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Nachts herrscht Ausgangssperre, Seka und Ado hören Schüsse, morgens liegen Tote in der Straße. Dann wieder Stille bis zum Abend. Der Freund, der den Hitler gespielt hatte, wird in den ersten Kriegstagen im Gefängnis erschossen. Die Betlheims als Juden müssen ihre Wohnung im Verlauf weniger Stunden verlassen. Sie suchen mit der dreijährigen Tochter Ruth Zuflucht in Bosnien und ziehen vier Jahre lang mit den Partisanen umher, oft bei Nacht und zu Tode erschöpft.

      Nach einer Woche schlagen deutsche Soldaten an die Türen und teilen Zettel aus: Jeder habe um vier Uhr morgens zur Militärparade zu kommen, Männer und Frauen getrennt. Die Freunde wägen einen Tag lang ab, wie sie sich verhalten sollen. Ado, Klapper und Guillemin entschließen sich zu gehen. Sie werden aus der Menge heraus verhaftet, Spitzel müssen sie längst beobachtet haben. Wenige Tage später wird Seka auf der Straße angehalten, Ausweiskontrolle, ihre Papiere sind in Ordnung, die Soldaten unschlüssig, ein Offizier ruft über die Straße: »Alle mit, alle mit.« Zusammen mit vielen Frauen wird sie, mich tragend, auf den kleinen Sportplatz eines Vereins getrieben. Nach drei Tagen werden die Mütter mit Kindern herausgeholt und nach Hause geschickt. Die anderen Frauen bleiben erstarrt zurück.

      Ado wird im Zentrum der Stadt, in der Petrinjska ulica, festgehalten, in einem Raum mit vierzig Männern. Eines Morgens hört Seka den Schlüssel, und er ist da. Nach vier Wochen. Sie kann ihm kaum ihre Freude zeigen, als verschwände er gleich wieder.

      Nachrichten, Gerüchte, geheime Botschaften durchziehen die Stadt. Sie hören von dem Konzentrationslager Jasenovac und sträuben sich, die Mordlust zu glauben. Die Verbrechen der Wehrmacht beim Einmarsch in Polen sind ihnen bekannt, das waren die von Hitler fanatisierten Deutschen, die Ustaschas sind zwar ebenfalls Faschisten, aber schließlich Jugoslawen. Bis Seka und Ado einen Mann aufnehmen, der durch Bestechung aus Jasenovac wieder freigekommen ist. Nachts schreit er, kann vor Angst nicht schlafen. Beim Essen fällt er vor Müdigkeit mit der Stirn auf die Tischplatte.

      Dass sich nach der Lähmung der ersten Wochen Partisanen formieren, hören und verfolgen die Zagreber Freunde erregt, sie fühlen sich gerufen und beraten sich. Eine schweigsame Frau bringt Nachrichten auf kleinen Zetteln, von einem Band umwickelt, Kassiber, die Seka ohne Verzug in der Stadt austrägt. Im Herbst machen sich Ados Freunde Klapper und Guillemin in die Berge zu den Partisanen auf, sie versuchen Ado zu überzeugen, mit ihnen zu gehen. Selbst Seka redet ihm zu. Er kann sich nicht durchringen, die schwangere Seka zu verlassen, er kann nicht mit einer Waffe in der Hand kämpfen.

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      Es schneit unentwegt. Zehn Monate ist Krieg im Land. Die Klinik erreicht Seka nur durch einen schmalen hohen Schneekorridor, sie bringt ihr zweites Kind, einen Sohn, zur Welt, der den Namen Andreas bekommt. Und dazu den trotzigen, kantigen bosnischen Namen Tvrtko. An den fünf aneinandergereihten Konsonanten lässt er später mit Triumph seine deutsche Umgebung scheitern.

      Über viele Jahre bewahre ich ein erfundenes Bild in mir und lasse es durch nichts antasten: Da sehe ich Ado und Seka mit dem neugeborenen Andreas im Arm vor dem Radio stehen und die Nachricht vom deutschen Überfall auf Jugoslawien hören. Ich habe sein Auf-die-Welt-kommen und den Krieg nicht zusammen denken können. Damit habe ich meine Vorstellung von Ado und Seka geschützt, als hätten sie immer ihre Gegenwart erkannt und bewusst gehandelt. Als hätten sie nicht im Krieg gelebt wie fast alle, zeitweilig erblindet, unentwirrbar mit dem Alltag verwoben, der nie aufhört. Den jüngeren Bruder aber, den sie nach der Rückkehr aus Ados erster Haft gezeugt haben, hole ich mit dieser Zeitverschiebung in die Zagreber Vorkriegs-Glückskapsel mit herein.

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      An einem Frühlingstag an der Havel, die flach durch die Wiesen treibt, im überscharfen Grün vom Gras und Gelb der Butterblumen ein gedeckter Geburtstagstisch. Die Gäste aus Berlin, noch im Krieg geborene Frauen und Männer, eine Stimme setzt sich am Tisch durch: »Wie schwer es war herauszukriegen, was unsere Eltern im Krieg getan haben!« Und sie fangen an, einander von ihren kindlichen Ahnungen zu erzählen, von Wörtern, die nicht für ihre Ohren gedacht waren, von Andeutungen, die unheimlich waren, von ihren Zweifeln an den Eltern, Onkeln, Tanten. Vom ungeheuerlichen Wagnis der ersten unbotmäßigen Frage, von Brüchen und Verletzungen. – Die Sonne scheint weiter, aber die Erinnerungsfetzen an das Verweigerte und Beschämende verdunkeln sie. Andreas sitzt neben mir, wir hören schweigend zu, er neigt sich zu meinem Ohr und flüstert: »Was uns Ado und Seka doch erspart haben!«

      Ich verlasse die kleine Gesellschaft, laufe auf die Wiesen hinaus. Ein Storch lässt sich mit ausgebreiteten Flügeln von den Aufwinden hochtragen, reglos. Manchmal stehen Störche im Feld, der Zug fährt an ihnen vorbei, wenn sie auffliegen, scheint es mühevoll. Dieser schwebt groß und ruhig, gelassen. Ich will ihn so lange mit den Augen begleiten, bis er den ersten Flügelschlag machen muss. Er segelt über das Dorf, dann schräg hoch über die Havel, gleitet über die Wiesen, wieder zurück über das Dorf, steigt dabei kaum merklich höher. Er ist in die Luft geschmiegt, mal geneigt, wieder gerade. Er braucht keinen Nutzen, keine Zeugen, er lässt sich einfach heben, unter den Federn die Luft, die ihn trägt, der er sich anvertraut. Das ist die reine Freude in der Natur, ein Jubel, den sie für sich selbst anstimmt. Ohne Flügelschlag steigt der Storch so hoch, dass er nur noch ein Punkt ist.

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      Im Frühjahr trifft eine Vorladung zur Polizei ein, Decke und Zahnbürste sind mitzubringen. Das ist bedrohlich. Jetzt kann die Mutter ihnen in Zagreb nicht mehr helfen. Auch Konsul Freund von der deutschen Botschaft kann Ado nicht mehr gegen die Ustascha-Willkür schützen. Er war einst Assessor bei Ados Vater und bleibt der Achenbach-Familie treu. Vor Kriegsbeginn flanierte er mit seinem Hund durch den Park Maximir, Ado gesellte sich ihm mit seinem Boxer Babu zu, Konsul Freund klagte traurig über die Lage in Deutschland. Eine zweite Haft Ados hat er nach wenigen Tagen beenden können. Jetzt setzt er als seine letzte Tat die Namen von Ado und Seka mit den Kindern heimlich auf eine Liste von Deutschen, die aus Südrussland und dem ganzen Osten über den Balkan heim ins Reich treiben. Sie werden zu Partikeln in der Völkerwanderung, die die Nazis in Gang setzen. Schwäbische Bauernfamilien, Handwerker, Pastoren, deren Vorfahren einst ausgewandert waren, sollen die Höfe und Dörfer im eroberten Polen übernehmen. In diesen Strömen sind Ado und Seka mit den Kindern zeitweilig unsichtbar und erreichen die Achenbach’sche Wohnung, mitten in der Vorhölle Berlin.

      Das Haus im Spreebogen ist prächtig, die Adresse heißt In den Zelten. Hier lebt auf einer großen Etage Ados Mutter, die fünfundsiebzigjährige Paula, die erst durch die faschistischen Rassengesetze daran erinnert wurde, dass sie Jüdin ist. Als es noch einen Kaiserhof gab, war sie als charmante Gattin des preußischen Ministers Heino von Achenbach gern zum kleinen Zirkel der Kaiserin nach Potsdam eingeladen worden. Jetzt sind auf alle Kleider große gelbe Sterne genäht, und in den Ausweis ist der Vorname Sarah gesetzt. Ihr Mann ist 1933 gestorben, sie ist zurückgeblieben in der Welt, die außer sich ist.

      Das Familienvermögen entzieht ihr der NS-Staat in Schüben und nennt es Judenbuße. Aber noch lebt sie in ihrer glanzvollen Wohnung, die früher nie ohne Gäste war und in der jetzt die Stille herrscht. Tochter Freda, Witwe eines Bankdirektors, nun zur Halbjüdin erklärt, wird genötigt, ihr Haus in Geltow an die Wehrmacht zu verkaufen. Seitdem lebt sie bei der Mutter. Auch eine Köchin gibt es, Rilli, die – ähnlich wie die Köchin Tereza in Sarajevo – eine Vertraute der Frauen ist. Die Rituale der Mahlzeiten werden eingehalten, als wäre die Welt nicht verstümmelt. Die alte Dame wandelt versonnen zwischen den glänzenden Möbeln und poliert mit einem weichen Tuch silberne Kannen, Dosen und Schalen auf den Kommoden.

      In diesem vereinsamten Haus taucht wie eine Erscheinung der verlorene Sohn auf. Und seine junge Frau aus Bosnien, deren Deutsch klangvoll und voller reizender Fehler ist und mit ihnen die zwei Kinder. Eine Überfülle an neuen Tönen bricht herein. Seka ist ungezwungen wie hier schon lange niemand mehr und beherrscht doch seit der Kindheit in Sarajevo die Etikette, als wäre auch sie in die höfischen Spielregeln eingeweiht. Beim Tee scherzt sie großmütig mit Paula über kleine pikante Witze, Paula kann Tränen lachen, dieses Lachen rührt Seka, die ihre beherrschte Mutter vor Augen hat.

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      »Hat Ado Ihnen erklärt, dass im Namen Achenbach zwei Mal Wasser fließt? Eine

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