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      Der kleine Arbeiter-Trupp, der den päpstlichen Abgesandten, den Nuntius Pacelli, um den sich die Gegner der Bayerischen Räterepublik sammeln, im Hausarrest festsetzen soll, scheut vor der Apostolischen Nuntiatur im Herzen Münchens zurück. Die Arbeiter mit umgehängten Gewehren fordern den 23-jährigen Ado auf, das Kommando zu übernehmen. Sie gehen davon aus, dass er mit seinem adligen »von« im Namen dieser Situation eher gewachsen sein werde. Mit der Pistole in der Hand geht Ado hinein, gefolgt von einer Handvoll Rotgardisten, sucht einen Weg über die breiten Treppen durch das weiträumige Palais, während Nonnen davonhuschen, und betritt endlich den Salon, wo ihn Pacelli stehend erwartet. Befeuert von seinem Zorn auf den dünkelhaften Reaktionär tritt er an den breiten Schreibtisch des vatikanischen Botschafters, legt mit wirkungsvoller Geste die Pistole neben sich und verkündet ihm den Hausarrest. Dieser Nuntius wird später zu Papst Pius XII., zum Stellvertreter Gottes in Hochhuths Theaterstück. Die Episode aus der Münchner Räterepublik, die Seka mit Lachen und verborgenem Stolz gern erzählt, hallt auch im Vatikan bis ins neue Jahrtausend nach. Ein um Generationen späterer Nachfolger von Pacelli ereifert sich in einer Kanzelrede: »Am 3. April 1919 wurde die Nuntiatur von einer Bande gestürmt und der Nuntius sogar mit einem Revolver bedroht.« Ahnungslos sagt er es an einem 21. Februar, dem Tag der tödlichen Schüsse auf den Ministerpräsidenten Kurt Eisner.

      Denn nach diesem Mord an Kurt Eisner bilden sich die Arbeiter- und Soldaten-Räte. Künstler tun es ihnen gleich, Ados Unterschrift steht unter dem Gründungsprotokoll des Revolutionären Künstler-Rats. Paul Klee bietet seine Mitarbeit an: »Der Aktionsausschuss revolutionärer Künstler möge ganz über meine künstlerische Kraft verfügen. Dass ich mich zugehörig betrachte ist ja selbstverständlich, Ihr Klee«. Rilke geht zu den Versammlungen, hört stundenlang zu. »So viel Wichtiges geschieht jetzt, so viel Hoffnung ist überall«, sagt er zu dem jungen Schriftsteller Oskar Maria Graf.

      Am 2. Mai erobern Freikorps-Söldner und Reichswehrtruppen die Stadt. Sie töten Hunderte Arbeiter. Ado wird verhaftet. In der mit Männern überfüllten Zelle im Gefängnis Stadelheim horchen sie auf das Gebrüll und die Schüsse im Hof. Was Eugen Leviné zwei Monate später vor Gericht sagen wird, denken auch sie: »Wir Kommunisten sind Tote auf Urlaub. Ich weiß nicht, ob Sie meinen Urlaubsschein verlängern werden oder ob ich einrücken muss zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.« Es ist nur ein halbes Jahr her, dass beide von Freikorps-Offizieren umgebracht wurden. Der Wachmann ruft in die Zelle: »Ado von Achenbach hier?«

      Da tritt sein Vater in Offiziersuniform in die Tür und gibt ein knappes Zeichen zum Mitkommen. Ado steht auf, die Füße bleischwer, ungeheuerlich der Zusammenprall von Scham und Glück in ihm. Sie setzen sich ins Auto, zurück nach Berlin, ohne ein Wort. Nie wieder ein Wort. Bis zum Tod.

      Der Vater war erst an diesem Morgen aus dem Krieg nach Hause gekommen. Ein Telegramm auf dem Tisch ADO IM GEFÄNGNIS STOP IHM DROHT TODESSTRAFE. Paula hatte ihn angefleht, den ungeliebten Sohn zu retten. Er hatte die Uniform nicht ausgezogen, sich zum Fahrer ins Auto gesetzt, war geradewegs nach München zum Gefängnis Stadelheim gefahren. Die Soldaten hatten strammgestanden, ihm die Türen geöffnet. Der Vater verzeiht es Ado nicht, dass er ihn genötigt hat, gegen seinen Ehrenkodex zu verstoßen.

      Künstler, Verleger, die freien Geister verlassen die Stadt. Ado geht zum Monte Veritá nach Ascona. Die Niederschlagung der Roten ist für Hitler ein Anfangsmythos. Rilke zieht nach einer wüsten Hausdurchsuchung in die Schweiz, er betritt nie mehr deutschen Boden und schreibt: »Etwas ist ausgeblieben, was alles ins Maß gerückt hätte. Deutschland war nur auf Rettung bedacht, in einem oberflächlichen, raschen, misstrauischen, gewinnsüchtigen Sinn, es wollte leisten und hoch- und davonkommen … Ein Datum fehlt, an dem Anhalt gewesen wäre. Eine Sprosse in der Leiter; daher die unbeschreibliche Besorgnis, die Angst, das Vorgefühl eines jähen und gewaltigen Sturzes.«

      29

      Am Abendbrottisch streicht Seka Butter auf ein Weißbrot, drauf streut sie Zucker, schneidet die Scheibe in kleine Vierecke und bittet, iss doch, Kind. Ihr zuliebe kaue ich langsam ein Stück und schlucke es. Andreas steht weiter hinten im Raum in seinem Bett, anderthalb Jahre alt, er hält sich am Gitter und plappert mit uns. Auf einer Kommode ein rotbrauner Mahagoni-Radiokasten, aus ihm verkündet eine tiefe Männerstimme: Bomber im Anflug. »Schon wieder«, stöhnt Seka. Sie zieht mir einen Mantel an, die Sirenen heulen in dem auf- und abschwellenden Ton, den niemand je vergisst. Sie nimmt Andreas mitsamt Plumeau auf den Arm, wir gehen umständlich viele Stufen im Haus hinunter.

      Der Keller in grauem Licht ist ein bebender Schiffsbauch, in dem sich die Passagiere zusammenklumpen. Die Tür über den steinernen Stufen springt auf, Ado steht in ihr, hinter ihm hellrotes Feuer, seine Hosenbeine flattern, als zerrten Geister an ihnen, er ruft: »Unser Haus ist getroffen, es brennt!« Ihm antwortet das Aufheulen dünner Frauenstimmen. Draußen winden sich hohe Flammen aus den Fenstern, das Feuer rauscht wie ein Sturm, durchsetzt von Knattern und Knallen. Verbrannte Stofffetzen, Papiere, Holzstücke segeln tanzend herunter. Ein Vorhang flattert weit nach außen wie im höchsten Vergnügen und verbrennt. In der Straße steht ein kleiner alter Laster mit offener Ladefläche für Holz und Kohlen. Um ihn drängen sich Frauen mit Kindern und flehen den Fahrer an, sie von hier wegzufahren. »Ich darf nicht, versteht doch, Frauen, es ist streng verboten.«

      Auf einmal dreht sich Seka um und geht mit uns los, in das Rot und Schwarz. Rot sind die himmelhohen Flammen, schwarz ist die Nacht. Seka geht mit uns hindurch, Andreas auf ihrem Arm, ich an ihrer Hand. In dieser Nacht ist Seka wie ein schmaler Baum, der mit uns wandert. Wie eine stumme Pflanze, die im tosenden Feuer die Gabe erhalten hat, sich aus ihren Wurzeln zu lösen und sich wegzubewegen. Keine Regung zu uns hin, kein Trösten, nicht einmal ein Gesicht, Schweigen, völliges Schweigen.

      Ein Polizist kommt, nimmt ihr wortlos das Kind ab, sie hebt mich hoch, trägt mich durch den Tiergarten und durchs Brandenburger Tor zum Hotel Adlon. Bis alles still wird in dieser Nacht des 23. Novembers 1943, bis dunkel glänzende, tiefe Ledersessel im Hotelfoyer uns aufnehmen.

       SAND

      zwischen zwei herzschlägen

      hat eine menge erfahrung platz

      so viele gegenstände

      kann man in beide hände nehmen

      Zbigniew Herbert

      30

      Sand. Auch die Straße ist nur Sand mit zwei tiefen Wagenspuren. Flaches Land. Wind. Die Bäume am Wegrand ohne Blätter. 1. Dezember 1943. Manchmal hört sie das Meer, aber sieht es nicht. Es rauscht auf, als wollte es sich erheben. Im Wind fein ein Tang-Geruch, den sie von Häfen kennt. Dann wieder nur der Geruch des Strohs, der Pferde, manchmal ein Hauch vom eigenen Parfum, der aus ihrem Schal aufsteigt. Mein Gott, ist das einsam, eintönig, arm. Alles ist arm, das Schilf, die Weiden, die tief gezogenen dicken Dächer aus Rohr über den Häusern ohne Licht, der Pferdewagen. Sie sitzt im Pelzmantel auf Stroh, Andreas im Arm, ich schlafend an ihre Knie gelehnt. Die zwei Klepper stampfen durch den Sand. Der Kutscher hockt zusammengesunken auf dem Bock. Schläft er? Ist er betrunken? Seka überlegt, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln kann. »Herr Kutscher, ist es noch weit?« Er brummt, sie versteht nichts. »Herr Kutscher, darf ich nach Ihrem Namen fragen?« Ihre Stimme dringt durch den Wind. Ihr R rollt, ihre Höflichkeit ist weltfremd, es ist unsinnig, ihn hier unvermutet nach dem Namen zu fragen, aber sie traut es sich. Was ist dabei? Als die Frage fast schon vergessen ist, sagt er etwas. »Wie bitte?« »Spangenberg«, sagt er lauter, dreht sich sogar halb um, wirft einen Blick auf sie. Sie wiederholt: Spangenberg. Er nickt, und auf einmal ist alles nicht mehr so trostlos. Der erste hiesige Name. Er hat doch geantwortet. Sie sind hier so, hatte ihr Ado versucht zu erklären, und sie hatte das Wort »stur« gelernt. Nur ein bisschen stur, fürchte dich nicht vor ihnen.

      Sie kommen im Dorf Ahrenshoop im Dunkeln an, der Kutscher fährt beim Bürgermeister vor. Seka hat den Schlüssel zum Haus des Malers Partikel, das ist ihre Legitimation. Der Bürgermeister führt sie hin, es ist kalt und muffig, er macht Feuer, sie schleppen ein Bett herunter in das Zimmer mit Ofen, sie schläft mit den Kindern ein, ohne sich auszuziehen. Am Morgen sieht

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