Скачать книгу

Jan steigert sich in seine Erzählung hinein, in eine unendlich lange Geschichte unvorstellbarer Schicksale. Unvermittelt wechselt er mit wütender Stimme zur aktuellen Lage.

      »Dreiundzwanzig Jahre lang hat das Hilfezentrum erfolgreich am Hauptbahnhof gearbeitet, und dann kam letztes Jahr wie aus dem Nichts die Kündigung.«

      »Hat die Stadt euch keinen Ersatz angeboten?«

      Nele unterbricht Jan jetzt doch.

      »Es wurden uns alternative Räumlichkeiten angeboten, aber weit entfernt vom Hauptbahnhof. Was sollen wir dort? Die Jugendlichen schätzen die zentrale Lage von Bahnhöfen in Innenstädten, hier müssen wir ansprechbar sein. Wir müssen da sein, wo die Kids sind.«

      »Um wie viele Jugendliche geht es denn?«

      »Bis zu 500 Kinder und Jugendliche nehmen jedes Jahr unsere Hilfe in Anspruch. Was soll mit denen passieren, wenn wir nicht mehr vor Ort sind?«

      Jan klingt resigniert, und dieser Ausdruck verschwindet auch nicht aus seinem Gesicht, als Nele ihm vorschlägt, statt eines Artikels über das KIDS eine Serie über die Jugendlichen zu schreiben, die das KIDS betreut.

      »Jan, das war ganz schön viel. Ich muss das erst mal aufbereiten. Wollen wir meinen Text vor Erscheinen gemeinsam besprechen? Ob ich alles richtig verstanden habe? Zusammen bei einem Rotwein?«

      »Wenn es dich nicht stört, dass ich einen Yogi-Tee trinke. Oder ein Bier.«

      »Bestimmt nicht.«

      »Dann melde dich, wenn es so weit ist.«

      »Mache ich.«

      Nele verabschiedet sich von Jan. Vom Bahnhofsvorplatz schrillen Polizeisirenen zu ihnen herüber.

      Jensens Handy meldet sich mit Blowing’ in The Wind von Bob Dylan und reißt ihn aus dem hektischen Bemühen, den aktuellsten der zahlreichen Newsticker zu finden. Manchmal fragen ihn jüngere Kollegen nach seinem Klingelton. Dann steht Jensen dazu, einen Teil seiner Vergangenheit in das Jetzt hinübergerettet zu haben. Er war auch mal jung.

      Aber das war im letzten Jahrtausend. Und dass auf seinem Telefon ein Literaturnobelpreisträger singt, das wissen die Jungen nicht.

      Ohne auf den angezeigten Anrufer zu achten, nimmt er das Gespräch an.

      »Werner Jensen.«

      »Ich bin es, Wiebke.«

      »Ist dir langweilig draußen auf der Straße?«

      Jensen versucht sich in einem besorgten Tonfall.

      »Werner, pass auf, du musst sofort kommen. Also, äh, es ist etwas passiert.«

      Jensen realisiert, dass seine Kollegin sich weit neben ihrer Spur befindet, ihre Gelassenheit verloren hat, von irgendwelchen Ereignissen erschüttert ist. Musste sie sich mit Demonstranten prügeln? Ist sie, die routiniert mit schrecklichen Morden umgehen kann, von der Gewalt auf der Straße aus dem Gleichgewicht gebracht worden?

      Egal, Wiebke gehört in sein Team, mit ihr arbeitet er am liebsten zusammen, für sie ist er da, wenn sie ihn braucht.

      »Wiebke, ganz langsam. Was ist passiert?«

      Als Antwort vernimmt Werner Jensen ein Geräusch, das irgendeinem Zwischending aus Seufzer, Weinanfall und Verzweiflung entsprungen ist.

      »Conny! Sie ist angeschossen worden, wahrscheinlich ist sie tot!«

      »Was?«

      »Ja, doch, Conny!«

      Jensen zieht hörbar Luft in seine Lungen. Seine Kollegin? Angeschossen? Erschossen?

      »Was? Wie? Warum?« Zeitgleich mit dem Aussprechen der Worte fühlt er, dass er mit seinen Fragen Wiebke Maurer nicht beruhigen kann.

      »Werner, du musst sofort kommen. Der Notarzt ist schon da, und die Bundespolizei sperrt alles ab. Gleich wird der Staatsschutz kommen, und die ziehen ihr Ding durch. Unser Team muss ermitteln, Conny zuliebe. Verstehst du?«

      »Ja.«

      Mehr bringt Jensen nicht heraus.

      »Kommst du?«

      »Ja, so schnell es geht. Sofort.«

      »Schlag dich irgendwie durch. Das Blaulicht auf deinem klapperigen Golf wird dir nicht viel helfen. Die Straßen, die nicht gesperrt sind, sind von Staus blockiert.«

      »Ich schaffe es schon. Halte die Stellung. Bis gleich.«

      Jensen drückt hektisch die rote Taste seines Telefons und kramt seinen Autoschlüssel aus der Schreibtischschublade. Bis in die Nähe des Tatortes wird er schon kommen. Danach wird er weitersehen.

      »Zoomen Sie heran.«

      Der Lagedienstführer im Leitstand der Polizei zeigt auf einen der Bildschirme der vier mal vier Meter großen Videowand, die aus hochauflösenden Bildschirmen in HD-Qualität zusammengesetzt ist und einen Großteil der Wand einnimmt. Das Equipment erinnert an eine Steuerzentrale der NASA.

      Vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten dreißig Beamte im Raum 210 des Präsidiums die Brennpunkte des Gipfeleinsatzes.

      Sie überblicken jederzeit, wo sich die einzelnen mit Ortungstechnik ausgerüsteten Polizeieinheiten befinden. Und sie sind über die Aufenthaltsorte kleiner und größerer Gruppen von Protestlern informiert, die womöglich versuchen wollen, über Schleichwege in das Sperrgebiet vorzudringen. Per Knopfdruck lässt sich jeder Ort heranzoomen.

      Der angesprochene Beamte holt ein Bild der Straßenkreuzung auf den Monitor, auf der Conny Schrader leblos liegt. Die vor Ort eingesetzten Polizisten übertragen ihre Aufnahmen direkt in die Leitstelle. Der Lagedienstführer betrachtet konzentriert die Bilder.

      »Hubschrauber zuschalten.«

      Auf einem Nachbarbildschirm erscheinen Aufnahmen eines Hubschraubers, der über dem Tatort in der Luft steht, während zwei weitere die Umgehungsstraßen nach Verdächtigen absuchen. Im Umkreis von einem Kilometer sind die Straßen gesperrt, niemand kann aus diesem Gebiet herauskommen, ohne kontrolliert zu werden. Die Polizei tut alles, um Conny Schraders Mörder schnell zu fassen.

      »Der da.«

      Ein Beamter im Leitstand zeigt auf einen Mann, der mit einem Kapuzenshirt bekleidet langsam in eine Toreinfahrt einbiegt und dann zu laufen beginnt.

      Ruhig werden Befehle und Anweisungen gegeben. Die vom Hubschrauber übertragenen Bilder zeigen, wie Gruppen von Polizisten sich von allen Seiten zu der Toreinfahrt begeben und einen Kreis darum ziehen.

      »Hat sich gelohnt, die Software Eurocommand anzuschaffen«, kommentiert der Lagedienstführer. »Die hat sich schon beim OSZE-Treffen vor ein paar Monaten bewährt.«

      Cairo ist auf dem Weg zur Bushaltestelle unweit des Werksgeländes der Weinerschen Feinmechanik Werkstätten, als sich sein Smartphone meldet. Isa, verkündet das Display. Cairo freut sich und beginnt übergangslos zu reden.

      »Ich bin in einer halben Stunde zu Hause. Soll ich unterwegs noch einkaufen? Oder wollen wir heute Abend noch weg?«

      »Cairo!«

      Energisch stoppt Isa seinen Redeschwall. Sie hat angerufen, sie will etwas von ihm, sie will reden.

      »Cairo, Sven ist tot! Ich … «

      Ihre Stimme versiegt in einem pulsierenden Schluchzen.

      »Was?«

      Cairo erfasst nicht die Tragweite der Worte, die Isa ins Telefon stammelt. Er fragt nach, hört Isa weinen, und die Wortfetzen und Silben, die sie in das Schluchzen webt, sind für ihn unverständlich. Er begreift, er muss etwas tun.

      »Ich

Скачать книгу