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gesprochen hatte. Einen Augenblick lang blieb sie mit dem Handy in der Hand stehen und sah nur das dunkle Display an. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie dem kleinen Bildschirm zu, aber sie war sich nicht einmal sicher, was sie genau damit meinte. Und wen.

      Mit dem Smartphone in der Hand wanderte Marit zum Küchentisch hinüber und ließ es wenig sanft auf die Tischplatte fallen. Dann warf sie die Kaffeemaschine an. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn sie erst einmal versuchte, wieder richtig wach zu werden. Dann konnte sie immer noch Zeit darauf verwenden, über die Vergangenheit nachzudenken.

      Während die Maschine anfing zu gluckern und zu fauchen, öffnete Marit die Kühlschranktür und machte sich auf die Suche nach einem leichten Abendessen. Ein bisschen Tomatensalat, Brot und Frischkäse, entschied sie, zu etwas Exotischerem hatte sie heute keine Energie mehr.

      Während sie die Tomaten schnitt, schweiften ihre Gedanken wieder ab. Der Urlaub. Es war eine schöne Zeit gewesen, eine entspannte Zeit für Janna und sie, die sie beide dringend gebraucht hatten. Aber dennoch wurde die Erinnerung überschattet. Es war in dieser Zeit gewesen, als Marit zwischenzeitlich am Geisteszustand ihrer Tochter gezweifelt hatte. Tomme. Immer war es dieser Tomme, der zwischen uns gekommen ist. Ich hatte endlich einmal Zeit, und da musste sie sich jemanden erfinden, der uns die gemeinsame Zeit gestohlen hat.

      Draußen war Wind aufgekommen. Er hämmerte in kurzen Böen gegen die Fensterläden und Marit glaubte, die Wände zittern zu sehen. Natürlich war das Einbildung, aber sie war dennoch froh, dass sie sich hier drinnen in Sicherheit befand. Abwesend schabte sie einen Haufen kleingeschnittener Tomaten vom Brettchen in eine Schüssel und machte sich daran, Essig und Öl zu suchen. Von der Kaffeemaschine her zog ein verführerischer Geruch durch den Raum. Alles war so warm und freundlich, wie es nur sein konnte. Trotzdem fröstelte Marit.

      Der Wind heulte und Marit fühlte sich an den Tag vor 14 Jahren erinnert, an dem sich vor den Fenstern der Ferienwohnung ein Sturm angebahnt hatte. Sie legte eine Hand auf das kühle Glas des Küchenfensters und spähte nach draußen, doch inzwischen war es dunkel geworden und Regen prasselte gegen das Fenster. Sie konnte nur schemenhaft die schwarze Deichkrone ausmachen, der Himmel dahinter war nur wenig heller.

      Hatte sie auch so dagestanden an dem Tag, an dem Janna nicht nach Hause gekommen war? Marit konnte sich nicht erinnern. Nur an diese Unruhe, die sich im Laufe des Nachmittags immer weiter in ihr ausgebreitet und zu einem kalten Klumpen zusammen gezogen hatte, als sich die dunklen Wolken am Horizont abgezeichnet hatten. Marit dachte daran, wie ihre Hand immer wieder wie von selbst zum Telefon gewandert war, ohne dass sie sie aufhalten konnte.

      Marits Hand schwebt erneut über dem Hörer. Janna ist beim Kinderprogramm im Strandzentrum, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Warum tut sie es also? Eigentlich hatte sie diesen freien Tag doch genießen wollen, hatte sich gefreut, als Janna von sich aus auf die Idee mit dem Kinderprogramm gekommen war. Marit hatte einen entspannten Nachmittag geplant, mit ihrem neuen Thriller in der Ecke des Sofas oder vielleicht sogar mit ihren viel zu lange vernachlässigten Stricknadeln. Stattdessen ist sie jetzt so nervös, dass sie nicht in der Lage ist, mehr als ein paar Zeilen zu lesen, ohne dass ihr Herz zu rasen beginnt und sie den Faden verliert.

      Endlich hat sie es aufgegeben und wandert nur noch ziellos durch die Wohnung. Sie bleibt am Fenster stehen und legt die Hand an das kühle Glas. Über dem Meer ballen sich bedrohlich die Wolken zusammen und Marit kann spüren, wie die Fensterscheibe unter den Windböen leicht zittert. Der Strand ist bestimmt wie leergefegt.

       Marit verfolgt eine segelnde Möwe mit ihrem Blick und versucht, sich zu beruhigen. Es ist nicht weit von der Ferienwohnung bis zum Strandzentrum. Wenn das Programm um vier Uhr zu Ende ist, wird Janna bald wieder hier sein. Ganz sicher wird sie bei diesem Wetter doch nicht draußen bleiben, oder? Was, wenn ihr dieser unsägliche Junge, dieser nicht vorhandene Tomme wieder irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt hat?

      Marit wirft einen Blick auf die Uhr über der Tür. Fünf nach Vier. Sie spürt, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballen und muss sich anstrengen, sie wieder zu öffnen.

      Um nicht vollkommen verrückt zu werden, beginnt sie, den Kaffeetisch zu decken. Bestimmt wird Janna halb verhungert sein, wenn sie nach Hause kommt. Marit stellt Milch auf den Herd und nimmt eine Packung Kekse aus dem Schrank. Während sie die Kekse auf einen Teller schüttet, bemerkt sie, dass ihre Hände zittern. Sie schilt sich in Gedanken selbst. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, wirklich.

      Marit rettet die überkochende Milch vom Herd, rührt Kakaopulver hinein und lauscht mit einem Ohr auf die Türklingel.

      Nichts.

       Sie findet sich beim Telefon wieder, weiß nicht genau, wie sie hierhergekommen ist, doch ihr Herz jagt wie nach einem Hundertmeterlauf. Dieses Mal nimmt sie den Hörer in die Hand. Wieder wirft sie einen Blick auf die Uhr. Viertel nach Vier. So schnell? Aber jetzt ist es sicher nicht mehr zu früh, um anzurufen, oder? Wird man sie für übervorsichtig halten? Aber Janna ist erst acht. Ist es da nicht richtig, vorsichtig zu sein?

      Sie wählt die Nummer des Strandzentrums, die auf dem Flyer neben dem Telefon steht, und wartet. Wartet. Wartet. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis das monotone Tuten durch eine menschliche Stimme unterbrochen wird.

       »Strandzentrum?«

      »Ja, hallo …« Sie weiß einen Moment lang nicht, wie sie weitersprechen soll. Vor dem Fenster flackert es hell auf. Ein Blitz.»Mein Name ist Marit Rueckert. Meine Tochter Janna war heute bei Ihnen im Kinderprogramm und ist bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen …« Sie lässt das Ende des Satzes in der Luft hängen, hofft darauf, dass die Frau am anderen Ende sie auch so versteht.

       »Janna, sagen Sie?« Marit hört Papier rascheln, dann ein paar schnelle Schritte, im Hintergrund werden Worte gewechselt. Draußen rollt jetzt der Donner. Marit hat vergessen zu zählen. Wie viele Sekunden waren das jetzt zwischen Blitz und Donner? Ist das Gewitter bald genau über ihnen?

       »Frau Rueckert?« Die Frauenstimme ist zurück am Telefon. »Es tut mir Leid, aber eine Janna war heute nicht in unserem Kinderprogramm. Sind Sie sicher …«

      Marit versteht nicht mehr, was danach kommt. Sie starrt aus dem Fenster auf die dunklen Wolken, die jetzt zum Greifen nahe scheinen.

      Janna.

      Marit lässt den Hörer fallen, wirft sich den Regenmantel über ihre Schultern und reißt die Tür auf.

      Marit schüttelte den Kopf. Schnee von gestern. Es hatte wenig Sinn, sich über etwas Gedanken zu machen, das schon so lange vorbei war. Nicht mehr zu ändern. Und es war im Endeffekt nichts passiert, oder? Nichts außer einem gehörigen Schrecken, den sie alle abbekommen hatten. Die Erleichterung, die Marit verspürt hatte, als sie neben Janna im Schiff der Seerettung kauerte, eine Decke um die Schultern, eine Tasse Tee in der Hand, hatte sie vollkommen vom Schimpfen abgehalten. Das und die großen, ängstlichen Augen ihrer Tochter.

      Das war der einzige Zeitpunkt gewesen, an dem Marit die Frage gestellt hatte. Die Frage nach dem Warum. Was hatte Janna dazu gebracht, bei solchem Wetter aufs Meer hinauszufahren?

      Janna hatte sich an ihrer eigenen Tasse festgehalten, Kakao, aber dieses Mal ohne Karamellsirup, hatte aus dem Fenster auf das tobende Meer gestarrt und mit den kalten Lippen einen Namen geformt. Tomme.

      Danach hatte sie nie mehr von diesem seltsamen fremden Jungen gesprochen und Marit hatte nicht weiter nach ihm gefragt. Das kleine Gör hatte beinahe ihre Tochter umgebracht und, real oder nicht, sie wollte ihn nicht im Haus haben. Wahrscheinlich hatte Janna das gespürt und deshalb beschlossen, ihren Gefährten aufzugeben. Vielleicht hatte sie aber auch mit ihren acht Jahren schließlich verstanden, dass es Spiele gab, die zu weit gingen.

      Lass es ruhen!, wies Marit sich selbst an, trug Kaffee und Abendessen zu ihrem Küchentisch und machte sich ans Essen. Über ihr im Turm knarrte etwas. Eine Tür vielleicht. Marit hielt inne, sah kurz von ihrem Abendessen hoch und aß dann weiter.

      Als sie gerade ihr Geschirr in die Spülmaschine räumen wollte,

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