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bekommen. Das ist ihm zu weit gegangen, das mit dem Auswandern in die USA, auf einen anderen Kontinent.

      Luise zieht fest an ihrer Zigarette, Rauchfahnen steigen aus ihrem Mund. Wie angespannt die Stimmung zwischen Annemarie und Leopold in dieser Zeit gewesen ist. Annemarie hat jede Gelegenheit genutzt, um das Leben in Amerika zu loben, um seine Vorzüge hervorzuheben, die Weite des Landes, den Lebensstandard. Leopold hingegen ist immer verschlossener geworden, immer gereizter. Schließlich ist Annemarie allein abgereist und Paula ist auf den Plan getreten. Ob sie zuvor schon in Leopold verliebt gewesen ist, das weiß Luise nicht. Auf jeden Fall ist Paula nach Annemaries Abreise öfter mitgefahren bei den Wochenendausflügen. Helga, Paula, Leopold und sie haben Ausflüge gemacht zu den Seen, in die Berge. Das sind so kurz nach dem Krieg die einzigen Möglichkeiten gewesen, hinauszukommen aus der Stadt, hinauszufahren aufs Land. Paula ist nie gerne gereist. Luise muss lächeln. Die Paula, denkt sie, die ist in ihrem Leben noch nie im Ausland gewesen, außer in Deutschland, aber damals … Auf jeden Fall hat sie immer gute Gründe dafür gefunden, warum sie in dieses oder jenes Land nicht reisen könne, klimatische Zumutungen, kulinarische Waghalsigkeiten, unzuverlässige Mentalitäten. Bei ihr hat der Leopold keine Angst haben müssen, dass sie je auswandern würde. Luise dämpft die Zigarette aus. Paula und Leopold haben geheiratet, und Annemarie ist viele Jahre später zurückgekommen, geschieden und voller Lebenserfahrung. Im Grunde ist Annemarie von ihnen allen am weitesten gekommen, sie hat am meisten erlebt. Warum sie dennoch zurückgekehrt ist in diese Kleinstadt, das weiß keine. Zumindest haben sie das noch nie zusammen besprochen, Annemarie, Helga, Paula und sie. Vielleicht ist das so wie bei den Lachsen, die nach einem aufregenden und wilden Leben viele, viele Kilometer zurücklegen, um an ihren Geburtsort zurückzukehren, um dort zu laichen und zu sterben.

      Das mit dem Laichen allerdings wird nichts mehr werden bei Annemarie, denkt Luise und lacht. Was, wenn sich ihre Tochter entschließen sollte, dort zu bleiben, in dem fremden Land? Wenn auch sie auswandern sollte? Würde sie versuchen, sie davon abzuhalten? Würde sie sie unterstützen? Würde sie sich darauf freuen, auf Besuch dorthin zu fahren? Luise zündet sich eine neue Zigarette an. Das Feuerzeug wirft eine kleine Flamme in die Dunkelheit, ein Aufflackern, ein Aufglimmen. Warum sollte sie dann nicht gleich zu ihrer Tochter in das fremde Land ziehen? Sie könnte doch auch auswandern. Dafür gibt es keine Altersbeschränkung, und wenn sie sich vorstellt, dass sie jetzt, in ihrem Alter noch ein neues Leben beginnen würde, das wäre … ja, das wäre auch eine Genugtuung. Annemarie hat es damals gewagt, auszuwandern, sie ist aber zurückgekommen und hängt immer noch an ihrem früheren Leben hier. Diese Bemerkungen, die sie immer wieder über Leopold fallen lässt, mit denen sie versucht, an eine alte, längst verjährte Vertrautheit anzuknüpfen, sie haben auch etwas Trauriges, etwas verbrämt Nostalgisches. Alte Liebe rostet schnell – das weiß sie, davon kann sie ein Lied singen. Dieses Lied möchte zwar niemand hören, aber es ist die Wahrheit, keine reine, sondern eine schmutzige, aber immerhin – eine Wahrheit.

      Zwei Schatten wachsen aus dem Schilfgeflecht am Flussufer. Es raschelt. Es knirscht. Wie die Zähne vom Leopold, denkt Luise und stellt sich vor, dass diese raschelnden und knirschenden Schatten ein Liebespaar sind, ein junges Liebespaar, das noch nicht verrostet, noch nicht eingerostet ist. Sie muss lachen. Der Zigarettenrauch fährt aus ihrer Nase. Sie muss husten. »Ein Drache bin ich, ein alter Drache.« Sie muss wieder lachen. Sie lehnt sich zurück. Schwer wiegen sie, die Augenlider, gleichmäßig rauscht es, das Wiegenlied. Und da Heidschi Bumbeidschi is kumma … vor vielen Jahren hat sie das ihrer Tochter vorgesungen, dieses schreckliche Wiegenlied, einfach so, weil auch ihre Mutter damals schon … is kumma, und hat ma des Biable mitgnumma, er hat ma’s mitgnumma und hat’s neamma bracht, drum winsch i meim Biable a recht guade Nacht … Kindesentführung durch einen Schlafgeist, oder ist es gar der Tod, der den einschlafenden Kindern in die Ohren gelegt wird? Der Heidschi-Bumbeidschi-Tod, der Freund Hain, der mit den Zähnen klappert, klapprig und elend dieser Tod mit seinem Grinsen, seinen Zahnreihen, seinen gebleckten Zähnen. Was denk’ ich da, so von den Zähnen, nein, vom Tod weg, alles denke ich weg, aber hier ist doch ein Zimmer, oder nein, ein Salon, und in dem steht Helga. Aus ihrem Mund wächst ein Schweif, ein Pferdeschweif, der kräuselt sich dem Boden zu. Eine Lockenkaskade, die zu Boden fällt, den Boden bedeckt. Auf dem rauen Holzboden bildet sich ein Haarnest, ein weißer Lockenkopf schraubt sich aus dem Boden, schnell, immer schneller – Annemarie, Annemarie, bist du das, dieser Kopf-Kreisel, der durch den Raum stiebt und tobt, wie aufgezogen und losgelassen, ein Haarwirbel, ein Locken-Taifun, aber Annemarie, Annemarie! Und dort auf dem Stuhl, da sitzt Paula. Gefaltet sind ihre Hände im Schoß, faltenlos glatt ist ihr Gesicht, sie aber ist uralt. Ihr Mund ist gespitzt, ein Kussmund, ein verdorrter Kussmund, der aus dem Gesicht fällt und auffliegt. Mit keiner Wimper zuckt die nun mundlose Paula, sie sitzt mit den Händen im Schoß gefaltet und wartet – worauf Paula, worauf?! In das faltenlos glatte Gesicht fräst sich ein Mund, von rechts nach links reißt das Wangenfleisch auf und macht der Mundhöhle Platz. In die Mundhöhle fallen die Zähne, Fallbeile sind es, die herabsausen, ihr Knirschen ist das Knirschen der Wirbel-, der Schädelknochen, die brechen und splittern. Paulas Zähne knirschen unermüdlich, zwischen ihnen hängen Knochensplitter und Fleischreste. Woher hast du das ganze Leben genommen? Paula, Paula, langsam wird es doch Zeit …

      Paula sitzt am Bettrand, ihre Hände liegen gefaltet im Schoß. Hinter ihrem Rücken hört sie, wie Leopold die Hausschuhe abstreift und die Bettdecke zurückschlägt. Schwer fällt der Körper auf das Bett. Paula spürt, wie sich die Matratze auf ihrer Seite hebt. Ein Knacken hört sie, es sind die alten Knochen, die zur Ruhe gebettet werden. Da ist noch ein anderes Geräusch, ein Klicken, ein Behälter schnappt auf und dann wieder zu. Und dann noch ein Schmatzen, ein gedämpftes Mahlen der Zähne. Leopold brummt »Gute Nacht« und knipst das Licht auf seiner Seite aus. Paula murmelt »Gute Nacht« und bleibt sitzen. Sie lässt die Hausschuhe von ihren Füßen gleiten. Unter ihren Fußsohlen kräuselt sich der blonde Bettvorleger. Im Schlafzimmer ist es angenehm kühl. Der dunkle Kleiderschrank und der gepolsterte Lehnstuhl werfen kompakte Schatten. Das alte, hölzerne Schaukelpferd zeigt im Halbdunkel seine Zähne. Auf und davon kann es nicht, nur taktvoll wippen. Die Porzellanfigur auf dem Nachtkästchen streckt ihren weißen Arm in die trockene, mehlige Luft. Zur fragilen Salzsäule ist sie erstarrt, die Primaballerina. Ihre Beine zittern nicht beim Spitzentanz, der Tüll ihres Rockes wogt nicht im Rhythmus des Balletts. Eingelassen in Porzellan sind die Bewegungen der Arme und Beine, der Schwung der Rockfalten. Glasiert die weiße Haut, der blaue Stoff, sie ringen nach Atem. Unter dem Lichtkegel der Nachttischlampe ruhen Paulas Hände auf dem weißen Stoff ihres Nachthemds. Knochige, von dünner, rot und blau marmorierter Haut umspannte Finger bilden ein schmales, ein andächtiges Zelt. Was ihr schon alles durch die Finger gegangen ist, denkt Paula und hebt die Hand zum Gruß. Im aschfahlen Dämmerlicht zittert ein ausgestreckter Arm wie ein knorriger Ast im reißenden Gebirgsbach. Hinter den halb gesenkten Augenlidern nimmt Paula Schritte vor sich wahr, hört ihr Knirschen im Kies. Ein Paar alter, abgewetzter Bergschuhe wühlt sich seinen Weg über die Schotterstraße. Sie kann kaum Schritt halten, sie hastet hinterher, keucht: »Warte, nicht so schnell.« Der Weg säumt eine Schlucht. Der zwischen den Steinwänden eingepferchte Bach schäumt. Leopold dreht sich um: »Woher hast du das ganze Leben genommen, Paula?« Sie versteht nicht, was er meint. Sie lebt, sie ist lebendig, sie ist mit ihm, sie ist da und will nicht weg. Immer mehr Schritte hört sie, immer mehr Füße wühlen sich ihren Weg über die Schotterstraße. Das Knirschen im Kies wird lauter. Eine Stimme ruft: »Und links, zwo, drei, vier …« Die vielen Schritte vereinigen sich zu einem einzigen lauten Stampfen. Da ist kein Knirschen, keine Unordnung mehr in den Bewegungen. Sie kann Schritt halten. Das Gehen bereitet ihr keine Mühe. Jede Bewegung sitzt. Da läuft sie nicht Gefahr … Paula schreckt auf. Da ist ein Geräusch gewesen, da, in ihrem Garten. Sie schlüpft in ihre Hausschuhe und geht zum Fenster. Die Straßenlaterne wirft blasse Lichtflecken in den Vorgarten. Scharfrandige Schatten fallen von der Hecke auf das Gras, malen schwarze Türme und Zinnen. Ein Rascheln, direkt unter dem Fenster. Paula hält den Atem an. Sind sie jetzt gekommen? Zuerst haben sie Marias Wirtshaus überfallen, und nun … Vor denen kann auch ihre schöne, blickdichte Thujenhecke sie nicht beschützen. Ein schmaler, schwarzer Schatten springt über den Rasen in die Hecke. Auf Paulas Netzhaut hinterlässt er einen dunklen Stern. Paula atmet auf, bekreuzigt sich. »Oh Herr, erlöse uns von dem Bösen, denn Dein Reich komme …«, Paula muss husten. Ihre Kehle ist trocken. Sie schleppt sich in die Küche. Ein Glas Wasser trägt

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