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Die Lilie im Tal. Оноре де Бальзак
Читать онлайн.Название Die Lilie im Tal
Год выпуска 0
isbn 9783955013370
Автор произведения Оноре де Бальзак
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Comtesse sah meine Bemühungen um sie, ohne daran Anstoß zu nehmen, und das aus zwei Gründen. Zunächst war sie rein wie ein Kind, und ihre Gedanken gerieten nie auf Abwege. Außerdem zerstreute ich den Comte. Ich war für diesen Löwen ohne Krallen und Mähne eine willkommene Beute. Schließlich fand ich einen Grund, häufig zu kommen, der allen einleuchtete: Ich konnte nicht Tricktrack spielen; Monsieur de Mortsauf schlug mir vor, es mir beizubringen, und ich ging darauf ein. Im Augenblick, da wir diese Abmachung trafen, konnte die Comtesse nicht umhin, mir einen mitleidsvollen Blick zuzuwerfen, der besagen sollte: ›Aber Sie stürzen sich ja in den Rachen des Wolfes!‹... Nach drei Tagen wusste ich, wozu ich mich verpflichtet hatte. Meine unermüdliche Geduld, diese Frucht meiner Kindheit, reifte in jener Zeit der Prüfung. Es war für den Comte ein wahres Glück, sich in grausamen Spötteleien zu ergehen, wenn ich die Grundsätze und Regeln, die er mir auseinandergesetzt hatte, nicht in die Tat umsetzte. Wenn ich nachdachte, klagte er über die Langeweile, die ein langsames Spiel verursachte; wenn ich schnell spielte, ärgerte er sich, weil er sich beeilen musste; wenn ich zu viele Points zeichnete, zog er daraus Nutzen und warf mir vor; dass ich zu eilig sei. Es war die reinste Schulmeistertyrannei, eine Herrschaft mit der Rute, wovon ich Ihnen nur eine Vorstellung geben kann, wenn ich mich mit Epiktet vergleiche, der in das Joch eines ungezogenen Kindes geraten war. Wenn wir um Geld spielten, verursachten ihm seine ständigen Gewinne eine unvornehme, kleinliche Freude. Ein Wort von seiner Frau war mir Trost für alles und führte ihn schnell zu Höflichkeit und Anstand zurück. Bald fiel ich in den Feuerofen eines ungeahnten Martyriums: ich büßte all mein Geld ein. Obwohl der Comte immer zwischen seiner Frau und mir stand, bis zu dem Augenblick, wo ich sie – oft spät abends – verließ, hatte ich doch immer die Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, mich in ihr Herz einzuschleichen. Um jedoch diese Stunde zu verdienen, auf die ich mit der peinvollen Geduld des Jägers lauerte, musste ich jene aufregenden Spiele fortsetzen, die meine Seele zerrieben und all mein Geld wegschwemmten. Wie oft waren wir schweigend beieinander gewesen, vertieft in den Anblick einer eigenartigen Beleuchtung der Wolken am grauen Himmel, der dunstigen Hügel oder des zitternden Mondlichts, das über die Steine im Bach huschte! Wir sagten weiter nichts als: »Die Nacht ist schön.« – »Die Nacht ist ein Weib, Madame.« – »Welcher Friede!« – »Ja, hier kann man nicht ganz unglücklich sein.«
Danach ging sie zu ihrem Stickrahmen zurück. Endlich fühlte ich, wie in ihrem Innern ein Gefühl der Zuneigung sich festsetzte und Wurzeln schlug. Ohne Geld war es vorbei mit den Spielabenden. Ich hatte meiner Mutter geschrieben, sie möge mir Geld schicken; sie schalt mich und gab mir so wenig, dass es keine acht Tage reichte. An wen sollte ich mich wenden? Es handelte sich um mein Leben. So fand ich in meinem ersten großen Glück die Leiden wieder, die mir überall zugesetzt hatten. Aber in Paris, in der Schule, im Internat war ich ihnen durch wohlüberlegte Enthaltsamkeit aus dem Wege gegangen. Mein Unglück war nur negativ gewesen; in Frapesle wurde es wirklich. Damals überkam mich die Lust zum Stehlen. Ich lernte jene Gedankenverbrechen kennen, jene furchtbaren Versuchungen, die die Seele durchwühlen und die wir niederkämpfen müssen, wenn wir nicht unsere Selbstachtung verlieren wollen. Die Erinnerung an die grausamen Erwägungen und Seelenängste, denen mich die Sparwut meiner Mutter auslieferte, hat mir immer der Jugend gegenüber die fromme Nachsicht derer eingegeben, die, ohne gefallen zu sein, bis an den Rand des Abgrundes gelangt sind, wie um dessen ganze Tiefe zu ermessen. Zwar festigte sich mein mit Angstschweiß getränktes Ehrgefühl in jenen Augenblicken, wo das Leben vor uns gähnt und uns das harte Geröll auf seinem Grunde sehen lässt; und doch – jedesmal, wenn die menschliche Gerechtigkeit ihr Racheschwert über dem Haupt eines Menschen zückt, sage ich mir: ›Das Strafrecht ist von Leuten verfasst, die das Unglück nicht gekannt haben.‹ In dieser äußersten Notlage entdeckte ich in der Bibliothek Monsieur de Chessels eine Abhandlung über das Tricktrackspiel und studierte sie. Zudem hatte mein Gastgeber die Güte, mir einige Stunden zu geben. Unter seiner freundlicheren Führung machte ich Fortschritte und lernte die Regeln, die ich auswendig wusste, anwenden. In wenigen Tagen war ich so weit, dass ich meinen Meister bezwang. Aber wenn ich gewann, wurde seine Laune abscheulich; seine Augen glitzerten wie Tigeraugen, sein Gesicht verzerrte sich, seine Augenbrauen zuckten, wie ich nie jemandes Augenbrauen habe zucken sehen. Seine Klagen waren die eines verwöhnten Kindes. Manchmal warf er die Würfel fort, geriet in Wut, stampfte, biss in seinen Würfelbecher und überhäufte mich mit Beleidigungen. Diese heftigen Ausbrüche fanden bald ein Ende. Bald beherrschte ich das Spiel so vollkommen, dass ich die Schlacht ganz nach meinem Willen lenkte. Ich richtete es so ein, dass wir am Ende des Spieles ungefähr gleichstanden, indem ich ihn am Anfang gewinnen ließ und am Ende dann das Gleichgewicht wieder herstellte. Der Untergang der Welt hätte den Comte weniger überrascht als die schnell erworbene Überlegenheit seines Schülers. Aber er erkannte sie niemals an. Der immer gleiche Ausgang unsers Spieles war für ihn eine neue Veranlassung, sich und andere zu quälen.
»Entschieden wird mein armer Kopf müde«, sagte er. »Sie gewinnen immer gegen Ende des Spieles, weil meine Kräfte dann erschöpft sind.«
Die Comtesse, die das Spiel kannte, durchschaute meine Kunstgriffe gleich beim ersten Mal und erriet in ihnen große Beweise von Zuneigung. Diese Einzelheiten können nur von denen richtig eingeschätzt werden, die die furchtbaren Schwierigkeiten des Tricktracks kennen. Was sagte diese Kleinigkeit doch alles! Aber die Liebe stellt, gleich dem Gott Bossuets, über die glänzendsten Siege das Glas Wasser, das dem Armen gereicht wird, und die heldenhafte Anstrengung des Soldaten, der einen unbeachteten Tod stirbt. Die Comtesse warf mir einen jener dankerfüllten Blicke zu, die ein junges Herz fröhlich bewegen. Sie gönnte mir den Blick, den sie sonst nur ihren Kindern schenkte. Seit diesem glückseligen Abend sah sie mich beim Sprechen immer an. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, in welcher Verfassung ich sie verließ. Meine Seele hatte meinen Körper aufgesogen, ich hatte keine Schwere mehr. Ich ging nicht, ich flog, ich fühlte in mir jenen Blick, der mich in Licht getaucht hatte. Ihr Lebewohl – ›Auf Wiedersehen, Monsieur!‹ – rauschte in mir wie die Auferstehungsmusik der Ostermesse: ›O filii, o filiae ...‹ Ich ward zu einem neuen Leben geboren.... Denn nun wusste ich, dass ich etwas für sie bedeutete! Ich schlief in Purpur gebettet ein. Flammen tanzten vor meinen geschlossenen Augen und jagten einander im Dunkeln, wie die hübschen Feuerschlangen, die im verkohlenden Papier hintereinander herlaufen. In meinen Träumen wurde ihre Stimme etwas Greifbares, eine Atmosphäre von Duft und Licht, die mich einhüllte, eine liebkosende Melodie. Ihr Empfang am nächsten Tage beschwor noch einmal in aller Wirklichkeit die Gesichte meiner Träume: von da an war ich in die Geheimnisse ihrer Stimme eingeweiht. Dieser Tag sollte einer der wichtigsten meines Lebens werden. Nach Tisch gingen wir auf den Hügeln spazieren, wir überschritten eine Heide; wo nichts gedieh: der Boden war steinig, ausgedörrt, ohne eine einzige fruchtbare Erdschicht. Nichtsdestoweniger standen einige Eichen dort, aber an Stelle des Grases dehnte sich ein Teppich braunroten krausen Mooses, das die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldete und auf dem der Fuß ausglitt. Ich hielt Madeleine bei der Hand, um sie zu stützen, und Madame de Mortsauf gab Jacques den Arm. Der Comte, der vor uns her ging, drehte sich um, schlug mit dem Stock auf den Boden und sagte mit schrecklicher Stimme: »Das ist das Bild meines Lebens! – bevor ich Sie kennenlernte«, verbesserte er sich mit einem Blick, der seine Frau um Verzeihung bat. Die Reue kam zu spät. Die Comtesse war erblasst, und welche Frau hätte nicht wie sie unter einem solchen Schlage gewankt!
»Welch wonnige Düfte!« rief ich aus. »Oh, und diese prächtige Beleuchtung! Ich wollte, diese Heide gehörte mir! Vielleicht fände ich beim Nachgraben Schätze darin; aber der sicherste Reichtum wäre mir Ihre Nähe; und wer möchte eine dem Auge so wohltuende Aussicht nicht teuer bezahlen, dort den sich schlängelnden Fluss, wo man in Gedanken zwischen Eschen und Erlen badet. Sehen Sie, wie verschieden die Auffassungen sind! Für Sie ist dieser Fleck Erde eine trostlose Heide, für mich ist er ein Paradies.« Sie warf mir einen dankbaren Blick zu. »Gemütsmensch!« sagte er bitter. »Das ist nicht der Schauplatz für das Leben eines Mannes, der Ihren Namen trägt.« Dann unterbrach