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Ich verfolge ihn!«

      Außer Atem beschrieb sie die Verkleidung.

      »Überlass das den Kollegen!«, antwortete eine Männerstimme, die ihr vertraut vorkam. »Der Mann ist bewaffnet! Halte dich da raus, Norma …«

      Norma beendete die Verbindung und folgte weiter der Marktstraße, die in die Langgasse, die Haupteinkaufsstraße, mündete. Auf der Kreuzung hatte eine Gruppe afrikanischer Musiker ihr Publikum herbeigetrommelt. Norma zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch, von denen niemand einen Mönch bemerkt haben wollte. Auf gut Glück rannte sie geradeaus weiter und fragte sich durch, bis sie einen neuen Hinweis erhielt.

      Eine alte Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Hauseingang: »Da iss als einer nei, der wie ein Mönch ausgeschaut hat! Hab noch gedacht, so ein Mann Gottes, der muss auch zum Arzt.«

      Norma dankte ihr und stürzte zur Haustür. Die Schilder an der Fassade wiesen auf mehrere Arztpraxen hin. Die Tür ließ sich aufdrücken und führte in ein restauriertes Treppenhaus. Rauf oder runter? Norma entschied sich für die Stufen nach unten und stieß draußen auf einen Hintereingang. Vom Hof aus gelangte man über einen Durchgang in eine verlassene Gasse. Norma hielt zu beiden Seiten Ausschau. In der schmalen Straße lagen keine Läden, die Fußgänger herbeigelockt hätten. Kein Mensch war zu entdecken. Der Mönch war außer Sicht, falls er überhaupt hierher geflohen war. Norma rang nach Luft. Mit ihrer Kondition stand es wirklich nicht zum Besten. Dazu gesellten sich heftige Seitenstiche. Sie blieb stehen und presste die Hand gegen den Bauch, bis die Stiche nachließen. Enttäuscht kehrte sie in den Innenhof zurück. Neben dem Tor befand sich ein Holzschuppen. Vorsichtig zog Norma die Tür auf. Im Schuppen entdeckte sie mehrere Fahrräder. Dahinter türmte sich Gerümpel zwischen einer Reihe von Mülltonnen. Norma riss die Deckel auf. In einer Tonne lag obenauf ein schwarzer Plastiksack, den sie mit spitzen Fingern herauszog. Der Kerl hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Kostüm besser zu verstecken.

      Sie wählte wieder den Notruf und beschrieb so gut es ging, wo sie sich befand.

      »Bist du in der Hochstättenstraße?«, fragte der Mann an der Zentrale, ein früherer Kollege.

      Der Straßenname war ihr nicht eingefallen. Sie bestätigte ihn und fragte hastig nach Moritz Fischer. »War der Notarzt rechtzeitig da? Wird Fischer durchkommen?«

      »Dem Opfer konnte kein Arzt mehr helfen«, lautete die lakonische Antwort. »Der Mann ist tot.«

      7

      Sonntag, der 20. August

      Moritz Fischer starb durch ein Projektil des Kalibers 9 mm. Das Geschoss habe sein Herz durchdrungen, hieß es am Sonntagmorgen in den Radionachrichten. Polizei und Stadtverwaltung hätten in Erwägung gezogen, die Rheingauer Weinwoche vorzeitig zu beenden, sich aber nach kontroversen Beratungen dagegen entschieden, berichtete ein Reporter des Hessischen Rundfunks. Spezialisten der Polizei seien zu dem Schluss gekommen, dass man es nicht mit einem Amokläufer zu tun habe. Man rechne nicht mit einer weiteren Tat, wurde erklärt, ohne diese Annahme zu begründen. Die Menschen der Stadt stünden unter Schock, meldete der Journalist mit belegter Stimme.

      Trotzdem war das Weinfest an seinem letzten Tag gut besucht; ein Umstand, der Gabi erstaunte, Norma nicht wunderte. Der Tatort eines Mordes übt eine makabere Anziehungskraft aus. Und so wurde der in weitem Abstand abgeschirmte Prominentenstand seit Stunden von Neugierigen umlagert. Viele Besucher brachten Blumen mit, und zur Mittagszeit bedeckte ein Blütenteppich die Stufen vor dem Rathaus.

      Gabis Mitleid galt der jungen Witwe. Sie drängte Norma, ihr mehr über Diane zu erzählen. »Du kennst sie doch! Wie mag sie den Tod ihres Mannes verkraften? Hat sie ihn sehr geliebt?«

      Ungeachtet ihrer 50 Lebensjahre, von denen sie die meiste Zeit als Bedienung in Kneipen und Restaurants verbracht hatte, schien Gabi wie ein Kind an die heile Welt und die Beständigkeit der Liebe zu glauben. Norma konnte sich nicht vorstellen, dass Diane Fischer außer der eigenen Person ein anderes Wesen als ihr Hündchen, eine kurzatmige Pekinesenhündin, lieben könnte. Moritz Fischer war nicht weniger selbstverliebt. Seine Eifersucht entsprang nach Normas Einschätzung einem reinen Besitzdenken, und er mochte seiner Frau kaum die kleine Cleo gönnen, an der Diane mit einer Affenliebe hing. Diese Meinung behielt Norma für sich. Sie wollte dem Paar nichts Böses nachsagen und Gabi damit verleiten, diesen Klatsch in der Weinstube unter die Leute zu bringen.

      Der Polizei gegenüber war Offenheit gefordert. Unmittelbar nach den Ereignissen hatte Norma nur kurz mit ihren ehemaligen Kollegen gesprochen. Am frühen Sonntagnachmittag kam es zu einem ausführlichen Gespräch. Dirk Wolfert und Luigi Milano suchten Norma auf dem Weinfest auf. Ganz und gar in dienstlicher Mission lehnten sie ihre Einladung zu Kartoffeln mit grüner Soße ab und verschmähten selbst ein Glas Wein. Milano wollte lieber einen Espresso, den Norma nicht anzubieten hatte. Sie bat Gabi um eine Pause und begleitete die Kriminalbeamten die wenigen Schritte hinüber zum ›Havanna‹, das dem neuen Rathaus gegenüberlag. Draußen vor dem Eingang waren alle Plätze besetzt, aber drinnen bot das Lokal, eine urige Mischung aus Bar und Café, genügend Auswahl an freien Tischen. Milano strebte am Tresen vorbei in den hinteren Bereich, in dem sie ungestört reden konnten. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, der sich unter der korpulenten Gestalt in ein Kindermöbel verwandelte. Der dünne Wolfert setzte sich seinem Kollegen gegenüber und bedeutete Norma mit einer Handbewegung, zwischen beiden Männern Platz zu nehmen.

      Sie warteten schweigend, bis die Bedienung die Bestellung aufgenommen hatte. Für einen Augenblick rief Norma sich Wolfert und Milano als jene jungen Polizisten in Erinnerung, die kurz nach ihr den Dienst angetreten hatten und damals mit Feuereifer bei der Sache waren. Ein spektakulärer Mord wie dieser hätte ihr Jagdfieber explosionsartig entfacht. Nun wirkten beide eher gelangweilt, wenn nicht sogar abgebrüht. Doch Norma war sich bewusst, dass beider Fähigkeiten als Ermittler darunter nicht leiden mussten. Erfahrung und Routine glichen das Quantum Arbeitseifer aus, das den Männern mittlerweile abhanden gekommen sein mochte.

      Milano stützte seine fleischigen Ellenbogen auf die Tischplatte und nickte ihr auffordernd zu. »Also, Norma, wiederhole noch einmal, was du gestern beobachtet hast!«

      Kollege Wolfert blätterte unterdessen in seinem Notizbuch. Bei dem Gespräch am Tag zuvor hatte er ihre Aussage mitgeschrieben. Norma wollte ihnen die Arbeit erleichtern und schilderte die Einzelheiten mit akribischer Genauigkeit. Über den mordenden Mönch selbst konnte sie nur vage Angaben machen. Über Nacht waren ihr keine weiteren Einzelheiten eingefallen. Milano und Wolfert wirkten enttäuscht, weil sie mit dem Mönch nicht weiterkamen, ließen Norma aber trotzdem an ihrem derzeitigen Erkenntnisstand teilhaben. Danach war inzwischen immerhin auszuschließen, dass der Mönch zur Görlitzer Gruppe gehört. Das Mönchskostüm war aus einem Raum im Rathaus gestohlen worden, den man der Gruppe zum Umziehen zur Verfügung gestellt hatte. Ob der Diebstahl in der Nacht von Freitag auf Samstag oder erst am Vormittag stattgefunden hatte, stand noch nicht fest. Unbestritten schien, am Samstagmorgen war es dort wie im Taubenschlag zugegangen.

      »Könnte Moritz Fischer ein zufälliges Opfer sein?«, fragte Norma.

      Milano hob ratlos die Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Falls der Mörder es gezielt auf ihn abgesehen hatte, brauchte er die Dienstzeiten der Prominenten nur im Internet nachzulesen. Das war kein Geheimnis.«

      Ein junger Mann trug ein Tablett heran. Er stellte je eine Tasse Kaffee, Espresso und Milchkaffee auf den Tisch und wandte sich mit einem Lächeln ab.

      Milano schob Norma den Milchkaffee zu. »Du sagtest, du kanntest Moritz Fischer.«

      Norma griff nach der Tasse. »Wir standen uns nicht nahe, falls du das meinst, Luigi. Fischer ist ein Schulfreund meines Mannes. Ab und zu haben wir uns privat mit Fischer und seiner Frau Diane getroffen. In den vergangenen Jahren hat Arthur mit Fischer geschäftlich eng zusammengearbeitet.«

      Wolfert zückte den Bleistift. »Wie sah diese Zusammenarbeit aus?«

      Norma hatte die Wohnung ohne Frühstück verlassen und seitdem nichts zu sich genommen. Ihr Magen war wie zugeschnürt. Vorsichtig nippte sie an der Tasse. »Arthur und Fischer haben dieselbe wohlhabende Klientel: Fischer renoviert die Villen, und Arthur

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