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Waffenstillstand. Das Töten hat endlich ein Ende. Komm, Hedi, wir wollen feiern! Die anderen sind alle schon in der Stadt, Paula und Luise bei Tante Martha, sie hat für alle Kakao gekocht.«

      »Wo ist der Vater?«, fragte Hedwig, aber Karl schüttelte den Kopf.

      »Keine Ahnung, ist auch egal. Kommst du jetzt?«

      »Ich muss das Essen vorbereiten«, murmelte Hedwig automatisch. »Wenn Vater nach Hause kommt …«

      »Unsinn«, unterbrach Karl sie. »Heute denkt niemand ans Essen.« Er sah seine Schwester an. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Hedi? Der Krieg ist beendet! Deutschland hat ihn zwar verloren und musste bedingungslos kapitulieren, das wussten wir aber schon seit Monaten. Jetzt schweigen die Waffen, und niemand wird mehr sterben.«

      Nur langsam drang die Bedeutung seiner Worte in Hedwigs Kopf. Konnte es tatsächlich wahr sein? War dieser Irrsinn, der über vier Jahre die Welt in Atem gehalten und unendlich viele Tote gefordert hatte, wirklich vorüber? Und wenn ja, was würde nun folgen?

      »Geh schon mal vor in die Stadt, ich komme nach«, sagte Hedwig leise und schob ihren Bruder zur Tür. »Ich muss mich um Mutter und Anna kümmern.«

      Karl nickte, stürmte aus dem Haus, schwenkte seine Mütze und Hedwig hörte ihn »Juchhe!« rufen.

      Sie kehrte in die Küche zurück, die von einer Glühbirne in schwaches Licht getaucht war. Das abgespülte Geschirr stand noch im Schüttstein, zwei Kohlrüben lagen bereit, die Hedwig putzen, zerkleinern und für das Abendessen hatte zubereiten wollen. Immer mehr Menschen zogen am Haus vorbei, der Schein ihrer Fackeln leuchtete gespenstisch durch den neblig-trüben Abend.

      »Frieden! Endlich Frieden!«, hörte Hedwig die Leute jubeln.

      Hedwig sah zu dem Korbsessel in der linken Ecke der Wohnküche, einst der Lieblingsplatz von Heinrich. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Für ihn kam der Frieden zu spät. Heinrich war das älteste der Mahnsteinkinder gewesen, zwei Jahre vor ihr geboren. Zum Leidwesen des Vaters war Heinrich weder groß noch stark, und der eher sensible, feinfühlige Junge hatte seine Nase lieber in Bücher gesteckt, als mit seinen Kameraden auf Bäume zu klettern oder Krieg zu spielen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Hedwig ihren älteren Bruder zärtlich geliebt, und auch sie war seine Lieblingsschwester gewesen, was er die anderen nie hatte spüren lassen.

      »Manchmal denke ich, wir wären Zwillinge«, hatte Heinrich oft augenzwinkernd zu ihr gesagt. »Wir sind uns viel ähnlicher als die anderen.«

      Dass ein Krieg kein Spiel mit Holzschwertern war, hatte Heinrich im Herbst des vergangenen Jahres erfahren müssen. Gerade erst sechzehn war er gewesen, als der Einberufungsbescheid gekommen war. Obwohl er den Befehl stillschweigend entgegengenommen und seine Sachen gepackt hatte, hatte Hedwig gespürt, dass Heinrich längst nicht mehr an einen Sieg glaubte. Nach außen hin war er voller Enthusiasmus Seite an Seite mit seinen gleichaltrigen Schulkameraden durch die von jubelnden Passanten gesäumten Straßen zum Bahnhof geschritten. Zum Abschied hatte Hermann Mahnstein ihm wohlwollend auf die Schulter geklopft.

      »Nun bist du kein Junge mehr, sondern ein Mann, auf den der Kaiser stolz sein kann.«

      Heinrich war noch keine zwei Monate fort gewesen, als Hedwig eines Abends die Küche aufräumte. Sie war allein, die Geschwister bereits im Bett, die Eltern saßen in der guten Stube, als das Korbgeflecht des Sessels knarzte, als hätte sich ihr Bruder hineingesetzt. Das Geräusch war Hedwig so vertraut wie ihr eigener Atem.

      »Heinrich!«

      Hedwig war herumgeschnellt, hatte den leeren Stuhl angestarrt und sich verwirrt über die schweißnasse Stirn gewischt. Sie zitterte am ganzen Körper, Hitzewallungen und Schüttelfrost wechselten sich ab. Sie konnte die Anwesenheit ihres Bruders körperlich spüren, was natürlich Unsinn war. Niemand außer ihr befand sich in der Küche, alles war ruhig. Nur die Standuhr in der Diele schlug in diesem Moment die neunte Abendstunde. Dieser Schlag brannte sich wie mit einem glühenden Eisen in Hedwigs Gedächtnis ein.

      Zwei Wochen später hatten die Mahnsteins den Brief erhalten. In knappen, unpersönlichen Worten war der Familie mitgeteilt worden, der Soldat Heinrich Mahnstein sei am 24. November 1917 bei der Schlacht von Cambrai verwundet worden und einen Tag später exakt um einundzwanzig Uhr seinen Verletzungen erlegen. Sein Leichnam wurde vor Ort in einem Kriegsgrab beigesetzt.

      Seitdem war kaum eine Nacht vergangen, in der Hedwig nicht von Heinrich träumte. Nun war der Krieg zu Ende, aber die gefallenen Männer, die vielen Söhne, Brüder und Väter, würden niemals zurückkehren. Kaum eine Familie in Sensburg, die keine Verluste zu beklagen hatte. Wie die Mahnsteins hatten die meisten kein Grab, an dem sie trauern und um ihre Lieben weinen konnten.

      »Hedi! Warum versteckst du dich hier?« Hedwig zuckte zusammen. Sie hatte ihre Schwester Paula nicht kommen hören und erschrak, als die Neunjährige sie am Arm packte. »Karl schickt mich, dich zu holen. Die Menschen singen und tanzen, einige haben auch Instrumente dabei.«

      Hedwig seufzte und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden, glatten Haares, die sich aus dem Dutt gelöst hatte, hinters Ohr, dann nahm sie Paulas Hand.

      »Ich sehe nur kurz nach Mutter und Anna, dann komme ich.«

      Auguste Mahnstein hatte von dem Trubel nichts mitbekommen. Hedwig rüttelte ihre Mutter mehrmals an der Schulter, bis sie aufwachte. Ungläubig lauschte sie den Worten ihrer Tochter.

      »Was für ein glücklicher Tag«, sagte sie leise, »sofern es kein Gerücht ist.«

      »Anna schläft«, erwiderte Hedwig. »Kann ich euch allein lassen? Ich möchte zu Tante Martha gehen.«

      »Geh nur, Kind, und feiere mit den anderen. Ich selbst fühle mich zu schwach, um in die Stadt zu gehen, und werde nach Anna sehen.«

      Hedwig schlüpfte in ihre Schuhe aus festem Leder, zog den warmen Mantel an und machte sich auf den Weg. Von den Einwohnern Sensburgs waren so gut wie alle, die der Krieg verschont hatte, auf den Straßen, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie an einem Jahrmarktstag. Obwohl Hedwig bei Kriegsausbruch erst elf Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch gut daran, wie die ersten Männer zum Bahnhof gezogen waren, um im kaiserlichen Heer ihr Vaterland zu verteidigen. Die Uniformen mit Blumen geschmückt und in der festen Überzeugung, an Weihnachten wieder zu Hause zu sein, waren die Burschen in einen Krieg gezogen, der in den darauf folgenden Jahren alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen und so viele Opfer – auch unter der zivilen Bevölkerung – fordern sollte wie kein Krieg zuvor. Auch Ostpreußen war von der russischen Armee mehrmals angegriffen worden. Die Schlacht von Tannenberg aber hatte den Wendepunkt gebracht, seitdem wurde Paul von Hindenburg als glorreicher Sieger und Held verehrt. Der kaiserlichen Armee war es gelungen, die Feinde aus dem Land zu treiben. Neben der Stadt Königsberg waren fünf weitere Landkreise von den Angriffen verschont worden, darunter Sensburg. Hier hatte die Bevölkerung die Schrecken des Krieges nicht hautnah miterleben müssen. Niemand musste Hunger leiden, denn die Felder rund um Sensburg waren gut bestellt, das Vieh stand auf saftigen Weiden und die Wälder waren wildreich. Wenn nicht wöchentlich die langen Verlustlisten eingetroffen und immer mehr Frauen in schwarzer Kleidung durch die Straßen gegangen wären, hätte man glauben können, der Krieg wäre eine Angelegenheit, die die Sensburger nicht betraf. Ein trügerischer Schein, denn jetzt hatte das Deutsche Reich verloren, und Hedwig ahnte trotz ihrer jungen Jahre, dass von einem Tag auf den anderen nicht alles wirklich vorüber sein würde, aber wenigstens schwiegen die Waffen.

      Tante Martha, die ältere Schwester von Hermann Mahnstein, war seit vielen Jahren verwitwet. Sie hatte zwei Söhne bei Verdun verloren, ihre Tochter war verheiratet und lebte in Allenstein. So kümmerten sich die Mahnsteinkinder regelmäßig um die Tante, die immer leckere Kuchen oder köstliche Saure Klopse für Besuch bereithielt. Über dem Verlust ihrer Söhne war Martha Mahnstein nicht zerbrochen, zumindest zeigte sie es nach außen hin nicht, obwohl sie die Trauerkleidung nicht mehr ablegte. Heute hatte sie Platten mit belegten Broten und kleinen, süßen Kuchenstücken bereitgestellt, die Kinder erhielten Kakao und die Männer Bier. Ihr Mann war ein vermögender Kaufmann gewesen, so hatte Tante Martha keine finanziellen Sorgen, und sie lebte in einem schmalen, zweistöckigen

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