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und in der U-Bahn hat die Mutter immer Angst, dass das Kind stört, überall verlangen die Erwachsenen grimmig nach Ruhe, muss das Kind auf der Hut sein. Nichts falsch machen, nicht zu wild spielen, niemals laut lachen. Dabei lacht das Kind so gerne laut.

      Die Mutter steht vor dem Spiegel im Badezimmer. An diesem Abend hat sie ein neues rosafarbenes Kleid an, dessen eine Hälfte aus Seide, die andere aus Samt ist. Es fühlt sich wunderbar an. Es glänzt und leuchtet. Das Kind kuschelt sich darin ein. »Wohin gehst du?«, fragt es und schmiegt seinen Kopf in den Stoff. Die Mutter schaut in den Spiegel und malt die Augenlider an. »Ich bin eingeladen, von der Firma aus.« Die Mutter nimmt eine Kette. »Steht mir die?«, fragt sie.

      »Ja«, sagt das Kind.

      »Bleib bitte hier!«, bettelt das Kind, es hält das Kleid der Mutter fest.

      »Zerreiß es nicht!«, ruft die Mutter und dreht sich vom Kind weg. »Warum soll ich nicht weggehen«, ruft sie und es klingt traurig, »habe ich kein Recht dazu? Deinen Vater fragst du nicht, wenn er weggehen will, er darf immer.« Das stimmt, das weiß das Kind schon.

      Das Kind schweigt, wird nun traurig. Es riecht an dem Kleid. Es ist wie das Kleid einer Königin.

      »Bin schon zu spät«, sagt die Mutter.

      »Nicht«, bittet das Kind.

      »Ich geh, wann ich will«, ruft die Mutter, »das hast du mir nicht vorzuschreiben!«

      »Anja! Sieh mal, ich hab dir was mitgebracht!«

      Das Kind schaut aus dem Bett auf. Die Mutter kommt auf sie zu, umarmt sie. Sie gibt dem Kind einen Pullover. »Hier, einen schönen Pullover hab ich dir mitgebracht.« Das Kind nimmt den Pullover, er ist grün-schwarz gestreift, es befühlt ihn, blickt die Mutter aufmerksam an. »Zieh ihn an, ich will mal sehen, wie er dir steht!«, drängelt die Mutter.

      »Gehst du wieder?«, fragt das Kind

      »Ja, aber erst nachher.«

      Irgendwann zieht Luise, die jüngere Schwester ihrer Mutter, in das kleine Zimmer in der Wohnung ein, das Fenster geht zur Straße hin. Sie sitzt über ihre Bücher gebeugt. Einmal sitzen sie nachts zusammen im Zimmer und warten auf die Mutter, die schon längst da sein wollte. Aber die Mutter kommt nicht. Das ist nicht so schlimm, sagt das Kind. Aber Luise findet das schlimm, sie regt sich auf, denn sie hat am nächsten Morgen eine Prüfung. Es ist dem Kind peinlich, dass die Mutter die Tante verärgert. Sie sitzen lange zusammen am Fensterbrett, erzählen sich was und schauen gemeinsam auf die leere Straße. Das Kind fühlt sich beim Warten ganz anders als sonst, ruhiger. Dann wird es hell. Endlich kommt die Mutter. Die Tante macht ihr Vorwürfe, dem Kind tut die Mutter leid. Sie ist allein, denkt das Kind, sie sucht doch einen Mann.

      Manchmal bringt die Mutter einen Mann mit nach Hause. Die Mutter tut dann sehr geheimnisvoll. Sie versucht, leise zu sein. Sie sitzen bei flackerndem Kerzenschein. Frühmorgens klappt dann die Haustür, da geht der Mann. Das Kind findet es gut, wenn die Mutter mit einem Mann da ist, dann ist es nicht allein in der Wohnung. Dann ist sicher, dass die Mutter nicht mehr weggeht.

      An manchen Abenden kommt einer vorbei, den sie Onkel Egon nennen. Das Kind soll lieb sein, die Hand geben und dann schnell wieder ins Bett. Es wird dazu extra reingeholt, und die Mutter sagt zu Onkel Egon, dass er doch einen Zaubertrick vorführen solle, das möge das Kind so gerne. Der macht das dann, und das Kind nickt brav dazu. Dann sagt der Onkel, dass es nun Zeit für das Bettgehen wäre. Doch das Kind will, dass die Mutter es ins Bett bringt. Der Onkel murrt und findet das lästig. Die Mutter sagt zu dem Kind, es solle allein gehen.

      »Der will auch nur das eine«, sagt es später zur Mutter.

      »Du altkluge Göre«, schimpft die Mutter, »was fällt dir denn ein?«

      Später einmal sind die Mutter und sie in einem Lokal, die Mutter schaut sich um, holt einen Spiegel heraus und richtet ihre Haare. Sie schaut nochmals sich um und lacht unsicher. Hinten sitzt eine Gruppe Männer, die prosten ihr zu. Ein Mann löst sich von der Gruppe und kommt näher. Als der Mann an den Tisch tritt, wird die Mutter verlegen, dann sagt sie ihren Namen und ein viel jüngeres Alter. Am Ende deutet sie auf das Kind und sagt: »Das ist meine kleine Schwester.«

      Wäre ich nur weg, denkt das Kind, das wäre gut für die Mutter. Sie hätte dann Ruhe und könnte machen, was sie wollte und müsste nicht zu Hause bleiben.

      Oft ist das Kind krank. Mandelentzündung. Dann macht die Mutter morgens das blaue Sofa im Wohnzimmer zurecht, und das Kind kriegt das Essen ans Bett gestellt. Vormittags hört das Kind im Radio Schulfunk, und danach legt es sich Kinderlieder und Märchenplatten auf. Es liegt auf hohen Kissen und schaut sich Bilderbücher an. Und die Mutter kommt an solch paradiesischen Tagen früher nach Hause.

      Abends kann das Kind oft nicht einschlafen. Der Bauch tut weh, es steht noch mal auf, geht ins Bad. »Mir ist schlecht«, sagt das Kind. Die Mutter kommt dann und hält die Stirn, wenn es sich über der Kloschüssel erbricht. Das ist ein gutes Gefühl.

      Wie im Paradies ist es auch, wenn das Kind seine Oma besuchen darf. Dazu fährt es mit der Mutter zusammen im Zug nach Stade. Die Oma hat immer lustige Einfälle und kann witzige Geschichten auf Ostpreußisch erzählen. Das Kind lacht dort viel, zusammen mit Oma Erna und Tante Gertrud. Ihre Tanten sind auch oft da, die helfen dann immer im Haushalt. Die Mutter bleibt nie lange, fährt bald wieder weg, das Kind bleibt. Das ist aber nicht schlimm, bei der Oma fühlt sich das Kind nicht allein. Die Oma hat immer viel Zeit, sie kochen zusammen und lachen und erzählen. Oma Erna wohnt in einem alten hohen Haus mit einer Holzbalkenfassade, in der Kirchhofstraße in Stade. Dort gibt es eine alte Zinkbadewanne auf dem Boden, da baden sie das Kind. Und manchmal, wenn es Fieber hat, wird das Kind von Tante Gertrud und Oma Erna in viele Laken eingewickelt und muss im Bett unter drei Federbetten schwitzen. Das ist anstrengend, aber da fühlt sich das Kind gut aufgehoben.

      Oma Erna liegt manchmal schon am Tag im Bett, denn sie hat Migräne. Sie liegt dann im dunklen Zimmer und will allein sein. Oma Erna wohnt mit Tante Gertrud, ihrer Schwester, zusammen und hat noch Fritz und Walther bei sich, ihre jüngsten Kinder. Die essen immer zu wenig, findet die Großmutter, und abends gehen sie oft noch weg.

      An Hand der Oma Erna macht das Kind in Stade lange Spaziergänge in die Wiesen. Dort grasen sogar Kühe, man kann von weit weg den Stader Kirchturm sehen. Die Oma unterhält sich mit dem Kind wie mit einer Erwachsenen, während sie dort wandern. Sie erzählt von den Dingen des Lebens und der Natur und erklärt ihr die Sternzeichen und dass Gott sei Dank nun endlich Frieden sei.

      Oma Erna erzählt auch von der Flucht, und wie sie mit sieben Röcken übereinander, mit sechs Kindern, der Omama, dem Opapa und der Tante Gertrud geflüchtet seien vor dem Krieg. Und das Kind sieht riesige Rauchwolken vor sich und brennende Häuser.

      »Komm, hilf mir«, sagt sie, wenn sie auf dem Friedhof ankommen, zu dem sie oft durch die Wiesen wandern, »du bist jetzt schon groß.« Und das Kind darf mithelfen bei der Gartenarbeit, darf die Harke holen und das Wasser, und darf kleine Blümchen pflanzen und mit der großen Harke harken und die Blumen gießen.

      Oma Erna kocht einen weißen Pudding mit Eischnee und Kirschen. Den stellt sie zum Abkühlen oben auf den Küchenschrank. Dort stehen Weihnachten die Keksdosen, gefüllt mit Lebkuchen. Kuchen wird in einer großen braunen Schüssel angerührt, und der Braten im Ofen muss gut bewacht und gewendet und mit Wasser begossen werden. Das Kind darf bei allem helfen. Das Essen nehmen sie an einem riesigen Tisch im Wohnzimmer ein. Dort sitzen sie dann alle. Die beiden Tanten, die beiden Onkel, die noch zur Schule gehen, Tante Gertrud, ihre Oma und sie.

      »Du bist gut«, sagt die Oma und streichelt dem Kind über den Kopf. Das Kind liebt es, wenn die Oma so zu ihr ist. Im Wohnzimmer tickt eine dunkelbraune Wanduhr und schlägt jede Viertelstunde. Das Kind hört dem Schlagen der Uhr gerne zu, wenn alle ausruhen und man im Wohnzimmer auf dem Sofa liegen darf.

      Vor Opa Heinrich, dem Vater ihrer Mutter, hat das Kind Angst gehabt, solange er noch lebte. Er war nicht oft da, denn er musste in seiner »Kanzlei« arbeiten. Er habe eine Anwaltskanzlei, hieß es, gleich neben der Regierung, darüber wurde mit Ehrfurcht gesprochen. Er sei außerdem ein Regierungspräsident, sagten sie, und das stellte sich

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