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schläft. Kein Zähneknirschen ist zu hören. Hoffentlich hält das. Sie würde so gern wieder eine Nacht durchschlafen.

      Wie schwarzer Velours legt sich die Nacht in Paulas Schlafzimmer über die Menschen und Gegenstände und lässt ihnen einen nur flachen Atem. Mit ihren seichten Atemzügen, dem leisen Krachen der Scharniere und Knochen stanzen die Menschen und Gegenstände kleine Löcher in den Stoff, aus dem die Nacht ist. Die Geräuschsterne funkeln in den Ohren Paulas. Sie hält kurz den Atem an, so schön sind sie. Auf dem schwarzen Lauschfirmament taucht ein neuer Stern auf. Er ist groß und grell. Er knirscht. Paula fährt herum. Das darf doch nicht wahr sein! Schon wieder!

      Der knirschende Stern wird größer. Er ist so grell, dass er die anderen Sterne übertönt. Er wächst weiter, er schwillt an. Dann explodiert er. In Paulas Ohren dröhnt das Knirschen unzähliger Zähne, unendliche Zahnreihen reiben sich und stoßen aneinander. Das dunkle Lauschfirmament wird blendend weiß. Paula kann die Ohren nicht schließen. Das Knirschen der Zähne zermalmt das Trommelfell, es gräbt sich in die Gehörgänge, die Ohrmuschel ist voll von brennendem Kalk.

      Paula hält sich die Ohren zu. Sie steht auf dem Appellplatz. Einer der Hunde beißt gerade einer Frau die Kehle durch. Sie kann die Schreie nicht hören. Sie nimmt ihre Reitgerte und schlägt auf eine der Frauen in der ersten Reihe ein. Die darf nicht schreien. Die ist noch nicht tot. Paula schreit. Die Frau liegt am Boden. Sie muss aufstehen und die Leiche wegtragen. Der Hund geht bei Fuß. Zwischen seinen Zähnen hängen Hautfetzen. Paula geht in die Wachstube und trinkt ein Glas Schnaps. Es ist Mittag. Zeit, zu essen. Die Kantine ist voll. Das Rindfleisch ist faserig, aber immerhin, sie haben noch Fleisch. Paula nimmt einen Zahnstocher, um das Fleisch zwischen den Zähnen zu entfernen. Sie stochert zwischen den Zähnen herum, gedankenverloren. Zwischen zwei Backenzähnen ist ein größerer Brocken hängengeblieben. Sie sticht hinein und zieht ihn heraus. Eine Erbse ist es, eine Erbse mit weißem Flaum. Schimmel, denkt Paula, doch der weiße Flaum wächst, er kräuselt sich über ihre Finger, die den Zahnstocher mit der aufgespießten Erbse halten. Die Locken fallen auf die Tischplatte. Die Erbse ist ein verschrumpelter Lockenkopf, der sich wild dreht. Der Kopf-Kreisel schraubt sich über den Zahnstocher hinaus und fällt auf den Tisch. Der Zahnstocher schnellt zurück wie ein Degen und springt in Paulas Mund. Er fährt zwischen die Zähne und hebelt sie aus. Ein Zahn nach dem anderen tröpfelt auf die Tischplatte. Die Zähne sind blutig. Fleischreste hängen an ihren Wurzeln, Knochensplitter rieseln herab. »Woher hast du das ganze Leben genommen?«, hört Paula Luise sagen und: »Langsam wird es doch Zeit.«

      »Wofür?« fragt Paula und stellt die Tasse auf den Tisch. Luise lässt Paulas Zähne in die Tasse gleiten und rührt um.

      »Aber weißt du, es ließe sich etwas dagegen tun …«

      Paula schlägt sachte mit dem Teelöffel gegen die Porzellantasse: »Nicht jetzt.« Annemarie prüft mit den Fingerspitzen den Halt ihrer Frisur.

      »Immer noch so dickköpfig.«

      Durch das Fenster fällt die Spätnachmittagssonne in den Raum und spinnt blutrote Lichtfäden in die weißen Locken Annemaries.

      »Dieser Rotbuschtee schmeckt ohne Zähne am besten.«

      Helga schlägt ein Bein über das andere und legt ihre Zähne auf den Tisch. In der bernsteinfarbenen Flüssigkeit versickern die frühen Abendstunden. Vor dem Fenster kräuseln sich die Wolken, tiefblau ist die Kopfhaut des Himmels. Der Wein und die Früchte der Stillleben verschwinden in den dunklen Mundhöhlen an den Wänden. Die Schatten in den Gesichtern werden länger. Die Schwester tritt ein und knipst die Stehlampe an. Unter ihren Schritten knirscht der Boden.

      »Meine Damen, langsam wird es Zeit«, sagt sie und räumt den Tisch ab. Sie stapelt die Tassen und Teller auf dem kleinen Wagen, sammelt die Zahnstocher ein und arrangiert sie in einer der leeren Tassen zu einem Bouquet. Sie nimmt die Zuckerdose und leert die verbliebenen Zähne auf den Boden.

      »Meine Damen, wir müssen immer schön schauen auf uns. Dass es nur nichts zum Zähneklappern gibt. Das ist ungesund.«

      Sie lacht und streicht sanft über Paulas Wange.

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      Du wirst dich jetzt wieder auf meine Stimme konzentrieren. Meine Stimme wird dir dabei helfen, den Aufenthaltsraum der Seniorenresidenz zu verlassen, um weiter zu kommen. Sie wird dich aus den Untiefen deiner Traum-, deiner Erinnerungsfluchten führen in andere, noch tiefere Bereiche deiner Angst. Du wirst sehen, wie es dir dann ergehen wird. Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn ich bei zehn angelangt bin, wirst du dich wieder auf den Weg gemacht haben, um die Welt zu verändern. Ich sage: eins. Du ziehst dich langsam von dem großen Fenster zurück. Zwei. Du wirfst einen letzten Blick in das geräumige Zimmer mit den schwarz klaffenden Mundhöhlen an den Wänden. Drei. Du fliegst zurück zum Bahnhof. Vier. Deine Hände und deine Finger werden wärmer und schwerer. Fünf. Die Wärme dehnt sich aus von deinen Händen über deine Arme, deine Schultern und deinen Nacken. Sechs. Deine Füße und deine Beine werden schwerer. Sieben. Du sinkst langsam. Acht. Du spürst wieder Boden unter deinen Füßen. Neun. Du nimmst deine weiche, schwarze Reisetasche und prüfst, ob mit deinen Papieren alles in Ordnung ist. Bei zehn wirst du in einem Zug sitzen, der aus der Kleinstadt hinausrollt. Ich sage: zehn.

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       II.

      Wie flach die Welt geworden ist. Flach und rissig. Auf riesigen Schollen treiben wir voneinander fort. Wir umzäunen unsere Denk-, unsere Sehterritorien mit Worten aus Stacheldraht. Wir schießen aufeinander, nicht nur in Sätzen. Der Pulvergeruch betäubt unsere Sinne. Jeder Sicht-, jeder Perspektivenwechsel wird als Verrat geahndet. Alle müssen sich für eine Seite entscheiden. Der Horizont reicht gerade bis zum Rand der Scholle und keinen Schritt weiter. Es gibt keine Möglichkeit, einen anderen, einen etwas abseits gelegenen Standpunkt zu erreichen. Das Gelände ist vermint. Ich bin froh, dass sich wenigstens die Landschaft vor dem Zugfenster zu falten beginnt. Leichte Erhebungen, eine sanfte Hügellandschaft. Mitteleuropa hat das einmal geheißen. Aber Europa gibt es nicht mehr. Der Kontinent ist zerklüftet, auseinandergerissen. Die Schollen sind zu weit auseinandergedriftet. Als es begonnen hat vor wenigen Jahren, ist noch von einer Festung Europa die Rede gewesen. Oder es ist schon wieder von einer Festung Europa die Rede gewesen, trotz aller hehren Gründungs- und Absichtserklärungen. Die Menschen, die sich aus den südlichen und den östlichen Teilen der Welt auf den Weg gemacht haben, die aus den Bergen und den Wüsten, von den Seen und den Küsten gekommen sind auf der Flucht vor Hunger und Krieg, diese Menschen sind abgeprallt an den Festungsmauern, sie sind ertrunken, sie sind verhungert, sie sind verkommen in den Lagern. Europa hat gezittert vor ihnen und seine Außenmauern verstärkt. Noch mehr sind gekommen und noch mehr sind an den Mauern zerschellt. Einige von ihnen haben es trotzdem geschafft, an Land zu gehen, nach Europa zu kommen. Also hat Europa auch innerhalb des Kontinents Grenzen errichtet. Die Grenzen, die einige Jahre zuvor gefallen sind, sind wieder aufgetaucht. Und innerhalb dieser Grenzen, in den jeweiligen Ländern, hat es zu brodeln begonnen. Die Angst vor den Fremden, den Geflohenen, ist auch auf die ein bisschen weniger Fremden übergeschwappt, auf Menschen aus Nachbarländern, auf Menschen, die schon jahrzehntelang in derselben Straße wohnen, aber anders leben, anderes glauben, anders aussehen. Europa ist zerfallen. Der Versuch, Europa zu retten, hat den schleichenden Zerfallsprozess nur noch vorangetrieben. Den einzelnen Staaten sind immer umfassendere Rechte zugestanden worden: Sie konnten die gemeinsamen europäischen Rechtsbestände nach eigenem Gutdünken ändern, sie konnten sich stark, oh – sehr stark machen innerhalb der Grenzen, auf der jeweils eigenen Scholle. Allianzen zwischen den reicheren Ländern haben sich gebildet, innereuropäische Abkommen sind geschlossen worden, an denen sich die Stärkeren beteiligt haben. Sie haben die anderen, die schwächeren, die ärmeren Länder untereinander aufgeteilt. Zu deren eigenem Wohl – haben sie behauptet, doch sind es binneneuropäische Kolonien gewesen, die geschröpft, die ausgeschöpft worden sind bis zum letzten Blutstropfen. Diese Länder sind jetzt verwüstet. Sie sind zu den Zonen C und D geworden, in denen die großen Produktionsstätten und die Lager liegen. Menschenmaterial wird dort

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