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will ich bloß Liebe sein und Punkt. Und ich glaube, das ist auch das Mindeste, das jedem zusteht. Du bist ja auch nicht als Liebe geboren, du hast ja all deine Weisheiten, Fähigkeiten und deine Gelassenheit, die dich zur Liebe gemacht haben, nach und nach erworben.“

      „Es gehört aber viel mehr dazu, Liebe zu werden. So sehr ich dir auch wünsche, dass du Liebe wirst: So einfach, wie du es dir wünschst und vorstellst, geht es nicht. Liebe ist kein Land, das man erobern, kein Haus, das man bewohnen, und nicht einmal ein Ziel, das man anstreben kann. Wenn es dir gelingt, dich für die Liebe zu öffnen und die Liebe als ein Geschenk zu sehen …“

      „Und was kostet dieses Geschenk?“

      „Ein Geschenk kostet nichts, sonst wäre es kein Geschenk.“

      „Einverstanden. Dann sag doch wenigstens: Was ist Liebe? Dann haben wir beide erst mal unsere Ruhe.“

      Nach einem Schweigen von der Dauer dreier Atemzüge wiederholte Liebe das Anliegen von Verliebtheit:

      „Was ist Liebe?“

      „Lustig“, sagte Verliebtheit vergnügt, „aus dem Mund von Liebe zu hören: ‚Was ist Liebe?‘ Wirklich lustig. Du musst dich doch kennen. Also rück raus mit der Sprache, was ist Liebe?“

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       Das Geheimnis hinter einem Stuhl

      Liebe wusste aus ihren eigenen Erfahrungen, dass das Denken von Verliebtheit noch nicht die Reife, ihr Herz nicht den Platz und ihr Ohr kein Gehör für Liebe hatte. Es war ihr auch klar, dass sie all das Verliebtheit nicht sagen würde, weil es sie unnötig verletzte. ‚Das Beste ist‘, so dachte Liebe, ‚wenn Verliebtheit selbst erfährt, dass die Frage, was Liebe ist, sich grundsätzlich von anderen Fragen wie ‚Wo warst du gestern Abend?‘, ‚Wie hoch ist der höchste Berg in Europa?‘ oder ‚Wie heißen deine Kinder?‘ unterscheidet.‘ Nun ging es darum, Verliebtheit zu vermitteln, dass die Antwort auf diese Frage nicht mit Worten, sondern nur durch eigenes Erleben zu erfahren wäre. Daher schlug sie Verliebtheit vor:

      „Gut. Ich werde dir sagen, was Liebe ist, aber erst, wenn du mir sagst, was Schönheit ist und was Grün bedeutet – oder zumindest, was ein Stuhl ist.“

      Überrascht über diesen merkwürdigen Vorschlag, sah Verliebtheit Liebe mit großen Augen an und fragte leicht verunsichert:

      „Willst du mich etwa auf den Arm nehmen oder meinst du das wirklich ernst? Nein, du kannst es nicht ernst meinen, oder?“

      „Doch, ich meine es wirklich ernst. Erkläre mir Schönheit, erkläre mir das Grün und sag mir, was ein Stuhl ist, und ich sage dir dann, was Liebe ist.“

      „Was Schönheit und Grün ist, da muss ich einen Augenblick nachdenken. Was soll aber diese dumme Frage mit dem Stuhl? Jeder Mensch weiß doch, was ein Stuhl ist!“

      „Dann dürfte es dir ja auch nicht schwerfallen, diese Frage zu beantworten.“

      „Ich weiß zwar nicht, was dieser Blödsinn soll, aber ich beantworte diese Frage, damit du endlich damit rausrückst, was Liebe ist. Ein Stuhl ist etwas, worauf man sitzen kann.“

      „Man kann auch auf dem Boden sitzen.“

      Genervt erwiderte Verliebtheit:

      „Schon gut. Ein Stuhl ist etwas, das vier Beine hat und auf dem man sitzen kann.“

      „Diese Beschreibung trifft aber auch auf ein Bett zu, denn ein Bett hat auch vier Beine und man kann auch darauf sitzen.“

      Verärgert trat Verliebtheit gegen einen Stein am Wegesrand und erwiderte energisch:

      „Ein Stuhl ist ein Gegenstand, der vier Beine hat und nicht so groß ist, dass man sich drauflegen kann. Bist du jetzt zufrieden?“

      „Nicht ganz. Das trifft auch auf einen Tisch mit vier Beinen zu, der aber zu klein ist, als dass man sich darauflegen könnte.“

      So langsam begann Verliebtheit zu ahnen, warum Liebe von ihr verlangte, einen Stuhl zu beschreiben, doch sie wollte Liebe den Triumph auf keinen Fall gönnen, dass sie keine eindeutige Beschreibung für einen Stuhl finden konnte. Der Ehrgeiz packte sie. Sie überlegte. Sie überlegte lange. Sie stellte sich viele Stühle vor und war überrascht, wie unterschiedlich sie alle aussahen. Einige waren aus Holz, Bambus oder aus Metall, manche waren mit Stoff, manche mit Leder bezogen, einige hatten Armlehnen und andere wiederum nicht. Diese Vielfalt machte es ihr praktisch unmöglich, eine Beschreibung dafür zu finden, was ein Stuhl wirklich war, eine Beschreibung, die all diese Besonderheiten und Eigenschaften berücksichtigte, die ein Stuhl haben konnte, wenn auch nicht haben musste, um ein Stuhl zu sein. ‚Was charakterisiert also einen Stuhl, was macht einen Stuhl aus?‘, fragte sich Verliebtheit jetzt ernsthaft. Sie konnte nicht einmal ahnen, dass die so einfache Frage ‚Was ist ein Stuhl?‘ die schwierige Frage ‚Was ist das Wesen einer Sache?‘ beinhaltete. Das Wesen einer Sache, das unabhängig von seinen vielfältigen Erscheinungsformen das bleibt, was es ist. Nach längerem Überlegen und Schweigen, wobei sie sich fortwährend am Kopf kratzte und gegen Steine und Bäume trat, beschwerte sich Verliebtheit sichtbar erzürnt:

      „Wie soll das gehen? Es gibt doch tausende und abertausende Stühle und jeder sieht anders aus. Wie soll man da beschreiben, was ein Stuhl ist? Sollte deine Frage ein Ablenkungsmanöver sein, weil du mir die Frage, was Liebe ist, nicht beantworten willst oder kannst?“

      „Oh nein, ich wollte, dass du selber spürst und selbst entdeckst, dass man das Wesen der Dinge nicht mit Worten erfassen kann. Menschen haben Wörter erfunden, um die Dinge und Phänomene zu benennen, und zu mehr sind Worte nicht fähig. Du hast recht, jeder weiß, was ein Stuhl ist. Und trotzdem ist es schwer, sogar sehr schwer, das Wesen eines Stuhles zu beschreiben – wie du ja gerade selbst erlebt hast. Kannst du dir jetzt vorstellen, wie schwer es sein muss zu erklären, was Liebe ist, wenn doch jeder Liebe sagt und etwas anderes damit meint? Wie oft hörst du ‚Ich liebe meine Kinder‘, ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘, ‚Ich liebe meine Heimat‘, ‚Ich liebe den Frühling‘, ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ oder ‚Wir haben uns die ganze Nacht geliebt‘ und, und, und. Während Menschen ‚Stuhl‘ sagen und im Großen und Ganzen dasselbe meinen, sagen Menschen ‚Liebe‘ und meinen etwas ganz Verschiedenes. Der Satz ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ heißt ja so viel wie ‚Ich finde lange schwarze Haare schön und anziehend‘, und der Satz ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘ soll vermitteln: ‚Ich esse gern Erdbeeren mit Sahne und diese Kombination schmeckt mir sehr gut‘. Du siehst, einmal steht Liebe für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen und beides sind grundverschiedene Dinge. Noch drastischer wird der Unterschied, wofür ‚Liebe‘ alles herhalten muss, wenn wir Äußerungen wie ‚Ich liebe erotische Nächte‘ oder ‚Ich liebe Gott‘ miteinander vergleichen.“

      „Entschuldige bitte die Unterbrechung. Ein Stuhl mit Leder und Schnitzarbeiten ist auch etwas ganz anderes als ein einfacher Gartenstuhl, so wie Liebe einmal in Verbindung mit Erdbeeren und einmal in Verbindung mit schwarzen Haaren steht. Das sind die gleichen Verschiedenheiten.“

      „Ja und Nein. Die beiden Stühle sind äußerlich verschieden, aber ihre Funktion und ihr Wesen sind identisch. Man kann den teuren Lederstuhl in den Garten stellen und den Plastikstuhl ins Gästezimmer. Aber die Liebe zu Erdbeeren mit Sahne drückt etwas anderes aus als die Liebe zu langen schwarzen Haaren – und diese beiden Gefühle sind nicht austauschbar; sie haben eine unterschiedliche Funktion und ein anderes Wesen. In der Tat liegen zwei Verschiedenheiten vor: die äußere Verschiedenheit der Stühle, die aber im Kern identisch sind, und die unterschiedliche Verwendung des Wortes ‚Liebe‘, die gänzlich Verschiedenes zum Ausdruck bringt. Ich glaube, ich habe mich vorhin ungenau ausgedrückt und darum ist ein Missverständnis entstanden. Ich sagte zwar: ‚Liebe steht einmal für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen.‘ Das ist aber nicht so gemeint. Es ist nicht die Liebe selbst, die für das eine oder das andere steht, sondern

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