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die Anschauungen der Terroristen zu sezieren. Im gleichen Moment verstand sie, auf welchen Abwegen sich ihre Fantasie befand, und der Rausch verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.

      Sie blieb stehen, sah nach oben in die Kronen der Linden, die am Straßenrand standen. Als sie sich gesammelt hatte, ging sie langsam weiter.

      Laut Lüneburger ging es darum, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass man »die Guten« war. Die »Fackel« – einer »der Guten«? Jana schüttelte den Kopf. Die Islamisten behaupteten von sich, einen heiligen Krieg zu führen. Konnte irgendjemand glauben, dass Gott es guthieße, Unschuldige umzubringen? Wodurch fühlte sich die ›Fackel‹ von Gott beauftragt, auf bestialische und heimtückische Art Kinder zu töten? Ging es gar nicht um Gott, sondern bloß um Macht? Darum, die Leute durch Angst gefügig zu machen?

      Jana merkte, dass sie es drehen und wenden konnte, wie sie wollte: Um die Denkweise der »Fackel« zu verstehen – irgendeine innere Logik musste es ja geben –, konnte sie nicht umhin, mit seinesgleichen zu reden. Sie sah das Bild vor sich: die »Fackel«, der abgeschlagene Kopf der Engländerin, ein Lächeln für die Kamera. Nein, diesen Menschen tatsächlich gegenüberzutreten, von Angesicht zu Angesicht mit einem von ihnen zu sprechen, kam nicht infrage. Aber sie musste irgendwie mit ihnen in Kontakt kommen. Sicher würde man ihr gehörig auf den Zahn fühlen, was sie denn bezwecke. Und ebenso sicher war, dass sie besser nichts von ihrer Seminararbeit erzählte, weil diese Leute sich an fünf Fingern abzählen konnten, dass Jana darin kein Loblied auf sie singen würde – und im gleichen Moment wurde ihr noch etwas klar: Genau dies war die Art von Recherche, vor der Professor Lüneburger sie gewarnt hatte. Auch wenn es bloß um einen Seminarvortrag in der Uni ging: Diese Menschen gingen über Leichen, und Jana hatte keine Lust, die Nächste zu sein. Auf welche Art kam man an die ›Fackel‹ und ähnliche Leute heran, und vor allem, wie tat man das, ohne sich in Gefahr zu bringen?

      Kurz darauf erreichte Jana den fünfgeschossigen Altbau aus DDR-Zeiten, in dem sich ihre Wohnung befand, schloss die Eingangstür auf und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Oben angekommen steckte sie den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal, trat durch die schmucklose Wohnungstür, hängte ihren Mantel auf einen Haken und drückte die Tür mit dem Ellbogen zu. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo sie ihren Rechner in der Dockingstation einrastete und anschaltete, und von da aus weiter in die Küche.

      Zur Feier des Tages einen Tarrazú aus Costa Rica, sagte sie sich, schüttete die Bohnen in die Kaffeemühle und drehte den Startknopf. Den habe ich mir verdient.

      Genießerisch sog sie den Duft des frisch gemahlenen Kaffees ein und leerte den Siebträger der Espressomaschine mit einem harten Schlag auf den Rand des Mülleimers. Anschließend füllte sie den Metalleinsatz mit frischem Pulver, presste das Kaffeemehl sorgfältig an und schraubte das Sieb ein. Die Zeit, in der die Maschine auf die nötige Temperatur heizte, nutzte sie, um schnell bequeme Sachen anzuziehen und ihre Whatsapp-Nachrichten zu überfliegen. »Cocktailparty heute Abend im Hoppegarten – ganz schick«, stand da von Wibke. »Wann soll ich dich abholen?«

      »Mensch, Wibke, ich muss arbeiten!«, stöhnte sie, vertagte das Absagen aber auf später und schob das Telefon zurück in ihre Gesäßtasche, weil in diesem Moment die grüne Lampe an der Espressomaschine aufleuchtete. Jana zapfte ihren Kaffee in ein kleines Tässchen und balancierte es auf einer Untertasse zu ihrem Rechner. Routinemäßig sah sie noch schnell bei Facebook und in ihren E-Mails nach, ob etwas Wichtiges anlag, doch außer der Nachricht, dass ihre Vorstellung in der Whiskybar auf morgen verschoben war, fand sie nur Belangloses und Spam. Jana trank einen Schluck von ihrem Espresso und atmete tief durch.

      »Dann wollen wir mal!«, erklärte sie dem Rechner.

      Die nächsten Stunden vertiefte sie sich derart in die Durchforstung des Internets nach Begriffen wie »asymmetrischer Krieg«, »Mudschahedin«, »Terroristen«, »Freiheitskampf« und »Guerilla« in allen möglichen Kombinationen mit Begriffen wie »Propaganda«, »Image« oder »Zustimmung«, dass sie sogar vergaß, ihren Kaffee auszutrinken. Dennoch fand sie nichts, was ihr nützlich erschien. Allmählich bezweifelte sie Lüneburgers Aussage, dass sie mit konventioneller Recherche viel mehr fände, als sie brauchte. Im Augenblick wäre sie froh, wenn sie überhaupt etwas Verwertbares im Netz zutage fördern würde. Ernüchtert schob Jana den Rechner von sich, rieb sich die Augen und blies die Backen auf. In ihren Ohren summte es, was ihr auch nicht dabei half, nützliche Ideen zu entwickeln.

      Ihr Handy begann zu vibrieren. Sie zog es aus der Gesäßtasche und sah auf der Anzeige, dass es Wibke war. Mit schlechtem Gewissen nahm sie den Anruf an.

      »Mensch Jana, hast du meine Nachricht nicht gelesen?«, beschwerte sich Wibke.

      »Doch, aber …«

      »Weißt du schon, was du anziehst?«, erstickte ihre Freundin jeden Widerstand im Keim. »Am besten wäre ein scharfes Cocktailkleid und ein abgefahrener Hut. Wart mal, bis du mich siehst!«

      Dass sie absagen könnte, fand Wibke offenbar undenkbar.

      Wahrscheinlich tut mir ein wenig Abwechslung sogar gut, um auf andere Gedanken zu kommen, überlegte Jana. Hier bin ich sowieso in einer Sackgasse.

      »Einen Fummel, der als scharfes Cocktailkleid durchgehen kann, hätte ich sogar«, sinnierte sie laut. »Aber ich habe in meinem Leben noch keinen Hut getragen!«

      »Ohne Hut bist du auf der Rennbahn quasi nackt. Das geht gar nicht. Aber mach dir keine Gedanken. Ich bringe dir einen mit.«

      Das Telefon noch in der Hand blickte Jana an sich herunter. Die Schlabberklamotten waren bequem, aber außerhalb der eigenen Wände unpassend. »Uuups, so kannst du unmöglich auf der Rennbahn auftreten, liebe Jana!«, kicherte sie. Mit einem Mal verspürte sie richtig Lust auf die Party.

      Sie trällerte »Jour 1« von Louane, tänzelte gut gelaunt unter die Dusche und schlüpfte anschließend in ein figurbetontes, enggeschnittenes Kleid. Ihre dunkelbraunen Haare föhnte und bürstete sie, bis sie glänzten. Die Frisur hatte sie bei Sandra Bullock abgeschaut, mittellang, glatt, offen, mit Seitenscheitel – ohne großen Aufwand und doch so hübsch, dass sie sich wohlfühlte. Sie schminkte sich gerade, als die Anzeige ihres Handys wegen einer neuen Nachricht aufleuchtete. Wibke wartete unten vor der Tür. Schwarze Pumps vervollständigten ihr Outfit und Minuten später glitten sie in Wibkes Sportwagen durch Berlin in Richtung Osten.

      Der Roadster war kein halbes Jahr alt, roch fabrikneu, und die cremefarbenen, unglaublich bequemen Ledersitze zeigten nicht die geringsten Gebrauchsspuren. Auf Jana, die nach der Trennung ihrer Eltern in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen war, wirkte das Ganze geradezu unwirklich. Das Gefühl verstärkte sich, als sie auf der Rennbahn eintrafen. Wibkes riesigen, mit Reiherfedern geschmückten Hut auf dem Kopf schwebte Jana neben ihrer Freundin in die Bar des Rennklubs. Drinnen tummelten sich elegante Damen, die allesamt exotische Kopfbedeckungen trugen, neben Herren in Tweed-Jacketts. Die Atmosphäre wirkte eine Spur aus der Zeit gefallen. Sie kam sich vor wie eine Komparsin in einer Filmszene, die in Ascot spielte. Die Bedienung empfing sie mit der Frage: »Champagner? Roederer oder Krug?«

      Jana fühlte sich in der fremden Welt der jungen Berliner Oberschicht wie auf einer Safari. Wibke stellte sie anfangs einigen Bekannten vor, verschwand aber bald in der Menge, um Freundinnen mit Küsschen zu begrüßen und vermutlich den jüngsten Tratsch und Klatsch auszutauschen. So ließ sich Jana die längste Zeit des Abends allein durch die Glitzerwelt der Reichen treiben und kostete zum ersten Mal in ihrem Leben Champagner. Sie fand es anregend, aber sie scheute sich, die Sicherheit ihres imaginären Safari-Jeeps zu verlassen, bevor sie die Gefahren dieser Wildnis einschätzen konnte. Für diesmal, tröstete sie sich und griff sich ein neues Glas vom Tablett eines Kellners, der gerade an ihr vorbeikam. »Türen stehen dir offen, Jana. Ob du hindurchgehst, wird sich finden!«, sagte sie leise zu sich selbst, schnupperte an ihrem Glas und trank einen Schluck. Krug-Champagner ist meine Marke, beschloss sie und lächelte glücklich.

      Später am Abend schwebte Wibke auf sie zu.

      »Jana, da bist du ja! Ich suche dich die ganze Zeit.« Wibke kam ganz dicht an ihr Ohr. »Würde es dir etwas ausmachen, dir eine andere Fahrgelegenheit für die Rückfahrt zu besorgen? Es kostet dich ein Lächeln

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