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eine Tablette!«

      Norma lachte. »Dieser Kater kommt nicht vom Wein. Er stieg durch das Fenster.«

      »Du hast eine Katze?«

      »Nein, nicht ich, meine Vermieterin.«

      »Was wolltest du mir über Arthur erzählen?«

      »Lass uns später darüber reden. Bis nachher!«

      Norma wollte sich um ihren Fuß kümmern. Auf dem Bettlaken zeigten sich die ersten Blutflecken. Leopold hockte mit angezogenen Pranken auf dem Schrank und schmollte. Auf dem Weg ins Bad fühlte sie sich von seinen Blicken verfolgt. Als sie wieder herauskam, erwartete er sie auf der Schwelle.

      Sie bückte sich zu ihm herab. »Frieden?«

      Er maunzte, was sie als Einverständnis deutete. Das Frühstück nahmen sie gemeinsam in der Küche ein. Sie hielt immer sein Lieblingsfutter bereit; das einzige Fleisch, das ihr als Vegetarierin in den Kühlschrank kam. Sie hatte mit 15 Jahren beschlossen, keine Tiere mehr zu essen, und damit die Mutter vor den Kopf gestoßen, die nicht akzeptieren wollte, dass die eigene Tochter den auf dem Hof produzierten Schweinebraten verschmähte. Ihr Bruder Folke, der den Betrieb gemeinsam mit der Mutter führte, zeigte ebenso wenig Verständnis.

      Während Leopold seinen Napf ausschleckte, als hätte er seit Tagen gehungert – ein deutlicher Widerspruch zu seiner Linie – wollte sie Arthur anrufen, bekam über jeden Anschluss aber nur seine gespeicherte Stimme zu hören.

      Das Rasierwasser fiel ihr ein. Von einer Kundin hatte er es bestimmt nicht bekommen. Deren Geschenke, die ihm hin und wieder aufgedrängt wurden, versenkte er gewöhnlich in den hintersten Schubladen seines Aktenschranks. Hatte er eine neue Liebe? Die Vorstellung weckte ihre Eifersucht; ein verschwendetes Gefühl, war sie doch diejenige gewesen, die die Trennung gewollt und herbeigeführt hatte.

      Finde dich damit ab. Du bist gegangen. Und er ist dir keine Rechenschaft schuldig. In den vergangenen Wochen hatten sie oft tagelang nichts von einander gehört.

      Es gab keinen Grund, sich Gedanken zu machen.

      4

      Lutz Tann achtete auf seinen Atem, der am Ende der Laufstrecke ins Stocken geraten wollte, und umrundete im stetigen Schrittmaß die Mulde, die wie ein angedeutetes Amphitheater in die Wiese gegraben war. Danach hielt er in gerader Linie auf das weiße Tempelchen am Ende der Lichtung zu. Erst als er die Stufe hinaufgesprungen war, erlaubte er sich anzuhalten. Nach Luft schnappend, stützte er sich gegen eine Säule und schaute, solange er mithilfe des freien Arms den Oberschenkel dehnte, auf die Stadt hinunter, die sich unterhalb des Nerobergs ausbreitete: ein Mosaik aus Dächern, Straßenzügen und Kirchtürmen und hineingetupft das Grün der Gärten und Parkanlagen. Er wechselte die Seite und dehnte die Muskeln des anderen Beins, ohne den Blick von der Aussicht zu lassen. Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte die Luft gewaschen. Er genoss den Ausblick wie eine Belohnung für die Anstrengungen nach der langen Runde durch den Rabengrund. Ein Schlenker hatte ihn an der Leichtweishöhle vorbeigeführt, in der zum Ende des 18. Jahrhunderts der des Wilderns beschuldigte Wiesbadener Bäcker Heinrich Anton Leichtweis gehaust haben soll. Der Streifen der Biebricher Allee, auf den Seiten von Bäumen gesäumt, deren Kronen aus der Ferne zu grünen Bändern verschmolzen, lenkte seinen Blick auf den im Sonnenlicht silbrig schimmernden Lauf des Rheins und darüber hinaus auf das sich hinter dem Strom ausbreitende Häusermeer der Stadt Mainz, Wiesbadens ebenso ungeliebte wie unentbehrliche Nachbarin.

      Sein Atem hatte sich beruhigt. Das Herz pumpte wieder stark und gleichmäßig im Ruhewert. Er war topfit, kein Zweifel, und würde so manchem Jüngeren davonlaufen, trotz seiner 59 Jahre. Bislang noch 59. Die 60 näherte sich unaufhaltsam. Obwohl er sich damit tröstete, das sei nur eine Zahl, mehr nicht, es zählte das gefühlte Alter, das bei ihm höchstens Mitte 40 betrug, nicht das Alter auf dem Papier: 60 blieb 60. Im kommenden Monat, Ende September, stand ihm der Tag der Tage bevor. Er hatte keine Lust auf eine Feier, aber was blieb ihm anderes übrig bei seinen Verpflichtungen? Ludwig Wilhelm Tanns 60.Geburtstag würde ein rauschendes Fest werden!

      Er zog das Stirnband vom Kopf und genoss den Luftzug, der den Schweiß trocknete, als er sich vom Monopteros abwandte und über die Wiese hinüber zur Bahnstation schlenderte. Der sonnige Samstagvormittag lockte die ersten Besucher hinauf auf Wiesbadens Hausberg, und wer den kurzen Anstieg scheute, konnte sich von der Nerobergbahn bequem hinaufbringen lassen. Der gelbe Waggon kroch Lutz entgegen, als er den Pfad ins Nerotal hinunterstieg. Vorn auf der Plattform stand ein junger Mann mit einem Kind an der Hand. Der blonde Junge winkte vergnügt und ließ ihn an Arthur denken, als dieser ein Schulkind war. Merkwürdig, wie oft er sich in der letzten Zeit auf dessen Kindheit besann. Er führte die unglücklichen Erinnerungen auf den Geburtstag zurück. Diese vertrackten 60, die ihm schonungslos klar machten, wie rasant die Zeit gegen ihn arbeitete. Dass sie sich niemals umkehren ließ. Nichts von all dem Versäumten wäre gutzumachen. Arthurs Kindheit gehörte zu diesen verlorenen Zeiten. War er jemals mit seinem Sohn mit der Nerobergbahn gefahren? Hatte ihm, wie jeder gute Vater, den Mechanismus dieser Museumsbahn erklärt? Die beiden Waggons zogen sich gegenseitig den Berg hinauf. Das erforderliche Gegengewicht lieferte ein Wassertank unterhalb des Wagens. An der Talstation wurde der Ballast abgelassen; eine Mechanik, die jeden Jungen faszinieren musste. Auch den kleinen Arthur? Er konnte sich an keine Fahrt mit seinem Sohn erinnern. Nur ein Versäumnis von vielen anderen.

      Während er den Kehren ins Tal folgte, strömten die Entschuldigungen auf ihn ein, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt hatte. Argumente, die so schal schmeckten wie abgestandenes Bier. Dass er viel zu jung Vater geworden sei, gerade 19 Jahre alt und hungrig auf das Leben. Ende der 60er-Jahre galt es in den Kreisen seiner Eltern noch als Schande, ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen, und weder er selbst, noch die glücklose junge Frau hatten den Mut, sich den Forderungen der Eltern zu verweigern. So wurde geheiratet, und das junge Paar zog in die Villa der Familie Tann. Später nahm er sich jeden Freiraum, widmete sich der Lehre im Verlag seines Onkels, später dem Studium, während die junge Frau, unter der strengen Obhut der Schwiegereltern, nur für das Kind leben durfte. Eine stille Frau, die ihm immer fremd blieb. Sie war keine Jugendliebe; einfach nur ein Mädchen, auf das er sich aus Neugierde einmal zu oft eingelassen hatte. Nach wenigen Jahren wurde sie krank, welkte dahin wie eine Pflanze ohne Licht. Als hätte sie sich aufgegeben. Obwohl sie vor drei Jahrzehnten gestorben war, gelang es ihr in letzter Zeit immer öfter, sich in seine Gedanken zu drängen. Als wollte sie als Tote nachholen, was ihr als Lebende nicht vergönnt war: einen Platz in seinem Leben zu erobern. Arthur dagegen war es inzwischen gelungen, diesen Platz einzunehmen. Oder, überlegte Lutz selbstkritisch, war es nicht eher so, dass er sich als Vater diesen Raum in Arthurs Leben erkämpft hatte? Reichlich spät. So war es auch keine übliche Vater-Sohn-Beziehung; eher ein Verhältnis zwischen sich respektierenden Freunden.

      Gegen trübsinnige Grübeleien half am besten Bewegung. So setzte er sich wieder in Trab, sobald er die Straße erreicht hatte, und lief unter dem Viadukt hindurch in die angrenzenden Nerotalanlagen. Er wich einer Gruppe Stöcke schwingender Nordic Walkerinnen aus, umrundete in gedrosseltem Tempo einen Schäferhund samt Herren und trabte, statt nach links zu schwenken und in die Lanzstraße einzubiegen, die ihn zu seinem Haus führen würde, weiter geradeaus und inmitten des Parks entlang bis in die Taunusstraße. Eine väterliche Sehnsucht nach Arthur hatte ihn gepackt; ein ungewohntes Gefühl, dem er umgehend nachgehen wollte.

      Gewöhnlich war sein Sohn samstags zeitig in seinem Laden, der nun um kurz vor 11 Uhr seit einer Stunde geöffnet war. Doch nur Josef Brunner trat Lutz entgegen. Die hünenhafte Gestalt hielt er wie immer ein wenig vorgebeugt, als wäre so viel körperliche Präsenz einem Kunst- und Antiquitätenhandel unangemessen. Josefs sonst meist zufriedene Miene wirkte angespannt. Trotzdem begrüßte er den Besucher mit freundlicher Zurückhaltung.

      »Ist Arthur bei einem Kunden?«

      Das wüsste er selbst gern, erwiderte Josef Brunner. Er sei nur zufällig im Laden, weil er seine Tasche vergessen habe. Eigentlich habe er seinen freien Tag. Anstatt seinen Besorgungen nachzugehen, telefoniere er seit einer Stunde hinter Arthur her. Bislang ohne Erfolg.

      So besorgt hatte Lutz den Geschäftspartner seines Sohnes niemals erlebt. »Darf Arthur sich

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