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sie zum Abschied an. Er hatte kleine Grübchen auf den Wangen und wieder diese Lachfalten um den Mund, aber in seinen Augen las Irene noch etwas anderes, etwas Trauriges, vielleicht eine Ahnung, dass das, was er sich von Irene wünschte, keine Aussicht auf Erfüllung hatte.

      Er versuchte danach noch ein paar Mal, sie anzurufen, doch nach einigen Tagen gab er auf. Irene fuhr oft mit dem Rad durch die Gneisenaustraße, wenn sie auf dem Weg zur Uni war. Dann dachte sie an ihn. Sie war nicht mehr sicher, welches der Häuser seines war, also suchte sie eines aus, das es hätte sein können: einen besonders prächtigen, restaurierten Altbau mit Balkonen im Vorderhaus. Wenn sie daran vorbeifuhr, wagte sie kaum hinzusehen, beschleunigte das Tempo und richtete den Blick ganz gerade auf den Radweg vor ihr.

      4. Kyōto. Heute.

      Es war heiß draußen. In Kyōto sagte man, wenn es im Winter besonders kalt war, dass die Kälte aus dem Boden zu kommen schien. Nun glühte der Asphalt, als käme die Hitze direkt aus dem Inneren der Erde. Im Hotel dagegen war es angenehm kühl. Die Klimaanlagen ließen einen das Wetter außerhalb des Gebäudes ohnehin völlig vergessen. Hier war man unabhängig von Jahreszeiten und Wetterlaunen, die Temperatur war immer gleich, die Luftfeuchtigkeit immer genau richtig.

      Irene hatte sich völlig verloren in ihren Gedanken, in Geschichten über Hotelgäste, die sie kein bisschen kannte und denen sie deshalb alles andichten konnte, was sie sich nur vorzustellen vermochte. Als sie Zimmer 1009 öffnete und ihr Putzzeug hineintrug, überließ sie die Arbeit wieder ganz ihrem Körper, ihren Muskeln. Den Mann bemerkte sie erst, als er sich zum zweiten Mal räusperte und sich im Bett aufsetzte.

      »Sumimasen! Gomen nasai! Sumimasen!« Irene wusste nie, welche der beiden Phrasen angemessen war, wenn man sich entschuldigen musste. »Sumimasen!« Sie schrie fast, ihre Stimme klang fremd und sie spürte die Röte bis in die äußersten Ohrenspitzen kriechen. Sie verbeugte sich. Und verbeugte sich erneut, diesmal tiefer. »Gomen nasai«, sagte sie noch mal, leiser, ehe sie bemerkte, dass der Mann nicht sehr japanisch aussah. Sie versuchte es auf Englisch. Er beschwichtigte sie auf Deutsch, ganz ohne Akzent. Irene brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass sie nicht für sich selbst zu dolmetschen brauchte.

      »Es ist alles okay. So was passiert. Und gar nicht mal selten.«

      Der Mann sah sie freundlich an.

      »Diese Schilder an der Türklinke kann man nun wirklich übersehen. Ich bin öfter in Hotels, als mir lieb ist, und glaub mir: Das passiert nicht zum ersten Mal. Nun schau nicht so erschrocken, ja?«

      Er rieb sich die Augen und zog die Decke ein wenig höher über die Brust, auf der sich graue Haare kräuselten.

      Seine Hände waren ein wenig zu kräftig für seinen Körper, und Irene konnte nicht anders, sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie jetzt sofort unter seine Decke kriechen könnte. Die warme Haut zu spüren und die Müdigkeit riechen zu können und seiner fremden Stimme mit der vertrauten Sprache noch weiter zu lauschen. Es war aber nun mal keine Option und schon gar kein guter Stil, sich als Zimmermädchen einfach so unter die Bettdecke der Hotelgäste zu legen. Auch nicht, wenn es da etwas Gemeinsames gab – und was konnte schon gemeinsamer sein als eine gemeinsame Sprache, in der man sich unterhalten konnte? Das wurde ihr klar, als der Mann zu sprechen begonnen hatte. Es war so simpel, alles, wonach sie sich sehnte, waren ein paar Worte, die nicht übersetzt werden mussten. Die schwere und geschlossene Silben hatten, nicht wie das Japanische. Die sich zu Sätzen fügten, die einen Sinn ergaben, den man nicht erst zu entschlüsseln brauchte, die keine Floskeln enthielten, die man nur begreifen konnte, wenn man sich ausgiebig mit den japanischen Gesellschaftsverhältnissen der letzten hundert oder hunderttausend Jahre beschäftigt hatte.

      »Es tut mir wirklich leid. Mir ist so was noch nie passiert.«

      In der eigenen Sprache klang Irenes Stimme anders, sie kam ihr viel sanfter vor. Er gähnte und entschuldigte sich dafür.

      »Jetlag?«

      Irene merkte, dass sie starrte, und wandte den Blick ab, verwirrt über das, was sie fühlte. Scham war das nicht, das war etwas ganz anderes, aber sie vermochte es nicht zu benennen, auch später nicht.

      »Ja. Gestern gelandet. Zeitzonen dürfte es eigentlich gar nicht geben, aber mich fragt ja niemand.«

      Sie fühlte sich einsam, als sie eine weitere Entschuldigung zu Ende gemurmelt und das Zimmer verlassen hatte. Er hatte gesprächig gewirkt. Für jemanden, der gerade aus einem zeitverschobenen Schlaf gerissen wurde, fast schon geschwätzig. Aber sie durfte das nicht. Sie durfte nicht als Zimmermädchen mit mehr oder weniger nackten Hotelgästen ein Gespräch über Zeitzonen beginnen. Und sie durfte nicht als Irene in Kyōto dieselben Fehler machen, die sie als Irene in Berlin auch schon begangen hatte.

      Nun stand sie wieder auf dem Flur, und die Musik kam ganz eindeutig aus den Lautsprecherboxen, da war weder ein Orchester unter der Zimmerdecke, noch wartete jemand unter einer Bettdecke auf ihre Gesellschaft.

      Zu Zimmer 1009 kehrte sie erst ganz am Ende ihrer Runde zurück, als sie halbwegs sicher war, dass der Mann nicht mehr schlafen und längst in der Stadt unterwegs sein würde. Das Schild mit der Aufschrift »Do not disturb« hing tatsächlich nicht mehr an der Klinke. Sie klopfte dennoch kräftig an und lauschte an der Tür, ehe sie eintrat.

      Der Raum war leer. Der Mann hatte ihn ordentlich zurückgelassen. Sein Koffer stand offen, mit zugeklapptem Deckel, in der Ecke, die Bettdecke war glatt gestrichen, die Vorhänge geöffnet.

      Sie hätte gern einen Blick in seine Sachen gewagt. Irgendwo musste sein Pass sein und in dem Pass sein Name. Sie hätte gern an einem Hemdkragen gerochen oder im Bad gestöbert, sein Aftershave geöffnet und in denselben Spiegel geschaut, in den der Mann auch geblickt hatte, nicht bloß, um das Glas zu putzen. Sondern um etwas von ihm darin zu sehen, noch mehr Gemeinsames vielleicht. Ein ähnlich mattes Lächeln oder Augen, die genauso müde waren wie seine. Sie hätte gern über sein Kissen gestreichelt, hätte es mit den Fingernägeln gekratzt und gehört, wie sich die Fasern des Stoffes anhörten, und sie hätte am liebsten nachgesehen, ob er ein Buch dabeihatte. Vielleicht eines von Haruki Murakami, oder etwas von Kazuo Ishiguro. Einfach nur, weil sie sich ein bisschen wünschte, dass er las.

      Sie stellte sich vor, wie sie mit dem Mann an einem Strand sitzen würde. Es war Sommer, und niemand außer ihnen beiden hatte Platz in dieser Fantasie. Er saß auf einem weißen Badetuch mit roten Streifen, ein Buch in der Hand, las ihr vor, und sie schaute zu, wie seine Lippen sich bewegten, wie sein Mund auf und zu ging und wie seine Nasenflügel sich ein wenig wölbten, wenn er atmete. Seine Stimme, der Wind und die Brandung rauschten gemeinsam in ihren Ohren, ein einziges Geräusch. Er trug eine Badehose und hatte schöne Füße mit ganz geraden Zehen.

      Irenes Arme arbeiteten und arbeiteten, und sie hätte ihnen gern befohlen, den Deckel des Koffers anzuheben, die Schrankwand aufzuschieben, die Nachttischschublade aufzuziehen.

      Aber sie ermahnte sich, schließlich wusste sie, dass sich das nicht gehörte, dass man an fremden Sachen weder roch noch sie befühlte, und dass das für ein Zimmermädchen erst recht tabu war, absolut tabu.

      Ihre Arme und Hände beeilten sich, das Zimmer herzurichten. Irene versuchte, nicht darauf zu achten, ob der Mann die Zahnbürste benutzt hatte, die sie im Badezimmer bereitgelegt hatte, oder ob er eine eigene dabeihatte. Sie schaute auch nicht weiter nach, ob er etwas aus der Minibar genommen hatte, sie ließ nur ihre Hände den dazugehörigen Zettel ausfüllen, und zum ersten Mal, seit sie hier war, eigentlich seit viel längerer Zeit, war sie auf jemanden neugierig. Nicht darauf, wie jemand ganz theoretisch sein könnte, nicht auf irgendwen in ihren eigenen Geschichten. Sie wollte seinen Namen. Wissen, wer er war. Sie musste raus aus dem Zimmer, fort aus 1009.

      Toshio Hayakawa saß an der Rezeption, als Irene die Lobby durchquerte. Er hatte nicht viel zu tun, die meisten Gäste reisten später an, und ausgecheckt hatten diejenigen, die das Hotel verließen, schon längst. Wahrscheinlich hatte er ein Manga unter dem Tisch versteckt. Irene kannte ihn nicht gut, aber wie die meisten

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