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durch den giftverseuchten Sand, vorbei an bizarren und in den Himmel ragenden Ungetümen aus Stahl. Zwischen den Schiffswracks fühlt er sich klein.

      Fardin ist auf dem Weg zu den sterblichen Überresten der MS Teutonia, eines Frachters einer Hamburger Reederei, subventioniert mit deutschen Steuergeldern, die gestern auf einer der siebzig Abwrackwerften Chittagongs auf den Strand gesetzt wurde. Durch seine Zerlegung in Bangladesch statt in Europa verdient die Reederei ein letztes Mal an dem Schiff. In den kommenden Wochen wird es demontiert werden; jedes Teil wird verwertet werden, kein Teil wird ungenutzt verkommen.

      Fardin ist froh. Wäre das Schiff nicht gekommen, wäre er arbeitslos geworden. Was hätte er seiner Familie sagen sollen? Den Kindern? Sie sollen es einmal besser haben als er. Seine Frau Barsha glaubt nicht daran.

      Wäre das Schiff nicht gekommen, hätte er hoffen müssen, dass ein Kollege bei einem Unfall stirbt oder zum Krüppel wird. Das passiert oft. Es ist jedes Mal eine Tragödie, aber jedes Mal wird ein Arbeitsplatz frei. Vielleicht hätten die Werftbesitzer ihn wieder eingestellt, er hat Erfahrungen. Nicht nur mit dem Vorschlaghammer kann er umgehen, auch mit einem Schweißbrenner. Und er ist kräftig, kann Einzelteile an ihren Bestimmungsort schleppen.

      Laute Stimmen konkurrieren mit den Hammerschlägen auf stählerne Resonanzkörper, fordern Vorsicht. Fardin beachtet sie nicht, ständig und überall mischt sich menschliches Rufen in die Geräusche der Schiffszerlegung. Er denkt an seine Familie.

      Mit einem ohrenbetäubenden, höllisch anmutenden Geräusch löst sich ein tonnenschweres und meterhohes Stahlteil von einem Schiffsrumpf und fällt mit einer eigenartig langsamen Geschwindigkeit, die mit der Zeit zunimmt, dem Strand der Verlorenen entgegen.

      Nele schüttelt unwillkürlich den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein«, spricht sie mit sich selbst. Sie legt die Zeitung aus der Hand und dreht sich eine filterlose Zigarette aus ihrem würzig riechenden schwarzen Tabak, geht an das ungeputzte Fenster ihrer Wohnung, öffnet es und zündet sich die Zigarette an. Ihre schwarze Katze kommt angelaufen und atmet gierig frische Luft ein.

      In Neles Hirn pulsen sich Neuronen elektrische Signale zu, und eine Idee entsteht. Spontan, wie sie meint. Sie angelt sich ihr Smartphone vom Tisch und tippt auf ein Foto ihres Sohnes.

      »Moin, Mutter. Was ist los?«

      Cairos Stimme klingt gehetzt.

      »Ich habe gerade eine Idee gehabt. Stell dich mal darauf ein: Im nächsten Jahr feiern wir am siebten Juli deinen Geburtstag.«

      »Nele, geht es dir gut?«

      »Weißt du, ich habe mir gedacht …«

      »Stopp mal, Mutter. Ich habe nicht im Juli Geburtstag, das solltest du wissen. Und wann und ob ich feiere, bestimme ich. In meinem Alter darf ich das, oder? Immerhin werde ich im nächsten Jahr zweiundzwanzig. Vielleicht lade ich dich und Tjark sogar ein.«

      Bestimmt hat ihr Sohn Cairo einen schweren Tag gehabt, bedenkt Nele. Seit er seine Prüfung zum Produktionstechnologen bestanden hat und von den Weinerschen Feinmechanik Werkstätten übernommen wurde, ist er im sogenannten Ernst des Lebens angekommen. Überstunden sind Teil seines Lebens geworden.

      Neles Finger wühlen sich durch ihr kurzes, kastanienrotes Haar; sie verdreht ihre braunen Augen und rettet sich aus der schnell fließenden Flut ihrer Gedanken hinüber in sachliche Erklärungen.

      »Du hast heute keine Zeitung gelesen, oder?«

      »Nee. Ich habe gearbeitet.«

      »Die Ankündigung der Polizei?«

      »Haben die festgelegt, wann ich Geburtstag feiern soll?« Cairo lacht. »Bitte, Mutter, komm zum Punkt. Ich bin müde und habe Hunger.«

      »Versuche ich doch«. Nele atmet tief durch. »Im Juli nächsten Jahres soll der G20-Gipfel stattfinden. Direkt neben dem Viertel. Ein Teil wird abgeriegelt werden, wird Sperrgebiet. Jeder, selbst jedes Kind, soll an Kontrollposten seinen Ausweis vorzeigen. Gäste müssen abgeholt werden oder werden mit Polizeibegleitung zum Ziel geleitet.«

      »Das habe ich erwartet. Aber was hat das mit meinem Geburtstag zu tun?«

      »Die Polizei fordert die Bewohner auf, Kindergeburtstage zu verschieben.«

      »Einen Kindergeburtstag hast du dir für mich ausgedacht? So mit Topfschlagen?«

      Aus Cairos Lachen spricht keine Müdigkeit mehr. Es scheint Nele, dass ihm das Gespräch zunehmend Spaß macht.

      »Im Ernst: Die Polizei sagt, Kindergeburtstage sind leicht zu verschieben. Die haben wohl keine Kinder. Erklär du mal einem Kind, dass sein Geburtstag verschoben wird, weil der amerikanische Präsident in Hamburg weilt.«

      »Nele, genau das versuchst du mir gerade zu erklären.«

      »Ist gut, es war nur eine Idee für eine kleine Aktion. Ich meine, wenn viele Menschen an den Gipfeltagen Kindergeburtstag feiern, dann ist das auch Protest gegen die geplanten Einschränkungen.«

      »Mutter, du hattest schon bessere Ideen. Ich werde an diesen Tagen auf der Straße sein. Was dort passiert, wird weltweit beachtet werden. Mein Kindergeburtstag wohl eher nicht.«

      Nele gibt auf. Aber vielleicht ist ihre Idee doch nicht so schlecht, nur Cairo ist das falsche Geburtstagskind. Oder sollte sie während dieser Tage ihren 52. Geburtstag feiern und Freunde zu sich ins Viertel einladen?

      Sicher werden in den nächsten Monaten viele Ideen besprochen. Sie wird ihre beisteuern. Noch sind es Monate hin bis zum Gipfel.

      Aber wenn sie an diese drohenden Tage denkt, ist ihr jetzt schon mulmig.

      Sie lässt ihren Gedanken fallen und fragt Cairo, wie es ihm geht. Ihr Gespräch wechselt in das Plänkeln des Alltags hinüber, und schon bald verabschieden sie sich voneinander.

      Rot flackernder Feuerschein zuckt auf den Fassaden der Wohnhäuser, ätzender Qualm zieht über den Marktplatz in Eimsbüttel. Auf dem Parkplatz der Außenstelle des Kommissariats 23 brennen abgestellte Fahrzeuge. Sirenen der Feuerwehr kündigen ihr Kommen an.

      Am nächsten Morgen verschafft Nele sich im Redaktionskeller der Stadtrundschau einen Überblick: Die Brandbekämpfer konnten nicht viel ausrichten. Vier Mannschaftstransporter sind ausgebrannt, vier weitere Fahrzeuge beschädigt. Heiße Tage anheizen, heißt es in einem Bekennerbrief.

      Die Hamburger Polizei reagiert umgehend und umzäunt das Präsidium mit NATO-Stacheldraht.

      Patrouillen umrunden Tag und Nacht das Areal. Gebüsch, das möglichen Angreifern Schutz bieten könnte, wird abgeholzt. Es wird eine Anordnung erlassen, dass jedes Kommissariat eine Streife abstellen muss, um ihr eigenes Objekt zu schützen. Für die Bürger der Stadt bedeutet das weniger Sicherheit.

      Der Innensenator schätzt die Lage neu ein und begreift, dass die Hamburger Polizei, schon lange am Rande ihrer Kraft, bereits hundert Tage vor dem G20-Gipfel nicht mehr in der Lage ist, die wichtigsten Objekte zu schützen. Er fordert Verstärkung aus anderen Bundesländern an. In einigen Tagen sollen Mannschaftswagen in die Stadt hineinrollen und Bereitschaftspolizisten von außerhalb das Hamburger Rathaus und andere wichtige Gebäude bewachen.

      Nele schreibt G20-Gipfel auf ein Whiteboard und pinnt ein Foto darunter, das die rußgeschwärzten Gerippe der ausgebrannten Mannschaftswagen zeigt. Daneben und darunter hängt sie Zeitungsausschnitte aus den Konkurrenzprodukten der Stadtrundschau.

      In einem dieser Berichte wird empfohlen, sich während der Gipfeltage Urlaub zu nehmen und die Stadt zu verlassen. Der angeblich einer Zeitung vorliegende interne Lagebericht der Polizei schließe Tote nicht aus, vor allem, falls die Kolonne mit dem amerikanischen Präsidenten bei der Fahrt zu einer der Tagesstätten aufgehalten werden sollte. Die ihn begleitenden Sicherheitsleute würden das nicht hinnehmen.

      Andere Artikel spekulieren über mögliche Sabotageaktionen. Es werden Blockaden von Bahnstrecken,

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