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ihnen auch ein freundliches Angebot unterbreiten. Eines, das keiner von ihnen ausschlagen wird.«

      Der Einwand zeigte Wirkung. Ulmer beobachtete, wie Harris schweigend nachdachte. Die linke Augenbraue des Colonels zuckte. Dann schien etwas in Harris zu explodieren und sein Vorgesetzter zertrümmerte Ulmers aufkeimende Hoffnung mit einer abfälligen Geste gefolgt von der Feststellung: »Nein, alles zu unsicher. Sie haben Ihr System nicht im Griff! Oder wie kommt es, dass ADONIS den Vizepräsidenten ans Messer liefert?«

      Das war der wunde Punkt. Ulmer stierte Harris’ obersten Uniformknopf an, als könnte er dort die Antwort ablesen.

      »Sehen Sie, dafür haben Sie keine Erklärung! Und jetzt sorgen Sie dafür, dass ADONIS der Vergangenheit angehört und zwar so, dass das Programm spurlos getilgt wird, als hätte es nie existiert. Und das sofort, verstehen Sie? SOFORT!«

      Ohne Ulmer eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Colonel Harris den Raum. Seine Schritte hallten auf dem Flur wie die Schläge einer Marschtrommel.

      Ulmer beantwortete Rodriguez’ stummes Hilfeersuchen mit einem Schulterzucken. Mit dem Kinn deutete er zu Rodriguez’ PC und schickte seinen Mitarbeiter damit an die Arbeit. Gefolgt von den Übrigen schlich Sergeant Rodriguez an seinen Platz und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Dort knurrte er etwas Unverständliches, knüllte eine Handvoll Zettel mit Aufzeichnungen zusammen und pfefferte sie in den Papierkorb. Dann gab er eine Folge kurzer Kommandozeilenbefehle in seinen Rechner ein. Eine Weile hörte man nur das Klacken der Tastatur unter seinen Fingerkuppen. Auf einem großen Wandbildschirm erschien eine Weltkarte, übersät mit Millionen und Abermillionen grünen Punkten, die recht genau die Bevölkerungsdichte der Erde widerspiegelten – ein Punkt für jede über ADONIS aktiv überwachte Zielperson. Einige Sekunden geschah nichts. Rodriguez, Ulmer und alle anderen im Raum starrten wortlos den Wandbildschirm an. Erste vereinzelte Punkte begannen sich rot zu verfärben und kurz darauf zu verschwinden. Weitere Punkte folgten, bis lediglich vier übrig waren, die sich allem Anschein nach dem Löschbefehl widersetzt hatten.

      »Wiederholen«, ordnete Ulmer an, und Rodriguez’ Finger flogen erneut über die Tastatur. Drei weitere Punkte verschwanden. Der vierte Punkt zeigte sich unbeeindruckt und widerstand selbst drei weiteren Löschversuchen. Rodriguez zoomte heran. Es handelte sich um eine Zielperson des Servers Palo Alto ME2Z.

      »Sandro, was ist da los?«, flüsterte Ulmer so leise, dass niemand außer Rodriguez ihn hören konnte.

      »Keine Ahnung«, antwortete Rodriguez genauso leise. »Das System reagiert nicht wie spezifiziert. Ich, ähm, ich wollte es dir schon länger sagen: Gelegentlich bekommen wir Nachrichten von einzelnen Leviathanen, die wir nicht dekodieren können.«

      Ulmer schauderte bei dem Gedanken an die Tragweite von Rodriguez’ Satz, als der letzte Punkt erlosch. »Na also, geht doch!«, entfuhr es ihm erleichtert.

      Rodriguez drückte sich an der Schreibtischkante vom Bildschirm weg und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich befürchte, nein«, erwiderte er und schluckte. Rodriguez deutete auf seinen Bildschirm. »Schau, die letzte Nachricht war ›connectionRelease‹, nicht ›instanceShutDownConfirm‹.«

      »Das heißt?«

      »Das heißt, der Leviathan hat von sich aus den Kontakt mit uns abgebrochen.«

      Kapitel 1

      Freitag, 9. Oktober 2020 – Humboldt-Universität, Berlin

      Jana staunte, als sie den Hörsaal betrat. Gut 25 Kommilitonen hatten sich bereits eingefunden, obwohl heute der letzte freie Tag vor dem Beginn der Vorlesungszeit war und es nur um ein paar Seminarthemen ging – Seminarthemen allerdings, von denen sie unbedingt eines ergattern musste. Wenige Sitzreihen vor sich entdeckte sie Wibke, die sie am Montag auf der Einführungsveranstaltung nach ihrer Immatrikulation kennengelernt hatte. Froh, zumindest ein bekanntes Gesicht zu finden, stieg Jana zu ihr hinunter und setzte sich neben sie.

      »So viele Themen, dass wir alle eins abbekommen können, gibt es doch gar nicht«, flüsterte Jana ihr statt einer Begrüßung zu und deutete mit dem Kinn auf die Sitzreihen vor ihnen.

      »Jetzt mach dir nicht schon vorher Stress!« Wibke strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre langen Fingernägel waren im Farbton ihrer Bluse lackiert, Mauve diesmal. »Berlin ist eine schöne Stadt.« Wibke zwinkerte verschwörerisch. »Notfalls machen wir eben ein Semester mehr!«

      »Du kannst dir das vielleicht leisten, ich nicht.«

      Jana schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf, als müsse sie sicherstellen, nicht zu träumen. Wibke und Jana kamen aus grundverschiedenen Welten, und sie hatten sich eher zufällig kennengelernt. Eine ihrer neuen Kommilitoninnen – eine Gothic mit Piercings im Gesicht – wollte während einer Einführungsveranstaltung für Neulinge an der Humboldt-Uni einfach nicht aufhören, über Wibkes schicke Kleidung zu lästern. Jana verabscheute kleinkarierte Leute, die anderen Vorschriften machen wollten, und brach spontan eine Lanze für Wibke, mit der sie bis dahin kein Wort gewechselt hatte. Die Gothic suchte schnaubend das Weite, und Jana kam mit Wibke ins Gespräch. Weil sie sich sofort sympathisch gewesen waren, hatten sie sich seither ein paar Mal auf einen Kaffee getroffen, und letzte Nacht hatte Wibke sie in eine der angesagten Discos von Berlin geschleppt; sonst nicht ihr Ding, doch Wibke wollte nicht alleine gehen. Beide waren sie erst kürzlich nach Berlin gezogen, allerdings unter ganz verschiedenen Vorzeichen. Als Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns kannte Wibke finanzielle Sorgen nur vom Hörensagen, und darüber hinaus sah sie aus wie eine junge Heidi Klum.

      Entschlossen zog Jana ihren Laptop aus der Tasche. »Ich muss den Master in vier Semestern durchziehen. Und dafür brauche ich definitiv einen dieser Vorträge heute.«

      »Für jemand, der über knappe Kasse jammert, hast du da ein verdammt schickes Gerät!« Wibke hob die Augenbrauen. »Wenn es dir echt so schwerfällt, das Geld für das Studium zusammenzukratzen, warum kaufst du dir so ein Edelteil?«

      »Drei Wochen Kellnern auf einem Ausflugsschiff«, brummte Jana und startete den Rechner. »Gut bezahlt, aber ein Scheißjob. Kellnern auf einem Schiff, meine ich. Du musst mal so einen Kegelclub in voller Fahrt erleben. Und wenn ich drei Wochen ranklotze, muss es etwas Ordentliches sein, sonst ärgere ich mich schwarz. Hast du eine Ahnung, wie lange die Veranstaltung hier dauert? Ich muss gleich nach Friedrichshain, mich in einer Whiskybar vorstellen.«

      »Du jobbst doch schon auf einem Schiff? Wie viele Nebenjobs willst du denn noch machen?«

      »Im Winter fahren die Schiffe nicht. Außerdem war das in Köln.« Jana sah auf, weil um sie herum ein Raunen anschwoll. Der Professor hatte den Hörsaal betreten.

      »Hammer!«, entfuhr es Wibke. »Ist der überhaupt schon 30? Sieht echt gut aus, der Knabe.«

      »Wie er aussieht, ist mir egal«, murmelte Jana. »Hauptsache, ich greife einen Vortrag ab.«

      Der Professor blieb vor der Tafelwand stehen und musterte die Anwesenden mit einem Lächeln. Jana folgte seinem Blick und stellte fest, dass inzwischen weit über 30 Studenten die Bänke füllten.

      »Mein Name ist Lüneburger, wie Sie sicher mitbekommen haben«, stellte er sich vor. »Nein, ich habe nichts mit der Heide oder Hermann Löns zu tun, und wir wollen es kurz machen, damit Sie sich weiter ungestört dem letzten Tag Ihrer Semesterferien widmen können.«

      Ein Lächeln umspielte seine Lippen, bevor er fortfuhr.

      »Die Themen kennen Sie ja, sodass wir keine Zeit verschwenden müssen. Wer möchte uns mit dem ersten Vortrag zu ›Personalisierte Bannerwerbung in Suchmaschinen‹ in der Kalenderwoche 48 beglücken?«

      Mindestens zehn Hände schossen zeitgleich mit Janas in die Höhe. Das Rennen machte ein Student namens Berblinger in der zweiten Reihe.

      »Mist«, zischte Jana. »Ich dachte, der erzählt noch etwas zu den Themen. Hast du dir die Liste angesehen?«

      »Nee«, antwortete Wibke. »Ich lasse das Ganze auf mich zukommen.«

      Jana versuchte hektisch, die Informationen

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