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so ein Tier das letzte Mal in meiner Wohnung aufgehalten hat. Vielleicht wurde die Milbe von meiner Lederjacke angelockt. Tierschützer sprechen immer wieder von dem in Material dieser Art nach wie vor präsenten Leid seiner ehemaligen Besitzer. Kann es sein, dass sie damit gar nicht so unrecht haben? Ich befeuchte eine Fingerspitze und befördere die tote Milbe zu den restlichen Kadavern.

      Ehe ich in die Küche zurückkehre und meine Runde somit beschließe, komme ich an der Garderobe vorbei. Meinen Mantel taste ich ab, als handle es sich um einen Verdächtigen, der sich verdünnisieren wollte und jetzt von mir nach Waffen durchsucht wird. Während ich die Ärmel abklopfe und in die Taschen lange, purzelt eine Motte aus dem dichten Gewebe des dicken Stoffes. Eigentlich purzelt sie nicht heraus, sondern wird von meinen gewissenhaften Handgriffen aufgescheucht. So gesehen handelt es sich bei dieser Entdeckung im eigentlichen Sinn auch nicht um eine Leiche. Meine spontane Reaktion ändert das jedoch von einem Moment zum nächsten. Es muss aussehen, als verfiele ich in hektischen Applaus, etwa, um meiner Recherche die entsprechende Anerkennung zu zollen. Für die Motte ist dieser Vorstellung gemäß die Rolle einer Trophäe vorgesehen.

      Um mich nicht in Sentimentalitäten zu verlieren, packe ich sie zu den restlichen toten Tieren und Körperteilen von mit ziemlicher Sicherheit toten Tieren. Schmunzelnd stelle ich fest, wie häufig sich doch als wahr herausstellt, was man aus dem Fernsehen kennt: Ich bekomme, was von der Motte übrig geblieben ist, nur mühsam von meinen Fingern in das Plastiksackerl, in dem sich meine Fundstücke befinden. Als Aufschrift trägt es den Namen einer französischen Pralinensorte, auf dessen Buchstaben sich ein Schmetterling niedergelassen hat.

      Auf dem Weg von der Küche ins Arbeitszimmer begegne ich meinem Spiegelbild an der Schranktüre und bin einen Moment lang perplex. Bei meinem Anblick fällt mir Two-Face ein, jene Figur, die eine moralische Gratwanderung symbolisiert. Der Grat verläuft vertikal durch seinen Körper und teilt Two-Face in eine arg entstellte, hässliche linke und eine unversehrte rechte Hälfte. Was meine Erscheinung betrifft, ist der Äquator mit der Gürtellinie identisch. Oben befindet sich alles meinen Möglichkeiten entsprechend in untadeligem Zustand. Ich habe mich gewaschen und frisiert, trage ein gebügeltes Hemd, das bis oben hin zugeknöpft ist. Das Hemd deutet jedoch auch den Übergang an, steckt es doch nicht in einem Hosenbund, der sich, von einem Gürtel zusammengehalten, an einen halbwegs muskulösen Bauch schmiegt, sondern hängt lose herunter, geht in den fleckigen Schurz eines Handtuchs über, das meinen Unterleib umfängt wie der zerschlissene Unterrock einer in die Jahre gekommenen Prostituierten. Im Anschluss an den weitgehend zerfetzten Saum des Handtuchs werden zwei bleiche, nicht gerade sportlich oder auch nur gesund wirkende Schienbeine sichtbar. Die Haut an ihnen macht einen porösen Eindruck, in steter Auflösung begriffen, eine Behaarung ist nur noch stellenweise vorhanden. Beide Beine münden in Füße, die auf den ersten Blick wie misslungene Nachbildungen menschlicher Füße aussehen. Geschwollen, zu groß, abgenutzt. Als hätte ein Maskenbildner versucht, Schwimmflossen wie Füße aussehen zu lassen oder Flossen vergeblich das Aussehen verkümmerter Hände verliehen.

      Oben, denke ich mir, ist alles okay. Ich könnte an einem Tisch Platz nehmen und jemandem ein Einfamilienhaus oder eine Versicherungspolizze verkaufen, unten jedoch würde man mich für einen von jahrelangem Drogenmissbrauch verzehrten Transvestiten halten. Einen Menschen, der sich die meiste Zeit über hat gehen lassen, sämtlichen Rauschmitteln seiner Epoche zugetan: dem Absinth der Bohème, dem Opium einer von der eigenen Erscheinung gelangweilten Generation, dem Morphium jener, die sich selbst aus den Augen verloren haben, den Amphetaminen der von der Kälte des Krieges Getriebenen, dem Marihuana der das Leben wie durch ein sich stetig bewegendes Kaleidoskop Betrachtenden, dem Heroin all derer, die tief in sich selbst vor sich selbst Schutz suchen. Nur das Kokain, scheint mir, passt auch in die obere Region.

      Am Küchentisch dürfte ich nochmals eingenickt sein. Auf alle Fälle schreckt mich ein Geräusch auf, das wie ein Zusammenklappen der Absätze strammer Soldatenstiefel klingt. Ein metallener Klacks. Es handelt sich um den Toaster, aus dem zwei Toastscheiben in die Höhe schießen – als öffne sich die Startbox eines hochdotierten und mit Amphetaminen vollgepumpten Rennpferds. Es kann losgehen! In ihrer Parallelität erinnern mich die beiden Toastscheiben daran, dass der Mensch zwei Seiten hat. Wie in einem Wörterbuch ist er in eine linke und eine rechte Spalte aufgeteilt. Links und rechts geht es um die gleichen Begriffe, aber das erkennt nur, wer mit dem dahinter verborgenen System vertraut ist.

      Meine Wohnung umfasst Räume, die der Nacht vorbehalten sind. Andere dienen der Zubereitung von Speisen, der Ausscheidung, dem Heimkommen und Weggehen. Es ist jedoch nicht vorgesehen, sich in der Zwischenzeit darin aufzuhalten. Das Teilen ist eine der Säulen, auf denen unsere humanistische Weltanschauung ruht. Auf meinem Teller trenne ich den Reis von den Erbsen. Der Umstand, nicht teilen zu können, gehört zu den bittersten Facetten des Alleinlebens. Ich habe bereits daran gedacht, die mir zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten in zwei Hälften zu teilen. Die eine für die dem Leben zugewandten Bedürfnisse, die andere für die, die keine Rücksicht darauf nehmen. Hier sage ich, was ich gelernt habe, dort, was ich empfinde. Hier bin ich fortwährend hungrig, dort vorübergehend gesättigt. Hier wasche ich mich und vertiefe einen Gedanken, um mich drüben zu beschmutzen und über denselben Gedanken zu lachen. Hier lasse ich jemanden herein, dort werfe ich ihn wieder hinaus. Mit verhohlenem Neid und unterschwelliger Bewunderung mache ich mir über das Leben auf der anderen Seite meine Gedanken. Ein Wechsel erfolgt ausschließlich mit Tagesanbruch. Im Badezimmer, in dem ich das Waschbecken für die obere Körperhälfte und die Badewanne für die untere verwende, analysiere ich mein Gemüt, wie andere ihren Blutdruck, die Luftfeuchtigkeit oder die Temperatur ihres Teewassers messen, und entscheide mich für eine der beiden Seiten. Es ist bereits vorgekommen, dass ich mich tage-, ja wochenlang auf derselben Seite aufgehalten habe. Ich verrate nicht, auf welcher. Die Zeit sorgt allerdings ohnehin früher oder später für einen Ausgleich. Entweder wird das Telefon beantwortet oder die Tür aufgemacht. Briefe werden gelesen oder geschrieben. Ich kann schließlich nicht gleichzeitig wach sein und schlafen. Das gelingt nur im Weltraum, wo es keinen Tag und keine Nacht gibt, weder drückende Schwere noch einen Boden unter den Füßen.

      Wer sich auf eine Fernbeziehung einlässt, hat zumeist gute Gründe dafür. Verschiedenste Umstände machen ein konventionelles Zusammensein vorübergehend unmöglich.

      Hat man sich einmal dafür entschieden, ist es wichtig, konsequent zu bleiben. Meine Partnerin und ich schreiben uns beispielsweise mehrmals in der Woche Briefe. Und zwar mit der Hand, benötigt es doch deutlich mehr Zeit, Briefe mit der Hand zu schreiben und zu verschicken. Gingen E-Mails zwischen uns hin und her, müssten wir ein Vielfaches an Korrespondenz fabrizieren, in die sich alsbald ein gewisses Maß an Belanglosigkeit einschliche. Telefonate heben wir uns für besondere Anlässe auf. Jubiläen und Feiertage, persönliche Triumphe über den Alltag, aber auch Krisensituationen: Momente, in denen die Sehnsucht überhandzunehmen droht, Nächte, welche die Einsamkeit stockdunkel werden lässt. Lichte Gedanken verbinde ich hingegen mit der Ära der Faxgeräte. Die Beförderung des Geschriebenen hatte damals zwar bereits ein Tempo aufgenommen, das uns bedrohlich vorkam, mir gefiel jedoch die Idee, meine Worte würden, wenn auch aus dem Mund einer Maschine, in ihr Vorzimmer ragen, mitunter sogar zu Boden gleiten und dort liegen bleiben wie von den Bäumen gefallene Blätter.

      Spontane Kontaktaufnahme kommt für uns nicht infrage. Ab und zu eine Postkarte mit einem ästhetisch ansprechenden oder einem humorvollen Motiv. Spontaneität geht mir, um ehrlich zu sein, am allerwenigsten ab. Ich betrachte sie vielmehr als überwunden, stand sie doch im Grunde fortwährend zwischen uns. In Form von Aufmerksamkeiten und Überraschungen, in Form von Grübeleien, wie was zu verstehen sei – und zwar ohne sich etwas davon anmerken zu lassen. Jetzt erzählen wir uns, wo wir einkaufen, welche Erfahrungen wir mit welchen Erlebnissen verbinden, wie wir uns ernähren. Im Alltag nehmen wir auf niemanden Rücksicht und laufen selbst nicht Gefahr, unbewusst Rücksichten einzufordern. Über unser Aussehen informieren wir uns mithilfe von Fotografien. Sowie ich den Eindruck habe, ein winziger Aspekt ihres Antlitzes verblasse in meiner Erinnerung, trete ich vor das Tischchen, auf dem ihr gerahmtes Konterfei steht. Gelegentlich sage ich auch ein paar Worte zu dem Möbelstück.

      Ich informiere sie über jede Neuerung in meiner Wohnung, wobei ich darauf achte, keine Fragen zu stellen, sondern bereits getroffene Entscheidungen zu kommunizieren. Sie hingegen lässt

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