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nimmt er an einem kleinen Tisch Platz und bestellt einen Gin Tonic. In Gedanken versunken betrachtet er das Meer. Verrückt, heute früh war der Horizont eine klare Linie, die das dunkle Meer von dem etwas helleren Himmel deutlich abgetrennt hat. Jetzt geht beides fast ineinander über.

      Der Horizont flimmert und die Kontur verwischt. Er lacht auf. Wie war das noch, die Erde ist eine Scheibe. Er greift sein Tablet und erfährt, dass seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. keine gebildete Person der westlichen Kulturen mehr davon ausging, dass die Erde eine Scheibe sei. Die Annahme, dass der mittelalterliche Mensch an eine scheibenförmige Erde glaubte, fand erst im 19. Jahrhundert Verbreitung. Sven greift nach seinem Gin Tonic und nimmt einen herzhaften Schluck. Dann widmet er sich erneut den Informationen. Aha, Washington Irvings Erzählung Das Leben und die Reise des Christoph Columbus soll für diese Fehleinschätzung mitverantwortlich sein. Na, wenn das nicht mal wieder ein moderner Mythos ist. Er schüttelt den Kopf.

      Laute Stimmen reißen ihn aus seinen Gedanken. Zwei Spanier unterhalten sich auf einer der Terrassen unter ihm. Er runzelt die Stirn über die Störung, lauscht dann aber doch dem Gespräch.

      »Das war eine scheiß Idee, den Auftrag anzunehmen.«

      »Wieso, du hast doch auch zugestimmt. Und darf ich dich daran erinnern, die Bezahlung ist sensationell.«

      »Bezahlung, dass ich nicht lache! Erfolgshonorar, das wir aber auch nur bekommen, wenn wir dem Typen das Fläschchen Patxaran besorgen. Und wie sollen wir das anstellen?«

      »Immerhin wird vermutet, dass es sich auf Mallorca befindet.«

      »Na wunderbar.«

      Sven zieht eine Augenbraue hoch. Sobald es um Kulinarisches geht, ist sein Interesse geweckt. Aber was soll so schwierig daran sein, ein Fläschchen Patxaran aufzutreiben, das gibt es doch in jedem Supermarkt auf Mallorca. Er stellt seinen Stuhl etwas näher an die Balustrade, um die beiden besser verstehen zu können. Dann greift er sich sein Tablet und gibt den Begriff ›Patxaran‹ in eine Suchmaschine ein.

      »Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«

      »Du wiederholst dich.«

      Schon der erste Eintrag im Internet verrät ihm, dass der Anis-Schlehen-Likör seit dem Mittelalter in Navarra weit verbreitet ist. Heute zählen auch das Baskenland und Aragonien dazu, aber eigentlich ist er in ganz Spanien erhältlich. Sven ­scrollt auf der Seite weiter nach unten und gelangt zur Geschichte des Likörs.

      »Wir können doch ein altes Fläschchen besorgen, den Schnaps einfüllen und gut ist. Irgendein altes Fläschchen. Es muss ja nicht so alt sein. Und hier auf Mallorca dürfte das ja wohl kein Problem sein.«

      »Wo sollen wir denn ein so altes Fläschchen auftreiben?«

      »Keine Ahnung, aber das wird schon!«

      »Tolle Idee! Glaubst du nicht, dass der bei so einer Summe das Fläschchen nicht untersuchen lässt? Ein Fläschchen aus dem 15. Jahrhundert finden wir auch auf Mallorca nicht so einfach. Und außerdem wissen wir doch gar nicht, wie das Fläschchen aussieht.«

      »Er aber auch nicht.«

      Sven muss schmunzeln, als er liest, dass die Königin Blanka von Navarra im Kloster Santa María la Real de Nieva den Likör als Medizin zu sich genommen hat. Und schon ahnt er, was die beiden für einen Auftrag haben.

      Das Gespräch scheint beendet, denn Sven hört, wie Stühle gerückt werden. Er erhebt sich und schaut vorsichtig über die Brüstung. Die zwei Spanier kommen ihm bekannt vor. Und als der kleinere der beiden sich an die Nase fasst, weiß er, wo sie ihm schon einmal begegnet sind.

      Kapitel 6

      Jardins de Alfàbia. Der Parkplatz zu den Gartenanlagen und dem alten arabischen Herrenhaus kurz vor der südlichen Tunneleinfahrt nach Sóller ist nur von wenigen Autos besetzt. Das wird sich bald ändern, dann kommen die Touristen scharenweise, denn die Gärten von Alfàbia inmitten des Tramuntana-Gebirges sind eine der beliebtesten Touristenattraktionen der Insel. Die subtropische Parkanlage ist ein Zeugnis arabischer Gartenkunst. Und das ausgeklügelte Bewässerungssystem aus der damaligen Zeit sorgt immer noch für die nötige Feuchtigkeit.

      Iwan, der hünenhafte Russe, steht etwas abseits an einer Mauer. Längst hat er sich einen Überblick verschafft. Der Garten ist für jeden frei zugänglich und eine Oase der Ruhe und Entspannung. Selbst jetzt im August herrschen im Schatten unter den hohen Palmen und Platanen angenehme Temperaturen. Das Herrenhaus mit seiner bedeutenden Bibliothek ist ein Museum, wird aber nur zu bestimmten Zeiten geöffnet und dann meist für Gruppenführungen. Die freundliche Bedienung an der Bar im Garten hat Iwan den Tipp gegeben, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Der eigentliche Grund seines Interesses ist ihr verborgen geblieben.

      Iwan spielt mit einer Blüte, die er an einem Bougainvilleenstrauch abgerissen hat, und wartet ab. Ein näher kommendes Motorengeräusch weckt seine Aufmerksamkeit. Ein Reisebus biegt auf den Parkplatz ein. In aller Ruhe beobachtet Iwan, wie die Touristen sich sammeln. Eine größere Gruppe, das kann nur von Vorteil sein. Dann gehen die Touristen eine lange Allee entlang, die von großen Palmen gesäumt wird. Iwan schließt sich unbemerkt an und hält sich ein wenig abseits. Die üppige Vegetation von Rosen, Bougainvilleen und Dah­lien interessiert ihn nicht. Er ist nur darauf bedacht, von der Reisegruppe nicht als Fremder wahrgenommen zu werden, so als wäre er von Anfang an dabei gewesen. Unscheinbar. Ganz hinten im Bus sitzend.

      Breite, terrassenartige Stufen führen sie zu dem alten Herrenhaus hinauf, das einen fast wehrhaften Charakter besitzt: massive Mauern, die nur durch ovale kleine Fenster durchbrochen sind. Eine junge Frau empfängt die Reisenden, begrüßt alle in englischer Sprache und führt sie in das Innere des Landhauses. Iwan ist der Letzte, der noch hineinschlüpft, bevor die alte Tür ins Schloss fällt. Die Räume im Parterre sind muffig und düster, obwohl die Wände weiß gekalkt sind. Die alten, dunklen Landschaftsbilder verschlucken das wenige Licht, das durch die kleinen Fenster ins Innere gelangt. Im ersten Stock wird die Luft besser und es ist heller. Den Ausführungen der jungen Frau kann der Russe nur schwer folgen, da die Gruppe zu groß ist und sie mit ihrer Stimme nicht bis zu ihm durchdringt. Was geht ihn auch die Geschichte der Araber auf Mallorca an, die über 300 Jahre das kulturelle Leben der Inselbewohner geprägt und ihnen zu Wohlstand verholfen haben? Er interessiert sich lediglich für die wertvolle Bibliothek des Museums, die auf der Insel einzigartig sein soll. Nachdem die Gruppe sich durch fast alle Räume des Landhauses geschoben hat, wird die Tür zur Bibliothek geöffnet. Die Museumsangestellte zählt jeweils zehn Personen ab, die kurz nacheinander hineindürfen. Endlich ist Iwan mit fünf weiteren Besuchern an der Reihe.

      »Diese Bibliothek ist über die Jahrhunderte gewachsen und die älteste auf Mallorca«, erklärt die Führerin mit einem stolzen Unterton. »Für Wissenschaftler aus der ganzen Welt ist sie von Interesse, da hier einige Raritäten zu finden sind. Das Besondere ist die einzigartige Sammlung von Büchern über Gartengestaltung. Die Araber haben hier nicht nur den fantastischen Garten angelegt und damit ihre einmalige Gartenkunst unter Beweis gestellt, sondern sich auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinandergesetzt.« Der Russe schaut sich, Neugier vortäuschend, die Buchrücken an. Doch sein Vorhaben, in der Bibliothek womöglich vergessen zu werden, geht nicht auf.

      »Darf ich auch Sie bitten, die Bibliothek zu verlassen?«, wird er von der Führerin aufgefordert. Die kurze Zeit hat nicht ausgereicht, um sich einen Eindruck zu verschaffen, welche Bücher hier zu finden sind. Nur viele alte Einbände hinter Glas hat er gesehen. Er steigt mit den restlichen Besuchern die Treppe hinab. Nachdem die junge Frau die Reisegruppe verabschiedet hat, schließt sie die Tür. Als sie sich umdreht, erschrickt sie. Blassblaue Augen schauen emotionslos auf sie herab.

      »Sie müssen sich beeilen, sonst verlieren Sie noch Ihre Gruppe«, stammelt sie und öffnet erneut die schwere Holztür.

      »Ich möchte den Besitzer sprechen.«

      »In welcher Angelegenheit? Waren Sie mit meiner Führung nicht zufrieden?« Sie versucht, dem Blick des Hünen auszuweichen. Ihre Lippen zittern leicht. Iwan lächelt, doch seine Augen bleiben kalt.

      »Ich habe ihm ein Geschäft anzubieten.«

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