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> Sophienlust Classic – 55 –

      »Mutti, du musst verstehen, dass das nicht geht«, sagte Andrea von Lehn mit Entschiedenheit. »Unser Tierheim ist ziemlich voll. Eine Gänseherde können wir im Moment beim besten Willen nicht beherbergen. Die passt doch viel besser nach Sophienlust.«

      Denise von Schoenecker, die ihre Tochter auf eine Tasse Kaffee besuchte, seufzte. »Unser Gänserich hat einen fürchterlichen Hass auf Moiras Gänsemutter mit ihren sechs Küken. Du solltest mal sehen, mit welchem Heldenmut das kleine Mädchen seine Gänsefamilie verteidigt, obwohl es vor dem Ganter selbst Angst hat. Es ist rührend anzusehen.«

      »Du bist viel zu gutmütig, Mutti. Dass du das Kind aufgenommen hast, gehört zu den Gepflogenheiten des Hauses. Aber gleich sieben Gänse dazu! Musste das sein?«

      Denise nickte. »Das Kind hat einen Schock erlebt. Du weißt doch, dass es mit seinen Eltern im Auto verunglückt ist. Die Erwachsenen waren vermutlich sofort tot, und die Bauersleute nahmen das Kind mit, um es gesundzupflegen.«

      Andrea hob die Schultern. »Das ist eine ziemlich verrückte Geschichte, Mutti. Zuerst haben die Leute weder einen Arzt geholt noch die Behörden verständigt, und jetzt sieht es so aus, als habe Moira sonst keine Angehörigen mehr. Es muss sich doch aber zumindest feststellen lassen, wer damals eigentlich verunglückt ist.«

      »Es war ziemlich weit von hier entfernt, wie du weißt«, entgegnete Denise. »Ich habe alles, was ich aus den Leuten herausfragen konnte, inzwischen schriftlich niedergelegt. Möglicherweise lebten die Eltern doch noch und liegen in irgendeinem Krankenhaus. Sicherlich werden wir sehr bald erfahren, woher unsere kleine Amerikanerin stammt. Ich nehme an, aus Frankfurt. Dort wohnen ja viele Amerikaner.«

      »Schon möglich. Trotzdem soll sie ihre Gänse in Sophienlust lassen. Der Ganter wird sie schon im Lauf der Zeit dulden.«

      »Es ist das erste Mal, dass uns mitgebrachte Tiere Kopfzerbrechen bereiten, Andrea! Sonst ist uns immer eine Lösung eingefallen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass Moira ihre Gänse in einer Frankfurter Stadtwohnung halten darf.«

      »Ins Flugzeug darf sie sie bestimmt auch nicht mitnehmen, falls man sie in die Staaten zurückholt«, fügte Andrea hinzu. »Sei mir nicht böse, Mutti – aber du musst einsehen, dass ich die Gänse hier nicht aufnehmen kann.«

      Andrea, aus der ersten Ehe Alexander von Schoeneckers stammend, liebte Denise wie ihre leibliche Mutter. Auf Gut Schoeneich war neues Glück eingezogen, als Denise, die verwitwet gewesen war, Andreas Vater geheiratet hatte. Vom ersten Tag an hatte sich die neue Familie harmonisch zusammengefügt: Denise mit Sascha, Alexanders Ältestem, und Andrea – Dominik, dem Erben von Sophienlust, von jedermann liebevoll Nick gerufen, mit Alexander. Vollkommen war das Glück geworden, als sich dann noch der kleine Henrik eingestellt hatte. Seitdem waren Jahre vergangen. Henrik besuchte inzwischen schon die Schule, Nick das Gymnasium. Sascha studierte auf der Universität in Heidelberg, und Andrea war bereits mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet, der die Praxis seines Vaters übernommen hatte. Hier, in Bachenau, auf dem Lehnschen Grundstück, befand sich das von Andrea und ihrem Mann gegründete Tierheim Waldi & Co., in dem kranke und verlassene Tiere jeder Gattung Aufnahme und Unterkunft fanden.

      Sophienlust aber, das herrliche Gut mit dem schlossähnlichen Herrenhaus, das Nick von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt hatte, war – dem Vermächtnis der Verstorbenen zufolge – in ein Kinderheim umgestaltet worden. Bis zu Dominiks Großjährigkeit verwaltet Denise dieses Heim. Alexander aber beaufsichtigte den Betrieb des Gutes, obwohl er als Besitzer von Schoeneich auch dort durchaus genug zu tun hatte. »Müssen wir uns also für Moiras Gänse etwas anderes ausdenken«, äußerte Denise fröhlich. Sie ließ sich durch solche Probleme nicht entmutigen. Für sie stand ohnehin fest, dass dieses reizende Kind, das inzwischen schon erstaunlich gut Deutsch sprach, wenn auch mit englischen Brocken vermischt, nicht allzu lange in Sophienlust bleiben würde. »Ich muss zurück, Andrea«, fügte sie, sich erhebend, hinzu. »Hätte ich nicht ohnehin in Bachenau zu tun gehabt, wäre meine Anfrage telefonisch erfolgt.«

      Andrea umarmte sie. »Du hast immer ein bisschen zu viel zu tun, Mutti. Ich schäme mich, dass ich die Gänse nicht nehmen kann.«

      Denise strich ihr zärtlich über das Haar. »Mir wird es schon nicht zu viel, Kleines. Vielleicht ist es für Moira sogar besser, wenn die Gänse bei uns bleiben. Sie hängt sehr an ihnen. Die netten Bauersleute haben sie ihr zum Abschied geschenkt. Wahrscheinlich dachten sie, dass die Gänse bei uns auf dem Gut kein Problem seien.«

      »Sie werden sich gar nichts gedacht haben, Mutti«, lachte Andrea. »Das geht doch aus ihrem sonstigen Verhalten ziemlich deutlich hervor. Wie kann man ein Kind aus einem zertrümmerten Auto retten, ohne irgendjemanden zu verständigen? Das ist bei aller Hilfs­bereitschaft ein bisschen weltfremd.«

      Andrea begleitete ihre Mutter bis zum Auto, das vor der Einfahrt parkte. Die schwarze Dogge Severin folgte ihrer jungen Herrin, wie immer, auf dem Fuße, während die Dackelfamilie eigene Wege ging.

      »Schade, dass du keine Zeit hast, ins Tierheim zu schauen«, bedauerte Andrea. »Die Bärenjungen werden immer intelligenter.«

      »Das nächste Mal, Kleines. Euer Heim wird nach und nach zu einem richtigen Zoo, möchte ich sagen. Ihr könntet bald Eintritt für die Besichtigung verlangen.«

      »Danke«, lachte Andrea. »Dann hätten wir noch mehr Arbeit.«

      Denise stieg in ihren Wagen und fuhr davon. Es war nicht weit bis nach Sophienlust. Jedes Mal wurde es ihr warm ums Herz, wenn sie das Herrenhaus erblickte. Dann dachte sie an den Tag, an dem sie mit Nick zum ersten Mal hierhergekommen war – zur Testamentseröffnung. Damals hatte sich ihr gesamtes Leben mit einem Schlag verändert. Not und Sorge um das tägliche Brot hatten ein Ende genommen. Vor allem aber war sie nicht mehr gezwungen gewesen, sich von ihrem kleinen Sohn zu trennen.

      Vor dem Haus spielte eine Gruppe von Kindern. Sie kamen sofort angelaufen, um ihre geliebte Tante Isi zu begrüßen. Vicky Langenbach berichtete aufgeregt, dass Moira jetzt eine Schubkarre von Justus bekommen habe, um ihre Gänseküken beisammenzuhalten.

      »Es sieht komisch aus, wenn sie mit der Karre losrennt, sobald der Gänserich auftaucht, Tante Isi«, meinte Vicky lachend. »Vorhin hat Nick den ollen Ganter mit dem Stock wegjagen müssen. Dass er auf die fremde Gans so böse ist, kann ich gar nicht verstehen.«

      Denise nickte. »Ja, es ist betrüblich. Auf die Dauer werden die Gänse wohl nicht hierbleiben können. Denn wenn die Küken größer werden, müssten sie mit zu dem übrigen Geflügel in den Stall.«

      Vicky seufzte. »Da ist mein Meerschweinchen schon praktischer«, erwiderte sie.

      Denise betrat das Haus und ging sofort ins Büro, wo Frau Rennert, von den Kindern Tante Ma genannt, hinter ihren Büchern saß.

      »Gut, dass Sie da sind, Frau von Schoenecker«, erklärte Frau Rennert. »Es kam ein Anruf aus Frankfurt. Moira ist das einzige Kind eines Ehepaares namens – warten Sie, ich habe es notiert – Cassels heißen sie. Nein, man muss ja leider sagen, haben sie geheißen. Denn sie sind beide tot. Es stimmt, was die Bauersleute erzählten.«

      »Ich hatte immer noch gehofft«, stellte Denise traurig fest, »dass die beiden Erwachsenen gerettet werden konnten. So heißt unser Gänsemütterchen also Moira Cassels.«

      »Es waren Touristen aus Amerika. Nach dem Kind sind bis jetzt keine Nachforschungen angestellt worden. Aber die Angelegenheit ist dem amerikanischen Konsulat übergeben worden.«

      »So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt. Wahrscheinlich wird es nicht allzu lange dauern, bis man die Kleine in ihre Heimat zurückholt.«

      Denise blickte aus dem Fenster. Draußen bot sich ein allerliebstes Bild. Moira Cassels, mit Jeans und einer karierten Bluse bekleidet, das blonde Haar seitlich zu zwei Schöpfen aufgebunden, schob ihre Karre mit den sechs Gänseküken vor sich her, während die Gänsemutter sie würdevoll begleitete.

      Nun wurde Denise von dem Kind bemerkt. Strahlend winkte ihr Moira zu. Die kleine Amerikanerin schien sich an ihre Eltern kaum mehr zu erinnern. Der Unfallschock und das folgende Krankenlager bei den hilfsbereiten Bauersleuten hatte wohl manches aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Doch es war besser so. Denn niemand konnte Moira zurückgeben,

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