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die Bürokratie zwang sie zu Umwegen. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Fachhochschule als Diplom-Verwaltungswirtin der Polizei hatte sie erst eine Zeit bei einem Kommissariat und danach ein weiteres Jahr beim Kriminaldauerdienst absolvieren müssen.

      Jetzt habe ich jahrelang die Tretmühlen durchlaufen, bin endlich am Ziel – und was ist? Der Papierkram geht von vorne los, dachte sie frustriert. Anstatt Mordfälle aufzuklären, befinde ich mich auf dem Abstellgleis, zusammen mit einem Berg von Akten.

      Malin griff nach einem weiteren Dokument und ließ ihren Blick dabei durchs Büro schweifen. Wo steckten die bloß alle? Ihre Abteilung bestand aus drei weiteren Ermittlern und dem Ersten Kriminalhauptkommissar Fricke, der das Team leitete. Der Schreibtisch ihres vorläufigen Team­partners Frederick Bartels, der ihr normalerweise gegenübersaß, war verwaist. Auch Ole Tiedemann, ein weiteres Teammitglied, glänzte durch Abwesenheit. Der dritte Kollege, Kriminaloberkommissar Sven Andresen, befand sich noch im Urlaub.

      Malin hatte gerade nach einem Franzbrötchen gegriffen, als ihr Telefon klingelte. Seufzend legte sie das Brötchen beiseite und nahm den Hörer.

      »Brodersen? Fricke hier. Am Wellingsbüttler Torhaus wurde heute früh eine Leiche gefunden«, brummte ihr die Stimme des Vorgesetzten ins Ohr. »Wir brauchen Sie hier am Tatort.«

      Endlich. Malin schluckte ihre Aufregung hinunter. »Ich bin schon unterwegs.«

      Sie nahm den Fahrstuhl und ging mit schnellen Schritten in die Tiefgarage des Präsidiums zu ihrem Auto, einem grünen Mini Baujahr 1979 mit durchgesessenen schwarzen Ledersitzen und Holzlenkrad. Der Mini war bereits zum Zankapfel zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten geworden. Es war üblich, die Dienstwagen zu nehmen. Da ihr jedoch keine Dienstvorschrift die Nutzung des Privatfahrzeugs während der Arbeitszeit ausdrücklich verweigerte, hatte Malin sich durchgesetzt.

      »Bitte, bitte spring an«, murmelte Malin, als sie sich hinters Lenkrad setzte. Gleichmäßig brummend kam der Motor in Gang.

      Zwanzig Minuten später bog Malin vom Wellingsbüttler Weg in den Waldweg zum Torhaus ein. Schon von Weitem sah sie die für diese Uhrzeit ungewöhnlich vielen Autos auf dem Parkplatz, darunter auch einen Übertragungswagen des Lokalsenders. Schaulustige drängelten sich dicht an dicht. Malin kurbelte das Fenster herunter und zeigte dem uniformierten Beamten ihren Dienstausweis. Mit einem kurzen Nicken winkte er sie durch die Absperrung.

      Mehrere Einsatzfahrzeuge standen dahinter, eins erkannte sie als Frickes Dienstwagen. Sie parkte daneben und ging die restlichen Meter zu Fuß. Vom Regen und Sturm der letzten Nacht war nichts mehr spürbar. Die Luft war kühl und klar, und durch den Frühnebel drängten sich schon vereinzelte Sonnenstrahlen.

      Vor ihr lag das Wellingsbütteler Torhaus, ein historisches Fachwerkgebäude aus rotem Backstein. Die beiden Torhausflügel hatten weiße Sprossenfenster und kleine schmale Giebel. Es war ein beeindruckendes Gebäude.

      Schon von Weitem konnte Malin Hauptkommissar Fricke­ und einige andere Kollegen erkennen. Sie folgte dem von der Polizei angelegten Trampelpfad. Keiner nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Malin entschied, jetzt sei der falsche Zeitpunkt für persönliche Eitelkeiten. Sie stellte sich unmittelbar neben ihren Chef, folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Kurz schloss sie die Augen und kämpfte gegen das Würgen in ihrem Hals. Sie zwang sich, wieder hinzuschauen.

      2

      Die ersten Sonnenstrahlen warfen einen schwachen Schein auf das dunkle Gemäuer des Torhauses. Ein Mensch war mit dicken Seilen zwischen die alten Balken des Toreinganges gespannt. Der leblose Körper war mit einem weißen Tuch bekleidet und wurde durch die Seile so gestrafft, dass die Leiche die Haltung eines Hampelmannes einnahm. Der Kopf war auf die Brust gesunken. Körperbau und Größe wiesen darauf hin, dass es sich um einen Mann handelte. Nichts deutete auf eine äußerliche Verletzung.

      Malin hörte jemanden stöhnen und bemerkte verwundert, dass dieses Geräusch aus ihrer eigenen Kehle drang. Die anderen Beamten starrten sie an, und sie spürte, dass sie rot wurde.

      Ihr Teamkollege Frederick Bartels trat auf sie zu, ergriff ihren Ellenbogen und führte sie ein paar Schritte beiseite. »Schließ die Augen und atme tief durch. Und achte nicht auf die anderen. Bei denen war es am Anfang auch nicht anders.«

      »Geht schon wieder. Danke.« Ihr Pulsschlag normalisierte sich.

      Scheinwerfer waren aufgestellt worden, sie hörte das Klicken einer Kamera, und einige Beamte der Spurensicherung durchsuchten in ihren Schutzanzügen, die sie wie Astronauten aussehen ließen, das Gelände um den Torbogen. Ein Handy klingelte.

      Mittendrin stand Fricke. Sein wirres Haar klebte ihm noch vom morgendlichen Duschen am Kopf und ein Zipfel seines Hemdes lugte unter seiner Jacke hervor. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Malin atmete noch einmal tief durch und trat dann entschlossen auf ihn zu.

      »Schöner Schiet«, sagte Fricke nicht unfreundlich und mit einer Kopfbewegung in Richtung Leiche.

      Gerade stellte ein Beamter eine Leiter unmittelbar daneben auf. Der junge Mann, kaum dem Teenager-Alter entwachsen, wurde auffallend blass. Schnell drehte er sich um und rannte zum nächstliegenden Gebüsch. Ein Würgen war zu hören.

      Malin stieß der süß-säuerliche Geschmack ihres Frühstückes auf. Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Fricke wühlte in seinen diversen Jackentaschen und reichte ihr ein abgegammelt aussehendes Zitronenbonbon. Misstrauisch beäugte sie das fleckige Papier, doch sobald sich der Zitronengeschmack in ihrem Mund ausbreitete, ging es ihr besser.

      »So, Brodersen, dann machen Sie sich mal nützlich. Die Frau da drüben, Ingrid Larsen, hat die Leiche gefunden.« Fricke wies auf eine ältere Dame, die einige Meter entfernt auf einer Parkbank saß. Eine Polizistin hatte ihr eine Decke über die Schultern gelegt und schien beruhigend auf sie einzureden. »Frau Larsen arbeitet für das Alstertal-Museum, das ist im linken Flügel des Anbaus. Sie scheint noch unter Schock zu stehen, hat bisher kaum etwas Brauchbares von sich gegeben. Sehen Sie zu, dass sich das ändert.«

      Die alte Frau saß zusammengekauert auf der Bank und umklammerte ihren Kaffeebecher. Ihr blasser Teint war um Augen und Nase gerötet. Sie hob ihren Blick, als Malin auf sie zutrat, und strich sich zitternd eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.

      »Frau Larsen, mein Name ist Malin Brodersen, LKA Hamburg. Lassen Sie es uns noch einmal gemeinsam durchgehen. Also, um welche Uhrzeit haben Sie die Leiche gefunden?«

      »Es war so gegen zehn nach sieben, ich hatte gerade auf die Uhr gesehen, kurz bevor ich …« Sie schluckte. »Ich muss normalerweise durch das Tor gehen, um zum Eingang des Museums zu gelangen. Er liegt auf der Hinterseite. Aber ich konnte doch nicht …« Ihre Stimme versagte. Eine Träne kullerte über ihr Gesicht. Malin legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. »Ich konnte da doch nicht einfach durchgehen, also bin ich zum Alsterdomizil gelaufen, um deren Telefon zu benutzen.«

      »Alsterdomizil?«

      »Die Seniorenresidenz hinter dem Westflügel vom Torhaus. Direkt neben dem Herrenhaus.«

      »Das haben Sie richtig gemacht, Frau Larsen. Bitte versuchen Sie sich jetzt noch mal genau zu erinnern, ob Sie vielleicht jemanden auf Ihrem Weg begegnet sind?«

      »Nein, ich bin niemandem begegnet.«

      »Ist Ihnen denn in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Vielleicht ein ungewöhnlicher Besucher, oder gab es irgendwelche sonderbaren Anfragen?«

      »Nein, es war alles wie immer.« Sie klang kraftlos.

      »Gut, Frau Larsen, das war es dann fürs Erste. Meine Kollegin wird sich jetzt um Sie kümmern. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen: Unter dieser Nummer können Sie mich jederzeit erreichen oder mir eine Nachricht hinterlassen.« Malin reichte ihr eine Visitenkarte und drehte sich zu der uniformierten Polizistin um, die in einigem Abstand gewartet hatte. »Bitte sorgen Sie doch dafür, dass Frau Larsen nach Hause gebracht wird.«

      Sie ging zu Frederick Bartels. Ihr Teamkollege war Mitte dreißig und von sportlicher Statur. Er hatte kräftiges dunkelbraunes Haar, kantige Gesichtszüge und seine dunklen, fast schwarzen Augen erweckten

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