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hier eins waren. Zu ihrer eigenen Verwunderung spürte sie diese Begeisterung nun erneut. Von der Hauptstraße bog sie südwärts in eine Gasse ein. Links und rechts standen Holzhäuser. Das Licht war anders hier als in der restlichen Stadt, wärmer und weicher, und über den Dächern hing der Mond in einer schmalen Sichel. Irene vergaß beinahe, wo sie war. Das Hotel Kikka, ihre Wohnung, die Geschäfte und Cafés schienen zu einer anderen Wirklichkeit zu gehören. Die Menschen gingen langsam, und so drosselte auch Irenes Körper die Geschwindigkeit, passte sich an die Gehenden und Staunenden um ihn herum an. Sie blieb ein paar Mal stehen, sah sich um.

      Neben ihr wurde eine Holztür aufgeschoben. Ein Mann trat auf die Gasse heraus. Er sah unvorstellbar alt aus. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und mit einem wässrigen Blick sah er Irene an, musterte sie, flüsterte etwas, ging wieder hinein. Die Tür wurde zugeschoben. Sie fröstelte. Der Asphalt war noch von der Sonne aufgeheizt gewesen, als sie in die Straße eingebogen war, und nun fühlte sie vor lauter Kälte kaum mehr ihre Füße. Ihr Zittern kroch bis zu den Schultern hinauf und setzte sich dort fest. Sie blieb stehen, unentschlossen, unfähig, weiterzugehen oder umzukehren. Nun also hatte Irenes Körper wieder alle Entscheidungsgewalt ihr selbst überlassen. Erschöpft stand sie im Licht der Laternen. Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, huschte eine Gestalt über die Straße, in einiger Entfernung, aber nah genug, um jeden Zweifel auszuschließen. Der Mann aus 1009.

      Irene lief los, in seine Richtung. Sie streifte sich die Schuhe wieder über. Er war schon außer Sichtweite, aber es gab nicht viele Möglichkeiten, wo er sein könnte, keine Abzweigungen mehr in der Richtung, in die er nun lief. Am Ende der Straße, gleich hinter dem Kabuki-Theater, war eine Tempelanlage, die bei dem großen Angebot an Attraktionen kaum Beachtung fand. Je näher sie dem Tempel kam, desto weniger Menschen waren auf der Straße. Als sie schließlich am Ende der Straße und damit am Eingang des Tempels angekommen war, war sie ganz allein.

      Es war ruhig hier, ruhig und finster. Nur wenige Laternen beleuchteten den Weg, und der Mond, der den Himmel immer weiter hinaufkroch. Sie überquerte einen Parkplatz, lief weiter zum Tempel hinab, und als sie vor dem Gebäude stand, fühlte sie ihre Müdigkeit. Es war ganz unmöglich, noch weiterzugehen. Sie setzte sich auf eine Bank neben dem Tempelgraben und schaute ins schwarze Wasser. Die Oberfläche war glatt und reglos. Seerosen schwammen darauf. Der Mond spiegelte sich zwischen ihren Blättern. Es war nichts mehr wichtig. Nicht wichtig, ob der Mann dort gewesen oder nur ein Trugbild war. Nicht wichtig, ob sie heute noch nach Hause käme. Oder morgen früh zur Arbeit. Oder ob sie noch in diesem Jahr nach Deutschland fliegen und ihre Mutter besuchen würde. Oder Timo. Oder ihren Vater. Der würde von allen die größten Augen machen und einen gehörigen Schreck kriegen, wenn Irene vor ihm stünde, vor seiner Haustür, hinter der eine ganze Familie wohnte, mit der seine Tochter ganz und gar nichts zu tun hatte.

      Diese Bank am Wasser schien der einzig richtige Ort für Irene zu sein. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Durch das Wasser huschten Schatten. Immer deutlicher konnte sie die Fische sehen, es waren Karpfen, große, träge Kois. Einer von ihnen war besonders hell. Seine weißen und orangen Schuppen waren nun ganz klar zu erkennen. Sie glänzten in dem spärlichen Licht, als der Fisch seinen Kopf aus dem Wasser streckte und Irene ansah, als wolle er ihr etwas erzählen, wenn er nicht stumm wäre. Sie musste sehr konzentriert gewesen sein auf diesen Fisch, denn sie bemerkte den Mann erst, als er bereits neben ihr auf der Bank saß, und sie erkannte ihn, noch ehe sie aufblickte, an seinem Räuspern, das gleiche Räuspern, das sie auch in Zimmer 1009 bereits aus ihrer Versunkenheit gerissen hatte.

      »Er hat ein Gesicht wie ein Mensch, findest du nicht?«

      Der Mann zeigte auf den Fisch, und der Fisch drehte sich zu ihnen herum. Irene war, als habe sie noch nie eine so schöne Stimme gehört wie die des Mannes. Sie lächelte, lauschte und sah hin. Ein Menschengesicht. Kaum hatte der Mann es ausgesprochen, sah sie es auch. Es blickte sie noch ein letztes Mal an, dann kehrte der Karpfen um und schwamm davon.

      »Weshalb bist du hier?«, fragte Irene.

      »Hier in Japan, meinst du? Oder hier in Gion?«

      »Ich weiß nicht – weshalb bist du hier in Japan?«

      »Ich habe zu tun, hier. Nichts von Belang, fürchte ich. Und du?«

      »Ich auch. Nichts von Belang.«

      Sie schwiegen eine Weile, und Irene fragte sich, ob er recht hatte, ob er wirklich nichts tat, das von Belang war. Mit ihrer eigenen Antwort war sie einverstanden, sie schien das, was sie machte, sehr treffend zu beschreiben.

      »Ich glaube, was ich eigentlich fragen wollte, ist, weshalb wir beide hier sind. Du weißt schon – weshalb wir uns hier treffen und weshalb du dich zu mir gesetzt hast.«

      »Woher soll ich das wissen? Ich habe ganz kurz gedacht, du seist mir vielleicht gefolgt, aber das scheint mir nicht gerade wahrscheinlich. Es ist jedenfalls schön, dich wiederzusehen. Du siehst erschöpft aus. Ist mein Zimmer hergerichtet?«

      Die Frage erschien Irene unangemessen, fast ein wenig unverschämt. Aber etwas lag in seiner Stimme, das ihr gefiel. Etwas Verbindliches, eine Forderung, so, als sei sie ihm verpflichtet, ihm ganz persönlich. Er wartete ihre Antwort nicht ab.

      »Ich möchte, dass du morgen dorthin gehst. Du wirst genau dieses Zimmer wieder schön machen, und ich möchte, dass du es ganz sorgfältig machst. Konzentrier dich darauf. Die anderen Räume kannst du routiniert und notdürftig herrichten, lass dich dabei ruhig ablenken, aber wenn du in mein Zimmer kommst, dann denk an nichts anderes mehr. Und wenn du damit fertig bist, und nicht eher, dann sieh hinter dem Spiegel nach. Nicht dem im Bad, sondern hinter dem großen, der im Zimmer gegenüber dem Bett hängt. Wir werden uns wiedersehen, da bin ich sicher. Ich versprech’s dir. Geh jetzt nach Hause, schlaf dich aus. Pass auf dich auf.«

      Er stand auf und ging, ließ Irene zurück in ihrer Ratlosigkeit. Als er irgendwo in der Dunkelheit verschwunden war und seine Schritte nicht mehr zu hören waren, hielt sie noch mal Ausschau nach dem Fisch, dem mit dem Menschengesicht, aber das Wasser war ganz undurchsichtig, die Fische untergetaucht. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Irene machte sich auf den Weg.

      8. Kyōto. Heute.

      Über Nacht war endlich der Regen gekommen. Es war, als habe ganz Kyōto darauf gewartet. Der Sommer war bislang unnatürlich trocken gewesen; heiß war es schon lange, aber nun erst setzte der Regen ein, der für diese Region so typisch und von dem Irene lange verschont geblieben war. Die Hitze sollte erst nach dem Regen kommen, so war es immer, das war der Sommer, von dem Timo ihr erzählt hatte: »Es regnet vier, fünf, vielleicht sechs Wochen lang. Der Regen scheint gar kein Ende zu nehmen. Und genau dann, wenn du dich damit abgefunden hast, dann hört der Regen auf, und es wird so unerträglich heiß, dass du glaubst, deine Haarspitzen müssten in Flammen aufgehen.« Irenes japanischer Sommer war ganz anders, die Jahreszeiten, auf die man in Kyōto einen solchen Wert legte, dass man sie mit allerhand Ritualen begrüßte und verabschiedete, diese Jahreszeiten stimmten scheinbar nicht mehr, seit sie hier war.

      Als Irene zu Hause angekommen war, hatte sie sich sofort ins Bett gelegt. Sie war aus den Kleidern gestiegen und hatte sie auf dem Fußboden liegen lassen, nicht einmal die Zähne hatte sie sich mehr geputzt. Es war ein erholsamer, tiefer Schlaf gewesen, der sie nur widerwillig losließ, als das Klopfen des Regens an der Fensterscheibe begann.

      In ihrem Halbschlaf hatte Irene sich vorgestellt, wie sie in ihrem alten Kinderzimmer lag, nur, dass das Kinderzimmer in diesem halben Traum im Erdgeschoss lag und nicht unter dem Dach. Nicht wie ihr richtiges Kinderzimmer. Sie hatte sich vorgestellt, wie jemand draußen stand und an ihr Fenster klopfte, ganz beständig, sacht, und ihr fiel ein, dass sie ihren Besuch durchs Fenster einlassen musste, weil dieses Haus keine Türen hatte. In ihrem Traum stand sie auf, schob die Vorhänge zur Seite und sah nach, erschrak vor dem, was dort im dunklen Garten stand, so sehr, dass es sie aus dem Schlaf riss, und sie vergaß noch im selben Moment, was ihr eine solche Angst gemacht hatte.

      Es war noch immer heiß in ihrer Wohnung. Draußen ging kein Wind. Die Nässe kroch durch jede Ritze zu ihr hinein;

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