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Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Rudyard Kipling
Год выпуска 0
isbn 9788027209255
Автор произведения Редьярд Киплинг
Издательство Bookwire
Und weil sie voraussah, daß sie immerfort an ihn denken werde, wünschte sie ihn weit weg. Er war der Schaulustige, der in der Kirche umhergeht und die Knieenden im Gebet stört, er war der andre Gedanke, der sich in die eigenen einschleicht. Seine Person verkörperte ihr das Leben, das sie hinter sich gelassen, von dem sie sich abgewendet hatte, ja, weit schlimmer, er stellte ihr ein Leiden vor Augen, das sie nicht heilen wollte und konnte. Vom Gespenst einer zuwartenden Liebe verfolgt, verrichtet man keine großen Thaten, mit geteilter Seele hat noch kein Eroberer Städte bezwungen. Was sie zu vollbringen glühte, brauchte ihre ganze Kraft, ihre ganze Seele, eine Teilung selbst mit Nick war unmöglich. Und doch war es gut von ihm, herüber zu kommen, es lag sein ganzes Wesen darin. Sie wußte, daß selbstsüchtige Hoffnung allein ihn nicht getrieben hatte, es war, wie er sagte – er konnte nicht mehr schlafen aus Angst um sie. Seine Sorge um sie, das war selbstlose, echte Güte.
Frau Estes hatte Tarvin auf heute zum Frühstück eingeladen gehabt, als Käte noch nicht in Sicht gewesen war, und er war nicht der Mann, darum eine Einladung im letzten Augenblick abzusagen. So saß er ihr denn an ihrem ersten Morgen in Indien am Frühstückstisch gegenüber und lächelte ihr zu, daß sie ihn wider Willen freundlich ansehen mußte. Trotz einer schlaflosen Nacht sah sie ungemein frisch und hübsch aus in dem weißen Waschkleid, womit sie den verstaubten Reiseanzug vertauscht hatte, und als Frau Estes nach der Mahlzeit ihren Haushalt beschickte und der Hausherr in seine innerhalb der Stadt gelegene Missionsschule gegangen war, setzten sich die beiden Gäste allein auf die Veranda und Tarvin sprach sich bewundernd über das kühle weiße Kleid aus, eine Toilette, die im Westen Amerikas selten gesehen wird. Allein Käte that seiner Artigkeit Einhalt.
»Nick,« begann sie, ihm gerade in die Augen sehend, »willst du mir etwas zuliebe thun?«
Tarvin sah ihren Ernst und versuchte den Angriff mit Humor abzuschlagen, aber sie ließ ihn nicht dazu kommen.
»Nein, Nick, nicht so,« schnitt sie ihm das Wort ab. »Es ist etwas, woran mir sehr viel liegt. Willst du es mir zuliebe thun?«
»Als ob ich nicht alles für dich thäte!« rief er ernst.
»Ich weiß doch nicht, ob gerade dieses! Aber du mußt es thun.«
»Was ist’s denn?«
»Fortgehen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du mußt gehen.«
»Höre mich an, Käte,« begann er, beide Hände in die tiefen Taschen seines weißen Rocks vergrabend. »Ich kann nicht gehen. Du hast noch keine Ahnung davon, wo du hingekommen bist – richte dasselbe Verlangen heute in acht Tagen wieder an mich. Nachgeben werde ich dir auch dann nicht, aber wenigstens will ich dann den Fall mit dir durchsprechen.«
»Ich weiß jetzt schon, was in Betracht kommt,« entgegnete sie, »aber ich will leisten und vollbringen, was mich hierher führt, und wenn du da bist, kann ich’s nicht. Du verstehst ganz gut, wie ich’s meine, Nick, und weißt, daß es genau so ist, wie ich dir sage. Daran ändert niemand etwas.«
»Doch, ich kann’s ändern, indem ich mein Betragen danach einrichte – ich will sehr artig sein!«
»Du brauchst mir gar nicht zu sagen, daß du das willst, ich weiß es! Aber all deine Güte ändert nicht, daß du mich hemmst. Glaube mir das, Nick, und geh fort. Nicht, weil ich dich nicht gern um mich hätte, das weißt du ja …«
»Oho!« warf Nick lächelnd hin.
»Ach, stelle dich doch nicht, als ob du mich falsch verständest,« rief Käte, ohne daß der Ernst von ihren Zügen gewichen wäre.
»Nein, ich verstehe dich wohl, aber wenn ich mich gut halte, bin ich dir nicht im Wege. Das weiß ich und du wirst es einsehen,« fügte er sanft hinzu. »Eine greuliche Reise, nicht wahr?«
»Du hattest mir versprochen, sie nicht zu machen!«
»Habe sie auch nicht gemacht,« behauptete Tarvin lächelnd, indem er ihr die Hängematte zurecht machte und sich einen von den tiefen, rohrgeflochtenen Verandastühlen holte. Er legte sich hinein, kreuzte die Beine und stülpte den weißen Korkhelm, zu dem er sich bequemt hatte, auf sein Knie. »Ich nahm eigens die andre Route.«
»Wieso?« fragte Käte, mit einiger Vorsicht in die Hängematte sinkend.
»Ueber San Francisco und Yokohama – du hattest mir ja verboten, dir zu folgen.«
»Nick!« Die eine Silbe enthielt wunderbarerweise alle Anklage und Mißbilligung, alle Neigung und Verzweiflung, womit die geringste und größte seiner Vermessenheiten sie erfüllte.
Tarvin fand ausnahmsweise keine Entgegnung auf diesen inhaltschweren Laut und Käte konnte die Pause nützen, um sich zu vergewissern, daß seine Gegenwart ihr ein Greuel sei, und hatte Zeit, die Aufwallung von Stolz zu bekämpfen, die ihr einflüstern wollte, es sei doch schön, so aus Liebe um die Welt herum verfolgt zu werden, und die heimliche Bewunderung einer solchen Hingebung zu unterdrücken. Sie hatte vor allem Zeit, sich des Gefühls von Einsamkeit und Verlassenheit zu schämen, das sich wie eine Wolke aus dieser endlosen Wüste auf sie herwälzte und ihr die schützende Nähe des Mannes, den sie daheim, im andern Leben gekannt hatte, lieh und erwünscht zu machen drohte. Das empfand sie als das Schlimmste und eine wirkliche Schande.
»Du hast doch nicht im Ernst erwartet,« sagte Tarvin jetzt, »daß ich daheim bleiben und dich allein deinen Weg suchen lassen werde in diesem alten Sandhaufen, wo einem alles Mögliche zustoßen kann? Wenn ich dich allein hätte ankommen lassen in diesem Gokral Sitarun, dich kleines, verlassenes Ding, das wäre doch eine frostige Geschichte gewesen? Wie frostig, das weiß ich erst, seit ich hier bin und gesehen habe, was für eine Gegend das ist!« »Warum sagtest du mir nicht, daß du hierher kommen werdest?«
»Bei unserm letzten Zusammensein hast du nicht sonderlich viel Teilnahme für mein Thun und Lassen verraten!«
»Nick!! Ich wollte dich nicht hier haben und ich mußte doch her.«
»Und jetzt bist du ja da! Hoffentlich gefällt dir’s,« bemerkte er spitzig. »Ist es wirklich so schlimm, Nick?« fragte sie. »Nicht, als ob mich das im geringsten erschreckte …«
»Schlimm! Erinnerst du dich an Mastodon?«
Mastodon war eine jener Städte des Westens, die ihre Zukunft hinter sich haben, eine vollständig aufgegebene, verlassene Stadt ohne einen einzigen Bewohner.
»Nimm Mastodons Oede und Leadvilles Ruchlosigkeit – die Ruchlosigkeit im ersten Jahr des Entstehens – dann hast du etwa einen Begriff von den Zuständen hier, einen schwachen freilich, denn es ist um neun Zehntel schlimmer.«
Tarvin entwarf nun ein Bild der Verhältnisse der Vergangenheit, Politik und Gesellschaft von Gokral Sitarun, das von seinem persönlichen Standpunkt aus aufgenommen war, und er ging dabei mit dem toten, erstarrten Osten ins Gericht, wie nur das Lebensgefühl des werdenden amerikanischen Westens ins Gericht gehen konnte. Sein Thema erfüllte und erregte ihn; er war glücklich, zu jemand sprechen zu können, der seinen Standpunkt Wenigstens begriff, wenn auch nicht vollständig teilte. Der Ton, den er anschlug, lud Käte ein, doch auch ein wenig mit ihm zu lachen, und sie lachte aus Gefälligkeit, aber nur ein klein wenig, dann bemerkte sie, daß ihr diese Zustände mehr traurig als belustigend vorkämen.
Darin gab er ihr ja vollkommen recht, fügte aber hinzu, daß er nur lache, um nicht weinen zu müssen. Er sagte, es gehe ihm auf die Nerven, die Trägheit, Starrheit, Leblosigkeit dieses reichen, stark bevölkerten Landes nur mitanzusehen, eines Landes, das von Rechts wegen blühen und gedeihen müßte, eines Volkes, das Handel treiben, Erfindungen machen, sich rühren könnte, neue Städte gründen, die alten erhalten und für die Neuzeit brauchbar machen, Schienen legen, Unternehmungen beginnen sollte, daß es eine Art hätte.
»Sie haben Hilfsquellen genug,« versicherte er, »sie können sich gar nicht darauf hinausreden, das Land sei arm. Das Land