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und spürte weder den sanften Wind, der mit ihren langen schwarzen Haaren spielte, noch hörte sie den leisen Gesang der Vögel von den fernen Bäumen.

      Die Begegnung mit Liebe, so kurz sie bisher auch gewesen war – nur ein paar Sätze am Rande eines Weges, nur ein paar Fragen hastig aufgeworfen, nur ein paar Antworten knapp wie ein Atemzug, doch irgendwie gewaltig wie ein Orkan –, hatte wie ein Blitz in Verliebtheit eingeschlagen. Dass Liebe sie angeblich kannte, ihren Namen wusste, dass sie für Liebe so durchsichtig wie ein Glas Wasser und so durchschaubar war, verunsicherte sie. Dass Liebe ihre Geheimnisse kennen könnte, machte Liebe geheimnisvoll. Verliebtheit war wütend auf Liebe, weil sie sich ihr unterlegen fühlte. Sie musste sich aber auch eingestehen, dass Liebe sehr viel Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte und so liebevoll mit ihr umging. Obwohl Verliebtheit die Gedanken und Äußerungen von Liebe nicht ganz verstehen konnte und vielleicht auch gar nicht verstehen wollte, wunderte sie sich, warum diese sie dennoch so berührten und ihr unter die Haut gingen.

      Sie konnte sich all das, was Liebe in ihr ausgelöst hatte, nicht so recht erklären, doch etwas tief in ihrem Herzen flüsterte: ‚Du kannst Liebe trauen und du solltest dich ihr öffnen.‘ Dies beruhigte Verliebtheit weitgehend, beseitigte aber ihr Unbehagen und ihre Skepsis Liebe gegenüber nicht restlos. Dennoch flüsterte das Etwas in ihr lauter: ‚Vielleicht kommt das Glück mit der Liebe.‘

      Nach ein paar Minuten griff Verliebtheit nach ihrem Rucksack und dachte dabei: ‚Ach, das Ding zwischen mir und der Liebe‘, und schmunzelte.

      Sie entfernte behutsam ein paar trockene Grashalme vom Rucksack und legte ihn auf ihren Schoß. Sie schloss ihre Arme um ihn und beugte sich darüber, so als würde sie ihren Rucksack umarmen, beschützen oder gar verschlingen wollen.

      Einige Minuten verweilte Verliebtheit in dieser Haltung, bevor sie sich aufrichtete und Liebe fragte:

      „Du bist mir doch nicht böse, dass ich vorhin so grob zu dir gewesen bin, oder?“

      „Nein, keinen Augenblick.“

      „Dann können wir wieder miteinander reden?“

      „Ja, immer, immer wenn du willst.“

      „Gut so. Ich habe gemerkt, dass du einiges über mich weißt, du kanntest sogar meinen Namen. Du weißt aber bestimmt nicht, wie ich meinen Rucksack nenne, oder?“

      „Vielleicht ‚die Kiste deiner Spielzeuge‘?“

      Verliebtheit war so davon überzeugt gewesen, dass Liebe nicht wissen würde, wie sie ihren Rucksack nannte. Daher war sie nicht nur überrascht, sondern auch wieder überaus verärgert.

      „Ja, stimmt“, sagte sie unwillig und fuhr fort:

      „Ja, das ist die große Kiste meiner Spielzeuge. Und sie ist mein Ein und Alles. Ich hänge eben an meinem Rucksack, und wie du siehst, ist er auch mein einziger Begleiter. Hier drin habe ich nicht nur meinen Proviant für unterwegs. Hier drin ist auch alles, was ich für mein Leben brauche. Auch bei mir zu Hause trage ich ihn immer bei mir.“

      Liebe nickte nur und hörte aufmerksam zu.

      Verliebtheit fuhr trotzig fort:

      „Aber du kannst bestimmt nicht erraten, was ich alles in meinem Rucksack habe, oder?“

      „Oh doch, auch das weiß ich. Ich weiß sogar um ein ganz kleines Päckchen in deinem Rucksack, das du noch nicht einmal ausgepackt hast.“

      Verliebtheit, noch verärgerter als zuvor, erwiderte:

      „Woher willst du das denn alles wissen? Du kennst mich ja nur seit ein paar Minuten!“

      „Das ist nicht wahr. Ich sagte dir bereits, dass ich selbst einmal eine Verliebtheit gewesen bin, so etwa wie du heute eine bist. Daher weiß ich auch, wie du lebst und wovon du glaubst, es wie Wasser und Brot zum Überleben zu brauchen. Ich habe früher auch solch einen Rucksack gehabt und ihn überall mitgeschleppt, und genau wie du habe ich auch gedacht, dass ich auf keinen Fall ohne ihn leben könnte.“

      Entsetzt darüber, dass Liebe sie viel mehr durchschaute, als sie gedacht hatte, wandte Verliebtheit ihr Gesicht ab, griff in ihren Rucksack und holte eines ihrer Spielzeuge heraus.

      Es war etwas, das aus vielen kleinen und großen Teilen zusammengesetzt war. Einige Teile waren überzogen mit hellen und strahlenden Farben und andere wiederum waren matt und dunkel. Die Übergänge waren scharf getrennt, doch an einigen Stellen verschmolzen die Teile miteinander und ihre Farben vermischten sich.

      Verliebtheit streichelte es und zog an dieser oder jener Ecke ihres bunten Spielzeugs. Je nachdem, welche Ecke sie anschaute und berührte, lächelte sie oder wurde nachdenklich. Bei einer bestimmten Ecke verweilte sie lange und ihr Gesicht überzog sich mit einem Schleier von Trauer. Als die ersten Tränen in ihre großen dunklen Augen traten, warf Verliebtheit das bunte Spielzeug in ihren Rucksack zurück und holte ohne hineinzuschauen ein zweites heraus.

      Dieses Spielzeug war nicht bunt, eher dunkelgrau, fast schwarz. Anstelle von runden Ecken hatte es scharfe Kanten und verschiedenartige Stacheln, kurze und lange und einige mit Widerhaken. Am Gesichtsausdruck von Verliebtheit war ersichtlich, dass sie ihre Hand verletzten. Dann nahm sie dieses dunkelgraue schmerzende Spielzeug in die andere Hand. Der Bewegung ihrer Lippen war zu entnehmen, dass sie etwas sagte, doch sie sprach leise, damit Liebe es nicht hören konnte. Als ihre Hände anfingen zu bluten und Verliebtheit die Schmerzen kaum mehr aushalten konnte, warf sie auch dieses Spielzeug in ihren Rucksack zurück.

      Liebe, die das Geschehen mit Sorge verfolgt hatte, fragte vorsichtig:

      „Möchtest du, dass ich mich um deine Wunden kümmere?“

      „Nein! Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten“, sagte Verliebtheit trotzig. „Außerdem, solche Schmerzen bin ich gewöhnt.“

      Liebe wusste um die Gefühlsschwankungen von Verliebtheit. Oft folgten von einer Minute auf die andere ihren tränenden Augen lächelnde Lippen und ihrer Traurigkeit Freude. Daher war Liebe nicht überrascht, als Verliebtheit nach einer kurzen Pause mit einem versteckten Lächeln, das noch die Reste ihrer Traurigkeit enthielt, äußerte:

      „Du könntest aber etwas anderes für mich tun. Du könntest mich von meinem Schmerz ablenken und mich ein bisschen aufmuntern. Wir spielen ein Ratespiel. Ich stelle Fragen und du musst die Antworten dazu finden.“

      Liebe hatte nur allzu oft erlebt, dass es wenig hilft, sich von den Schmerzen bloß abzulenken, ohne die Wunden zu heilen, aus denen die Schmerzen entspringen. Doch sie wusste auch, dass es für die Heilung der Wunden von Verliebtheit noch zu früh war, aber der richtige Augenblick, um sich wenigstens um ihren Schmerz zu kümmern. Daher schwieg sie und stimmte mit einem Nicken zu.

      „Weißt du, wie das dunkle Spielzeug heißt, dem ich meine blutenden Hände zu verdanken habe?“

      Mit einer besänftigenden Geste antwortete Liebe: „Enttäuschung!“

      ‚Das ist doch nicht möglich!‘, fluchte Verliebtheit innerlich. Trotzdem neugierig, ob Liebe das nächste Spielzeug erraten würde, verbunden mit der Hoffnung, dass es ihr diesmal nicht gelingen würde, sagte Verliebtheit mit erhobenem Zeigefinger:

      „So, das nächste wirst du bestimmt nie erraten! Wie heißt das Spielzeug, mit dem ich zuerst gespielt habe?“

      „Du meinst das bunte Spielzeug mit den vielen kleinen und großen Teilen? Dieses Spielzeug heißt Erinnerung.“

      Verliebtheit war nicht nur beeindruckt, sie war sogar schockiert, dass Liebe auch das gewusst hatte, und konnte sich das beim besten Willen nicht erklären.

      Dann machte Verliebtheit ihren Rucksack ganz auf und wühlte lange darin herum. Dabei fiel ihr nach längerer Zeit wieder das kleine Päckchen, das sie nie geöffnet hatte, in die Hände. Auch jetzt war ihr, wie so oft, nicht danach, es auszupacken; sie schob es zur Seite und wühlte weiter. Es war klar, dass sie diesmal etwas ganz Bestimmtes suchte. Schließlich holte sie ein drittes Spielzeug heraus, ihr Lieblingsspielzeug. Dieses Spielzeug war nicht nur bunter

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