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waren nicht arm, aber auch nicht vermögend. Das Gehalt, das Hermann Mahnstein als Polizeibeamter verdiente, reichte zwar aus, dass Schmalhans nie Küchenmeister war, dennoch hielt Auguste Mahnstein die Pfennige zusammen und verabscheute Verschwendung und unnötige Ausgaben.

      Es war noch dunkel, als Hedwig sich den Schnee vom Mantel klopfte und ihre Schuhe auszog, bevor sie die Schneiderwerkstatt ihrer Lehrherrin betrat. Eigentlich war es gar keine richtige Werkstatt, sondern nur ein kleines, quadratisches Zimmer neben Erna Ballnus´ Küche in deren Wohnung neben der evangelischen Kirche: an den Wänden Regale mit Stoffballen und Bändern, in Schubladen bunte Garne und Knöpfe in allen Formen und Größen, in der Mitte der wuchtige Schneidertisch und zwei Nähmaschinen aus schwarz-glänzendem Metall.

      »Guten Morgen, Fräulein Ballnus«, grüßte Hedwig.

      »Guten Morgen, Hedwig«, erwiderte die Schneiderin und schob Hedwig eine Tasse mit Kamillentee hin. »Trink, der Tee ist heiß und deine Nase rot von der Kälte.«

      »Die taut gleich wieder auf. Dankeschön.«

      Hedwig lachte und nippte an dem Tee. Jeden Morgen begrüßte Fräulein Ballnus sie mit einem Tee, und mittags bekam sie ein Butterbrot, manchmal auch mit Speck darauf. Nachdem ihr warm geworden war, griff Hedwig nach einem Mantel, dessen Kragen gewendet und neu gefasst werden musste. Gestern hatte sie mit der Arbeit begonnen und wollte sie heute fertigstellen. Fräulein Ballnus nahm ihr jedoch den Mantel aus der Hand und sagte:

      »Du musst heute etwas zustellen, bei der Kälte schmerzen meine Knie so sehr, dass ich kaum laufen kann.«

      Hedwig nickte. Obwohl Erna Ballnus die Fünfzig noch nicht erreicht hatte, saß ihr das Rheuma in den Knochen. Beim Gehen musste sie sich häufig auf einen Stock stützen, was bei den vereisten Wegen beschwerlich war. Dunkle Schatten unter Fräulein Ballnus´ grauen Augen zeugten davon, dass sie in der letzten Nacht wegen der Schmerzen nur wenig, wenn überhaupt, geschlafen hatte. Nicht alle Kunden kamen in die Schneiderwerkstatt, einige suchte Erna Ballnus auch in der heimischen Umgebung auf und lieferte die fertigen Kleidungsstücke in deren Häuser und Wohnungen aus.

      Sie humpelte zu einem Regal, in dem ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen lag, darauf ein Rechnungszettel, und drückte beides Hedwig in die Arme.

      »Du musst aber bis nach Kahlenwald raus, Hedwig«, sagte sie bedauernd.

      »Nach Kahlenwald?«, wiederholte Hedwig erstaunt. »Zu der Frau Baronin?«

      Fräulein Ballnus nickte. »Ich habe versprochen, das Kleid heute zu liefern. Ich wäre ja selbst gegangen, aber ...« Bedeutungsvoll klopfte sie gegen ihr linkes Knie.

      »Mein Mantel ist warm, meine Schuhe fest«, erwiderte Hedwig fröhlich. »Ich scheue das Wetter nicht, wusste aber nicht, dass Sie auch für die Frau Baronin nähen.«

      »Es ist erst die dritte Anfertigung und wahrscheinlich auch die letzte.« Ein grimmiger Zug bildete sich um ihre Mundwinkel, als Fräulein Ballnus fortfuhr: »Bestehe darauf, dass die Baronin dir das Geld sofort aushändigt. Wenn sie es nicht in bar hat und Ausflüchte vorbringt oder dir als Bezahlung gar Fleisch oder Wurst anbietet, dann bringst du das Kleid wieder zurück. Zweimal habe ich sie schon anschreiben lassen und meine Not gehabt, den Lohn zu erhalten. Baronin hin oder her, ich möchte für meine Arbeit bezahlt werden, und zwar nicht erst nach Wochen oder Monaten.«

      Hedwig war dem Baron und der Baronin von Dombrowski bisher nie begegnet, denn diese waren erst im letzten Sommer in das alte Rittergut Kahlenwald eingezogen. Zuvor hatte das Haus einige Monate leer gestanden, nachdem der letzte Besitzer im Krieg geblieben war. Der jetzige Baron war ein entfernter Vetter aus Stettin und der einzige Erbe. Obwohl Hedwig sich nicht für Klatsch interessierte, hatte sie die Leute reden hören, dass die von Dombrowskis bereits seit drei Generationen verarmt waren, der gesamte Landbesitz längst veräußert war, und das Gutshaus befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Den Lebensunterhalt verdiente der Baron als Fleischer, eine Tätigkeit, der er in Stettin nachgegangen war, aber seine Frau hielt die Nase so hoch, als würden sie mit dem Kaiser persönlich verkehren und regelmäßig bei den adligen Großgrundbesitzern Masurens ein- und ausgehen. Ihre Fleisch- und Wurstwaren kauften die Mahnsteins nicht auf Kahlenwald, da es zu weit außerhalb lag. Auf dem Wochenmarkt bot der Baron seine Waren ebenfalls an, Hedwig hatte dem Stand aber nie Beachtung geschenkt.

      Hedwig schritt zügig aus, um der klirrenden Kälte zu trotzen. Gut Kahlenwald lag zwei Kilometer westlich der Stadt in Richtung des Gielandsees. Nachdem sie die letzten Häuser passiert hatte, begann die lange Allee aus zum Teil mehrere hundert Jahre alten Eichen. Nach einer leichten Biegung nach links bog Hedwig in einen Trampelpfad ein, der unter den Schneemassen kaum zu erkennen war. Erna Ballnus hatte ihr aber genau beschrieben, welchen Weg sie einschlagen musste. Es begann wieder zu schneien, und die dichten, großen Flocken setzten sich auf Hedwigs Mütze. Eine traf ihre Nasenspitze, und Hedwig versuchte, sie mit der Zungenspitze zu fangen. Um sie herum war es totenstill, auf dem Weg gab es keine Wagen- oder Fußspuren, ein Zeichen, dass sie heute wohl die erste Besucherin auf Gut Kahlenwald sein würde. Hedwig passierte ein verfallenes Vorwerk, durch dessen dunkle Fensterhöhlen der Wind wie ein Rudel hungriger Wölfe heulte. Hedwig beschleunigte ihre Schritte, sie wollte diesen Auftrag so schnell wie möglich erledigen. Endlich kam das Haus in Sicht. Es war nahezu quadratisch, hatte drei Stockwerke und ein Krüppelwalmdach, in das Fledermausgauben eingelassen waren. Linker Hand erkannte Hedwig drei langgestreckte niedrige Gebäude mit leeren Fensterhöhlen und eingesunkenen Dächern. Offenbar die früheren Stallungen, dachte sie, und das Gerücht, die von Dombrowski besäßen kein Vermögen, bestätigte sich, denn über dem ganzen Anwesen lag der Hauch der Verwahrlosung.

      An der Eingangstür aus massivem, dunklem Eichenholz zog Hedwig an der altmodischen Klingelschnur. Als sich nach einigen Minuten nichts rührte, zog sie ein zweites, dann ein drittes Mal, dann drehte sie am Knauf, die Tür war jedoch verschlossen. Unwillig runzelte Hedwig die Stirn. Nach dem langen Fußmarsch durch den Schnee hatte sie sich auf eine heiße Tasse Tee oder Gemüsebrühe gefreut. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in Masuren, jedem Gast – gleichgültig, mit welcher Mission er kam – aufzuwarten, bevor er seinen Rückweg antrat. Hedwig dachte an die mahnenden Worte ihrer Lehrherrin, auf keinen Fall ohne das Bargeld für die Schneiderarbeit zurückzukehren, und das Päckchen konnte sie ohnehin nicht einfach vor die Tür legen, wo es der Witterung ausgesetzt wäre. Mit einem Seufzer umrundete sie das Haus und stieß an der Rückseite auf eine zweite Tür. Hier gab es keinen Klingelzug. Hedwig drückte auf die Klinke. Sie hatte Glück, diese Tür war nicht abgeschlossen. Dahinter erstreckte sich ein düsterer Gang mit einer niedrigen Decke. Hedwig vermutete, dass es sich um den ehemaligen Dienstboteneingang handelte und der Korridor einst zu den Wirtschaftsräumen geführt hatte.

      »Ist jemand zu Hause?«, rief Hedwig. »Ich habe eine Lieferung aus der Stadt abzugeben.«

      Sie erhielt keine Antwort, das Haus schien verwaist zu sein. Entschlossen trat Hedwig ein. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Kleid hier im Trockenen abzulegen. Fräulein Ballnus würde ihr schon nicht den Kopf abreißen, wenn sie erklärte, niemanden angetroffen und das Geld deswegen nicht mitgebracht zu haben. Auf der Suche nach einem geeigneten Platz ging Hedwig zögernd den Korridor entlang. Sie fühlte sich nicht wie ein Eindringling, denn nur wenige Menschen in Masuren verschlossen ihre Häuser. Die Besitztümer anderer wurden respektiert und geachtet, man fürchtete keine Spitzbuben oder gar Diebe. Am Ende des Ganges klangen einzelne musikalische Töne an Hedwigs Ohr. Jemand spielte Klavier, aber kein ganzes Stück, sondern ein paar Töne wurden angeschlagen, dann eine Pause, und das Geklimper begann von vorn. Es musste sich also doch jemand im Hause befinden. Wegen des Klavierspiels war ihr Klingeln wohl nicht gehört worden. Erleichtert atmete sie auf und folgte den Tönen. Hedwig gelangte durch eine Vorhalle in die Eingangshalle, die bis auf einen wackligen Tisch und zwei Stühle unmöbliert war. Die Tapeten an den Wänden waren verblasst, das Muster kaum noch zu erkennen, der Boden aus schwarz-weißen Marmorfliesen zeugte aber von dem einstigen Reichtum der Eigentümer. Die Musik kam aus dem ersten Stock, und Hedwig stieg die steinerne, schmucklose Treppe hinauf. Die Tür zu dem ersten Zimmer auf der rechten Seite war nur angelehnt.

      »Guten Tag, ist hier jemand?«, rief Hedwig und stieß die Tür ganz auf. Ein junger Mann saß an einem Klavier.

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