urlaub nicht gerade. Um ehrlich zu sein, ich überlege, in die Gegend zu ziehen. Ich bin hier, um festzustellen, ob das etwas für mich ist.« Sie lächelte. »Momentan wohne ich im Leuchtturm. Der Besitzer ist ein alter Bekannter

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